Neue Ermittlungen zum Tod von Jan Masaryk?

Jan Masaryk (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)

: Starb Jan Masaryk im März 1948 durch Selbstmord, oder war es sogar Mord? Bis heute ist der Tod des damaligen tschechoslowakischen Außenministers nicht geklärt. Nun hat der Tschechische Rundfunk eine Aufnahme erhalten mit Aussagen jenes Polizisten, der als erster am Tatort war. Die Schilderungen weichen teilweise deutlich von der offiziellen Version der damaligen Ermittler ab.

Jan Masaryk  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)

Václava Jandečková  (Foto: YouTube)
Jan Masaryk wird noch im Londoner Exil tschechoslowakischer Außenminister. Dieses Amt hat er auch noch inne, als am 25. Februar 1948 die Kommunisten an die Macht kommen. Der Sohn von Staatsgründer Tomáš Garrigue Masaryk tritt aber entgegen seiner Ankündigungen nicht zurück – anders als die restlichen demokratischen Minister. Nur wenige Tage später wird er tot aufgefunden – im Hof unterhalb seiner Wohnung im Außenministerium, dem sogenannten Czernin-Palais. Die Publizistin Václava Jandečková:

„Vilibald Hofmann wurde am Morgen des 10. März 1948 als erster Polizist zum Czernin-Palais gerufen. Er sollte den Tatort und die Eingänge sichern.“

Kassette mit der Aufnahme aus dem Jahr 1968,  auf der Vilibald Hofmann zu hören ist  (Foto: Tereza Šťastná,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Der Minister ist damals sehr beliebt im Land. Sein Tod kommt daher wie ein Schock. In Tschechien wird dies heute gerne mit dem Mord am amerikanischen Staatspräsidenten John F. Kennedy in den USA verglichen. Im Unterschied dazu sind die Todesumstände aber bis heute völlig unklar. Die offizielle Version der kommunistischen Ermittler lautet damals, Jan Masaryk habe mit einem Sprung aus dem Küchenfenster seiner Wohnung im Außenministerium Selbstmord begangen. An dieser Version zweifeln allerdings viele Fachleute, die sich mit dem Fall beschäftigt haben. Manche glauben sogar an einen Mord.

Gleich dreimal wurden später erneute Ermittlungen zu Masaryks Tod aufgenommen. Nie konnte aber das damalige Geschehen erhellt werden. Daher ist es fast ein Wunder, dass nun ein neues Licht geworfen wird auf das Ereignis. Der Ausgangspunkt ist eine amateurhafte Aufnahme aus dem Jahr 1968, auf der Vilibald Hofmann zu hören ist. Aus dem Umfeld seiner Familie wurde erst vor einigen Monaten eine entsprechende Kassette dem Tschechischen Rundfunk zur Verfügung gestellt.

Der tote Jan Masaryk auf dem Innenhof des Außenministeriums  (Foto: Archiv des Zentrums für die Dokumentation der totalitären Regimen)
Der Polizist Hofmann, der da schon im Ruhestand ist, schildert dort, was er am 10. März 1948 wirklich gesehen hat. Es unterscheidet sich in wesentlichen Punkten vom offiziellen Protokoll im Fall Jan Masaryk. Die Aufnahme war bisher unbekannt. Sie entstand auf private Initiative, nachdem Hofmann noch einmal bei der tschechoslowakischen General-Staatsanwaltschaft gewesen war. Diese hatte im Frühjahr 1968 die Ermittlungen zum Tod von Masaryk wieder aufgenommen und befragte ihn.

Fraglicher Todeszeitpunkt

Es sind drei Punkte, in denen sich das offizielle Protokoll von den tatsächlichen Beobachtungen unterscheidet. Kriminalinspektor Vilibald Hofmann kommt seinen eigenen Aussagen nach an jenem Morgen um 5:25 Uhr ins Außenministerium. Durch die Scheiben sieht er den toten Jan Masaryk auf dem Innenhof des Außenministeriums liegen. Dann befragt er zwei Angestellte des Ressorts. Dies schildert der Inspektor in der Aufnahme so:

Badezimmer in Masaryks Wohnung im Außenministerium  (Foto: Ondřej Tomšů)
„Sie sagten Folgendes aus: ‚Als wir um halb fünf Uhr über den Hof in den rechten Flügel gingen, um dort vom Dachboden aus durch eine Luke die Flagge einzuholen, haben wir den Herrn Minister dort noch nicht liegen sehen. Erst als wir zurückkehrten, haben wir ihn dort gefunden.‘ Ich fragte, wie viel Zeit dazwischen vergangen war. Sie sagten, 15 Minuten.“

Im offiziellen Protokoll ist der Zeitpunkt des Auffindens aber rund eine Stunde später angegeben worden. Noch interessanter wird es bei der Frage nach dem wahren Todeszeitpunkt. Denn der herbeigerufene Arzt meint damals gegenüber Hofmann, Masaryks Tod sei vier bis sechs Stunden zuvor eingetreten. Der Arzt Dr. Teplý stirbt übrigens später auch angeblich durch Selbstmord.

Die zweite Sache betrifft die kriminalistischen Fotografien des Leichnams. Die offiziellen Aufnahmen werden Vilibald Hofmann bei der Befragung im April 1968 vorgelegt. Doch der Kriminalinspektor hält sie für manipuliert. Dies erläutert er mit folgenden Worten:

Foto: Archiv des Zentrums für die Dokumentation der totalitären Regimen
„In etwa 15 Zentimetern Entfernung zu den Beinen des Toten fand ich damals vier Knöchelchen der großen Zehen, die abgebrochen waren. Diese wickelte ich in ein sauberes Taschentuch, um das ich einen Kollegen bat. Ich machte einen Knoten in das Tuch und legte es nach den Anweisungen des Polizeiarztes neben den Körper.“

Auf den Fotos in den Polizeiakten ist jedoch das Tuch nicht zu sehen. Deswegen glaubt Hofmann, dass der Körper von Masaryk für die Aufnahmen am Nachmittag noch einmal in den Hof gelegt wurde. Denn nach der Sicherung des Tatorts an jenem Morgen im März 1948 war der tote Außenminister in seine Wohnung gebracht worden.

Dort durchsucht der Inspektor im Übrigen damals das Arbeitszimmer fünf Stunden lang auf ein mögliches Testament oder einen Abschiedsbrief. Nichts dergleichen kann Hofmann jedoch finden, stattdessen stößt er im Papierkorb auf einen zusammengenknüllten Brief. Dieser war angeblich an keinen Geringeren gerichtet als an den sowjetischen Staats- und Parteichef Josef Stalin. Der Prager Kriminalist merkt sich die acht Sätze und zitiert sie 20 Jahre später auswendig. Sie beginnen mit folgenden Worten:

Stalin  (Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-R80329 / CC-BY-SA)
„Sehr geehrter Herr Generalissimus, ich bin aus anderem Holz geschnitzt als Clemenceau aus Frankreich, der Ministerpräsident aus dem Ersten Weltkrieg. Ich habe niemals an einen Selbstmord gedacht…“

Der Brief, den Vilibald Hofmann zitiert, ist deutlich kürzer als jener, der bisher bekannt ist. Vor allem aber kündigt Jan Masaryk darin gerade nicht einen Selbstmord an. Ist also das bisher bekannte Schreiben eine Fälschung?

Brief an Stalin

Die 20-minütige Aufnahme ist Anfang Mai 1968 in der Küche von Jindřich Grulich entstanden, dem Ehemann der Cousine von Hofmann. Grulich ist heute 95 Jahre alt und hat die Kassette dem Tschechischen Rundfunk übergeben. Er betont, dass er den Aussagen von Vilibald Hofmann absolut traue:

Jindřich Grulich  (Foto: Pavel Carbol)
„Was damals wirklich geschah, das haben wir in der Familie vom ersten Augenblick an gewusst. Als Vilibald Hofmann vom Außenministerium zurückkam, schilderte er dies zunächst zu Hause. Später hat er es auch seinen Bekannten erzählt. Er hat die Geschichte insgesamt vielleicht einhundert Mal wiederholt. Bis 1968 hatten auch wir sie x-mal gehört. Aber es gab keine Aufnahmen dazu. Also haben damals die Jungs einen Kassettenrekorder besorgt und die Sache aufgezeichnet.“

Jindřich Grulich erläutert auch, wie es dazu kommen konnte, dass Hofmann selbst 20 Jahre später noch aus dem Brief Masaryks zitieren konnte.

„Vilibald Hofmann hatte ein phänomenales Gedächtnis. Er konnte sich auch sehr lange Zitate gut merken, darin war er herausragend. Und die Zeilen aus dem Brief kannte er auswendig. Dabei hätte er sie sich problemlos auch aufschreiben können. Schließlich war er lange Stunden im Arbeitszimmer von Masaryk, von acht Uhr morgens bis halb eins am Mittag“, so Grulich.

Pavel Carbol  (Foto: Rostislav Šimek,  ČT Ostrava)
Tschechische Historiker glauben nun an die Möglichkeit, mehr Licht in den Tod von Jan Masaryk bringen zu können. Sie sprechen teils von überraschenden Erkenntnissen. Pavel Carbol ist Historiker an der Prager Karlsuniversität:

„Meiner Meinung nach ist die Hypothese am interessantesten, dass der Leichnam Masaryks am Nachmittag noch einmal aus dem Schlafzimmer der Wohnung in den Hof getragen wurde. Wie auch immer der Außenminister gestorben sein mag. Allein diese Erkenntnis ist schon eine Neuigkeit. Und die Fotos des Leichnams, die bis heute präsentiert werden, wären damit keine authentischen Aufnahmen des Tatorts.“

Ein Dank auf Russisch

Jan Masaryk  (Foto: Archiv des tschechischen Außenministeriums)
Auch die Publizistin und Hobby-Forscherin Václava Jandečková hat sich mit dem Fall befasst. Sie war die erste Person, der Jindřich Grulich nach mehr als 50 Jahren die Kassettenaufnahme anvertraut hat. Im Interview für die Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks sagte Jandečková, dass sie derzeit noch die Aussagen Hofmanns mit den offiziellen Ermittlungsakten vergleiche. Und weiter:

„Bei der Befragung durch die Staatsanwaltschaft im Jahr 1968 sagte Hofmann auch noch, dass ihm am Todestag von Masaryk sein kriminalistischer Bericht aus der Hand gerissen worden sei. Ihm sei dann auf Russisch dafür gedankt worden, fügte der Inspektor hinzu. Das sind gewichtige Dinge.“

Jandečková und Carbol haben sich deswegen nun an die Staatsanwaltschaft in Prag gewandt. Sie wollen erreichen, dass die Ermittlungen zum Tod von Jan Masaryk zum fünften Mal aufgenommen werden.

Masaryks Wohnung im Außenministerium  (Foto: Ondřej Tomšů)
„Ich denke, es ist unsere Pflicht, mit dem neuen Material weiterzuarbeiten. Ich habe zum Beispiel vorgeschlagen, den Schatten des Leichnams analysieren zu lassen. Anhand dessen ließe sich vielleicht feststellen, zu welcher Zeit die offiziellen Aufnahmen des toten Ministers entstanden und ob sie authentisch sind. Außerdem möchte ich auf den Brief hinweisen, den Masaryk angeblich an Stalin geschrieben hat. Er klingt einfach anders, ist deutlich kürzer und enthält vor allem keine Erwähnung eines möglichen Selbstmords. Es bestehen einfach einige ernstzunehmende Indizien. Vilibald Hofmann war ja auch zum Beispiel gesagt worden, er dürfe nicht nachdenken und solle einfach nach einem Testament suchen“, sagt Jandečková.

Die Aufnahmen Hofmanns legen laut Václava Jandečková nahe, dass Staatssicherheit und Staatsanwaltschaft die Ermittlungen zum Tod von Masaryk manipuliert haben. Ob das aber auch die Version eines Mordes wahrscheinlicher macht, darüber mag Historiker Carbol jedoch nicht spekulieren:

„Wie es zum Tod von Jan Masaryk kam, ist bisher nicht klar. Aber wegen mehrerer Widersprüche und wegen der neuen Zeugenaussage Hofmanns ist es sehr wahrscheinlich, dass in gewisser Weise auch eine Fremdeinwirkung eine Rolle gespielt haben kann. Deswegen denke ich, dass erstmals seit 1948 überlegt und versucht werden sollte, den Sturz des Außenministers aus dem Fenster zu rekonstruieren. Damit würden die Geschichten rund um den Tod Masaryks entweder bestätigt oder widerlegt. Und man käme einer Klärung des Falls etwas näher.“