„Es ist ein langer und schwerer Weg“: Anastasiias Flucht vor dem Krieg nach Brünn
Eigentlich wollte Anastasiia am Morgen des 24. Februar 2022 ganz normal zur Arbeit gehen. Sie war als Ärztin in einer Privatklinik angestellt. Als ihr Chef schrieb, sie solle lieber zu Hause bei ihrer Familie bleiben, wusste auch Anastasiia schon, dass Russland in ihr Land, die Ukraine, eingefallen war und einen Krieg begonnen hatte. Kurz darauf floh sie mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter nach Brno / Brünn. Für Radio Prag International hat Anastasiia ihre Geschichte des vergangenen Jahres erzählt.
Seit genau einem Jahr führt Russland Krieg in der Ukraine. Offiziellen Angaben zufolge sind 7,9 Millionen Menschen aus dem Land in die verschiedenen Staaten Europas geflohen. Tschechien hat seit Februar 2022 schon fast 500.000 Schutzvisa für ukrainische Geflüchtete ausgestellt. Ihre Gültigkeit beträgt ein Jahr, und den ersten Flüchtlingen hierzulande wird der Schutzstatus nun schon um ein weiteres Jahr verlängert.
Dies trifft auch auf Anastasiia zu. Gemeinsam mit ihrer Familie musste sie den Krieg vom ersten Tag an direkt miterleben:
„Wir kommen aus der Zentralukraine. Meine Stadt heißt Winnyzja, sie liegt genau in der Mitte des Landes. An dem Tag wussten wir zunächst noch nicht sicher, dass der Krieg begonnen hatte. Ich weiß nicht warum, aber als ich früh aufwachte, wollte ich zuallererst in die Zeitung schauen. Ich rief also die Nachrichten auf und erfuhr, dass Krieg ist. Das war schrecklich. Ich konnte es einfach nicht glauben und wusste nicht, was ich tun sollte. Um acht Uhr morgens wussten wir dann aber auch schon, was Krieg ist. Denn in der Nähe unserer Stadt schlug die erste Rakete ein.“
Für ihren Mann und sie sei sofort klar gewesen, dass Anastasiia und die beiden Töchter das Land so schnell wie möglich verlassen mussten. Aber noch sei sie nicht bereit gewesen, weit weg zu gehen, erzählt sie weiter:
„Eigentlich wollte ich die Ukraine nicht verlassen, denn zu der Zeit war mein Schwiegervater noch sehr krank. Ich hatte ihn sehr gern und konnte ihn einfach nicht zurücklassen. Anfang März starb er leider. Mein Mann mahnte, dass wir sofort abreisen sollten, denn es herrschte bereits ein schrecklicher Krieg. Es gab ständig Angriffe, Raketen flogen, und viele Menschen starben gleich zu Beginn.“
Nur einen Koffer für alle habe sie gepackt, sagt Anastasiia, und jede der Töchter durfte nur eine Puppe mitnehmen. Wohin sie fahren würden, wussten sie noch nicht…
„Uns war klar, dass wir ins Ausland mussten. Wir nahmen den Bus – damals konnte man noch Fahrkarten kaufen. Meine Mutter kam mit uns mit und außerdem eine Freundin, ebenfalls mit zwei Kindern und ihrer Mutter. Und diese Freundin hatte Bekannte, die schon lange in Tschechien wohnten. Also war ihr Ziel Brünn. Wir sind erst einmal gemeinsam losgefahren. Ich dachte zunächst, dass ich mit meiner Familie nach Frankreich weiterreise, weil dort meine Cousine lebt. Wir fuhren also über Polen nach Tschechien, und die Reise war sehr lang und beschwerlich. Meine jüngere Tochter war damals zweieinhalb Jahre alt, das war nicht einfach. Weil ich sehr erschöpft war, habe ich dann entschieden, dass wir erst einmal in Brünn bleiben.“
Ins Unbekannte nur mit einem Koffer
Allein im ersten Monat nach Kriegsbeginn kamen etwa 230.000 Menschen aus der Ukraine in Tschechien an. Was damals die Hauptaufgaben der Hilfsorganisationen waren, beschreibt Andrea Krchová, die Direktorin des NGO-Konsortiums für Migration:
„Vor einem Jahr sind vor allem Menschen angekommen, die eine ganz grundlegende erste Versorgung und humanitäre Hilfe brauchten. Wir mussten ein zumindest provisorisches Dach über dem Kopf für sie finden. Oft musste eine ärztliche Behandlung organisiert, Nahrungsmittel besorgt und der Aufenthaltsstatus geregelt werden, damit sie sich in Tschechien legal bewegen konnten. Die Geflüchteten brauchten zudem ganz grundsätzliche Informationen und eine Art Einführung. In dieser ersten Phase galt es sozusagen, erst einmal die größten Feuer zu löschen.“
Für Anastasiia aus Winnyzja verlief die Registrierung in Brünn schneller als gedacht. Denn eigentlich war noch nicht entschieden, dass sie und ihre Familie in der Stadt bleiben würden…
„Wir gingen ins Aufnahmezentrum. Eigentlich wollte ich mich nur erkundigen, wie die Möglichkeiten sind oder wo wir eine Weile wohnen könnten. Aber als ich das Zentrum verließ, hatte ich schon das Visum für uns alle, also auch für meine Mutter und die Kinder. Die Bekannte meiner Freundin ließ uns für ein paar Tage zur Miete in einem Hostel wohnen, damit wir uns erholen konnten.“
Der Hostelmanager habe sie dann sogar kostenlos noch länger beherbergt, bis sich eine Wohnmöglichkeit im Gebäude der Sportorganisation „Orel“ (Adler) fand. Dort leben Anastasiia und ihre Familie auch jetzt noch…
„In der zweiten Etage haben wir zwei Zimmer, eine Küche und ein Bad. Ich habe zunächst nichts anderes gesucht, weil ich wirklich meinte, der Krieg würde nur drei Wochen oder einen Monat dauern. Ich dachte, wir könnten bald wieder nach Hause fahren. Aber leider dauert der Krieg bis heute. Jetzt haben wir aber eine richtige Wohnung in einem Neubaublock gefunden. Nächste Woche ziehen wir um.“
Trotz der Hoffnung, bald wieder nach Hause zurückkehren zu können, regelte Anastasiia die Betreuung der Kinder gleich nach ihrer Ankunft. Direkt neben dem „Orel“-Gebäude habe sich ein Kindergarten gefunden. Den besucht nach der älteren nun auch die jüngere Tochter. Das größere Mädchen geht inzwischen in die erste Klasse. Und die Leiterin eben dieses Kindergartens habe ihr auch gleich einen Job als Reinigungskraft angeboten, ergänzt Anastasiia.
Damit hat sich für die Familie sehr schnell ergeben, was Andrea Krchová und ihre Organisation auch den zahlreichen weiteren Geflüchteten in Tschechien ermöglichen wollen:
„Inzwischen sind wir zur nächsten Phase der mittel- und langfristigen Integration übergegangen, und da beschäftigen die Menschen schon etwas andere Fragen. Es geht darum, dass die Kinder zur Schule gehen können. Das gelingt in den meisten Fällen. Anders ist die Lage bei Jugendlichen, die nicht mehr unter die Schulpflicht fallen und eine weiterführende oder auch eine Hochschule besuchen sollten. Ihre Zeit sinnvoll auszufüllen, ist nach wie vor eine große Herausforderung für die hiesige Zivilgesellschaft. Die Jugendlichen sollen ja nicht auf der Straße bleiben.“
Warten auf die Nostrifizierung des Diploms
Mit ihrem Ehemann seien die Vier jeden Tag mehrmals telefonisch in Kontakt, berichtet Anastasiia weiter. Zu Hause in der Ukraine habe er wieder Arbeit gefunden, und kämpfen müsse er bisher glücklicherweise nicht. Sie wüsste sonst nicht, wie sie damit leben könnte, wirft die junge Frau ein.
Dem Job als Putzfrau ist sie acht Monate lang nachgegangen. Inzwischen arbeitet sie als Krankenschwester…
„Hier in Brünn gab es eine Frau, deren Kind in den gleichen Kindergarten wie meine Tochter ging. Als sie erfuhr, dass ich Ärztin bin, sagte sie gleich, ich müsse mir eine entsprechende Arbeit suchen. Sie ist auch im medizinischen Bereich beschäftigt und vermittelte mir einige Kontakte. Mir hat sie damit zu Beginn wirklich sehr geholfen – einfach indem sie sagte, dass ich das könne und nur damit anfangen müsse. Die meiste Hilfe kommt von Menschen in der Umgebung. Um mich herum hatte ich nur liebenswerte Menschen – und werde sie auch weiter haben, daran glaube ich.“
Bei der Flucht habe sie noch nicht daran gedacht, ihr Diplom oder andere wichtige Papiere mitzunehmen. Aber inzwischen laufe die Nostrifikation, merkt Anastasiia an:
„Im Dezember habe ich beim Gesundheitsministerium alle Dokumente eingereicht. Um als Ärztin arbeiten zu können, brauche ich eine Praxisbestätigung. Also habe ich eine Klinik gesucht, die mich beschäftigen würde, und so werde ich von Mai bis September in Prag sein. Denn ich brauche für die Genehmigung auch einen Betreuer, und den bietet nicht jedes Krankenhaus an – ebenso wenig wie die Praxiserlaubnis. Es ist also ein langer Weg.“
Diesen geht Anastasiia bedacht und mit einem nicht selbstverständlichen Optimismus. Knapp ein Jahr nach ihrer Flucht spricht sie schon sehr gut Tschechisch – zwei Lektionen pro Woche und der Arbeitsalltag seien da sehr hilfreich, wirft die junge Frau ein und fügt noch hinzu:
„Ich möchte jedem in Tschechien danken, der Menschen aus der Ukraine hilft. Ich weiß, wie es für sie ist – es ist auch meine Geschichte, und sie ist schwer. Als wir ankamen, hat noch keiner verstanden, was gerade passierte und warum. Und immer noch habe ich nur diese eine Frage nach dem Warum im Kopf.“
Dies ist wohl eine der am schwersten zu beantwortenden Fragen, die sich aus dem vergangenen Jahr ergeben. Auf jene nach ihrer persönlichen Hoffnung für die kommenden Monate kann Anastasiia aber ohne langes Nachdenken reagieren:
„Ich glaube, wir haben alle nur einen Wunsch: dass der Krieg endet. Das ist das Wichtigste. Jedes Kind und jeder Erwachsene wünscht sich nur das.“
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Tschechien und der Krieg in der Ukraine
Radio Prague International berichtet über den Krieg in der Ukraine