Michail Gorbatschow und das Ende des Kommunismus in der Tschechoslowakei

Als am Dienstag Michail Gorbatschow starb, haben auch viele tschechische Politiker seine Verdienste gewürdigt. 1987 besuchte er zum ersten und letzten Mal in seiner Funktion als Partei- und Regierungschef der Sowjetunion den damaligen Bruderstaat. Allerdings wurden damals die Hoffnungen der hiesigen Opposition nicht erfüllt – dennoch fällt auch aus tschechischer Sicht das Urteil über Gorbatschow eindeutig positiv aus.

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Im März 1985 wurde Michail Gorbatschow neuer Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Schon bei Amtsantritt galt er als Reformer. Wohin das führen würde, ahnte damals aber wohl niemand. Schon ein Jahr später führte er zwei neue Konzepte in die sowjetische Politik ein: „Glasnost“, also Offenheit, und „Perestroika“, also den Umbau oder die Umgestaltung. Für den restlichen Ostblock aber noch wichtiger war, dass er mit den imperialen Ansprüchen und ihrer gewaltsamen Durchsetzung seiner Vorgänger brach. Dies änderte die Beziehungen innerhalb des Warschauer Paktes. Und letztlich konnte so die Ordnung der Welt nach dem Krieg – ihre Spaltung in zwei Lager – aufgebrochen werden.

Der tschechische Historiker Matěj Bílý vom Institut für das Studium totalitärer Regime in Prag ist Fachmann für die Geschichte der Sowjetunion und ihres Einflussbereiches in Europa. Im Interview für Radio Prag International betont er, dass auch der Wandel in der UdSSR selbst nach außen gewirkt habe:

Matěj Bílý | Foto: Olga Vasinkevich,  Radio Prague International

„Für die Tschechoslowakei oder die Entwicklung in der tschechoslowakischen Politik hatte Gorbatschow eine grundlegende Bedeutung. Die von ihm initiierten Reformen in der Sowjetunion führten zunächst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zur Schwächung der staatssozialistischen Diktaturen. In der Folge kollabierten die Regimes dieses Typs in Mittel- und Osteuropa. Obwohl Gorbatschow nicht direkter Initiator der Ereignisse vom November 1989 und den folgenden Wochen oder Monaten war, lässt sich mit Sicherheit sagen: Ohne seine politischen und wirtschaftlichen Reformen in der Sowjetunion als dem Machtzentrum des Warschauer Paktes wäre es wahrscheinlich nicht zum Sturz des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei und einer Demokratisierung des Systems gekommen.“

Kein Einmarsch wie 1968 denkbar

Alexander Dubček mit Leonid Iljitsch Breschnew | Foto: Archiv des Tschechischen Fernsehens

Zwei Jahrzehnte vorher – im August 1968 – hatten die Menschen in der Tschechoslowakei noch eine traumatische Erfahrung gemacht. Unter der Leitung von Gorbatschows indirektem Vorgänger Leonid Breschnew marschierten fünf Staaten des Warschauer Paktes in ihr Land ein. Die Panzer überrollten so die Bemühungen um politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Reformen, für die sich der Begriff „Prager Frühling“ eingebürgert hat. Ein ähnliches Szenario etwa als Reaktion auf die Samtene Revolution vom November 1989 wäre jedoch undenkbar gewesen, betont Bílý:

Michail Gorbatschow und Erich Honecker | Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-1986-0421-010  / Mittelstädt,  Rainer,  CC BY-SA 3.0

„In der Zeit, als in der Tschechoslowakei und in den anderen Ländern der sowjetischen Sphäre in Europa die staatssozialistischen Diktaturen zusammenbrachen, war eine zentral von Moskau geleitete Militäraktion zur Rettung der kommunistischen Macht nicht mehr möglich. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen bestand bei den entscheidenden Personen in der sowjetischen Führung kein Wille mehr dazu. Zum anderen kamen außenpolitische Faktoren hinzu. Als Folge von Gorbatschows Politik war die Stellung der Sowjetunion in der Welt geschwächt. Und nicht zuletzt führten Gorbatschows Reformschritte dazu, dass sich die Länder im sowjetischen Einflussbereich polarisierten. Das heißt, der Warschauer Pakt war 1989 – wenn man es vereinfacht – bereits so stark gespalten, dass es einerseits die Anhänger von Reformen gab und andererseits die Dogmatiker, die den Status quo aufrechterhalten wollten. Deswegen war es auch nur schwer vorstellbar, dass irgendwelche kollektiven Maßnahmen ähnlich dem Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 ergriffen worden wären.“

Nicht zuletzt standen auch Gorbatschows persönliche Überzeugungen, seine menschliche Seite, einer imperialistisch geformten Politik entgegen…

„Gorbatschow hatte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre immer noch eine große Autorität, die sich aus seiner Funktion als Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ergab. Aber er lehnte die Anwendung von Gewalt ab. Er war grundsätzlich gegen den Einsatz des Militärs, das betraf nicht nur die Durchsetzung des Monopols der kommunistischen Partei, sondern er hatte allgemein pazifistische Neigungen. Vor dem Hintergrund der führenden Rolle der KPdSU wurde er aber selbst von jenen politischen und militärischen Spitzen in den Staaten der sowjetischen Sphäre respektiert, die sich gegen die Erosion der kommunistischen Macht sträubten“, so der Historiker.

Besuch des sowjetischen Staats- und Regierungschefs Michail Gorbatschow 1987 | Foto: ČT24

Im April 1987 kam Gorbatschow zu einem Staatsbesuch nach Prag und Bratislava. Empfangen wurde er wie alle Sowjetführer zuvor mit jubelnden Menschen in den Straßen und einem Großaufgebot an Spitzenpolitikern.

Der Kremlchef gab sich nahbar und genoss das Bad in der Menge, wie die Bilder der damaligen Fernsehberichte zeigen. Insbesondere die Opposition in der Tschechoslowakei verband mit dem Besuch aber gewisse Hoffnungen. Es war allerdings ein Missverständnis, wie Matěj Bílý erläutert:

„So zeigte sich, dass die Erwartungen der hiesigen Opposition, die unter anderem durch die Reformen in der Sowjetunion wieder Auftrieb bekommen hatte, überzogen waren. Die Oppositionellen hatten erwartet, dass Gorbatschow bei seinem Besuch eine stärkere Öffnung des politischen Systems unterstützen würde sowie die Umsetzung von Referenden, die sowohl in der UdSSR als auch hierzulande initiiert worden waren. Oder dass er im äußersten Fall sogar den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei vom August 1968 verurteilen würde. Doch nichts davon geschah. Das hatte mehrere Gründe. Der wichtigste war: Gorbatschow wollte, dass sich die Staaten des sowjetischen Einflussbereichs emanzipieren. Auch lehnte er es ganz allgemein ab, in die Entwicklung in den Ländern einzugreifen – selbst wenn dies im Sinne einer Demokratisierung oder Liberalisierung der dortigen politischen Systeme gewesen wäre.“

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Diese Haltung sei Michail Gorbatschow dann 1990 – also nach der Samtenen Revolution beziehungsweise nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – von einigen tschechischen und slowakischen Politikern vorgeworfen worden, ergänzt der Historiker. Die Kritik habe sich dabei besonders auf das Schweigen des Sowjetchefs zu 1968 bezogen, so Matěj Bílý.

Laut russischen Historikern hatte Gorbatschow jedoch eine Entschuldigung zu der Invasion auf dem Papier vorbereitet. Letztlich sei der Kremlchef aber von den tschechoslowakischen Kommunisten überredet worden, die ursprüngliche sowjetische Linie beizubehalten, behaupten die Geschichtswissenschaftler.

Ost-West-Unterschied in der Rezeption

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Auch vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie war und ist das Verhältnis der Tschechen und Slowaken zu Gorbatschow?

„Schon vor dem November 1989 war ein Teil der tschechischen und der slowakischen Gesellschaft unzufrieden mit der Entwicklung im gemeinsamen Staat oder lehnte direkt das Machtmonopol der kommunistischen Partei ab. Diese Menschen verbanden mit Gorbatschow ihre Hoffnungen, unterstützten dessen Reformbemühungen, hatten aber keine klare Vorstellung, wie weit Gorbatschow sein Projekt bringen würde und wie weitreichend die Veränderungen sein könnten. Nach 1989 wurde Gorbatschow gefeiert für seine Reformbemühungen, die letztlich zum Fall der kommunistischen Macht beitrugen. Darin unterscheidet sich die Rezeption hierzulande etwas von der in den westlichen Ländern. Dort wird Gorbatschow als ein Staatsmann gelobt, dessen Politik und Kompromissbereitschaft das Ende des Kalten Krieges ermöglicht haben“, weiß Bílý.

Dieser kleine Ost-West-Unterschied im Urteil über den letzten Sowjetchef klang am Mittwoch auch an, als der tschechische Außenminister Jan Lipavský (Piraten) seine Würdigung aussprach:

„Gorbatschow hat mit seinen Entscheidungen der gesamten Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten Freiheit gegeben. Er hatte also einen wichtigen positiven Einfluss auf den Lauf der Geschichte, obwohl er der erste und letzte Präsident der Sowjetunion war.“

Tatsächlich war Michail Gorbatschow nicht nur Generalsekretär des ZK der KPdSU, sondern bekleidete ab März 1990 auch den Posten des sowjetischen Staatspräsidenten. Am 26. Dezember 1991 wurde die Sowjetunion aber aufgelöst.

Die Berliner Mauer,  "Danke,  Gorbi!",  Oktober 1990 | Foto: Boris Babanov,  RIA Novosti,  image #428452/Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0
Autoren: Till Janzer , Olga Vasinkevich
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