Neu in Dresden: Tschechische zeitgenössische Kunst im Lipsiusbau

Mit der Ausstellung „Alle Macht der Imagination!“ der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden erreicht das Festival „Tschechische Saison in Dresden“ seinen abschließenden Höhepunkt. Dabei werden Gegenwartswerke mit denen der Klassischen Moderne in Verbindung gebracht.

Jiří Fajt und Marion Ackermann  | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

„Wir wollen nicht nur die zeitgenössische Position zeigen, sondern haben sie in den visuellen und inhaltlichen Dialog mit den Kunstwerken der Klassischen Moderne gestellt. Die Ausstellung präsentiert 30 Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart, und hinzu kommen noch 20 Vertreter der klassischen modernen Kunst.“

Soweit der Kunsthistoriker Jiří Fajt. Er ist Hauptkurator der Ausstellung „Alle Macht der Imagination!“, die aktuell in der Kunsthalle des Lipsiusbaus in Dresden läuft. Ihr Titel basiert auf einem bekannten programmatischen Appell der französischen Surrealisten. Malerei, Zeichnung, Grafik, Skulptur, Installation, Film oder Textil- und Glaskunst – die ausgewählten Objekte bilden einen umfangreichen Querschnitt durch die tschechische Kunst.

Zdeněk Pešánek | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Man wisse in Deutschland nur ganz wenig von der Tradition der bildenden tschechischen Kunst, sagt Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und Co-Kuratorin der aktuellen Schau:

„Es gibt nur ein paar Namen. František Kupka ist zum Beispiel relativ bekannt. Aber wenn man sich anschaut, inwieweit er rezipiert wurde, muss man sagen, dass sein theoretisches Hauptwerk von 1922 erst 2001 ins Deutsche übersetzt wurde. Und dann hört es schon auf. Toyen, die große Malerin des Surrealismus, die sich selbst als Artefizialistin bezeichnete, hat jetzt zum ersten Mal in der Hamburger Kunsthalle eine Retrospektive bekommen. Dabei ist sie in Frankreich bekannt. Und Zdeněk Pešánek war eine echte Entdeckung für mich. Er hat in den 1930er Jahren unglaublich radikale Lichtskulpturen geschaffen, also amorphe Körper mit Neon, irgendwo zwischen Architektur und Kunst kreiert.“

Toyen | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Visueller Dialog zwischen Gegenwart und Klassischer Moderne

František Kupka | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Die Ausstellung beginnt im Foyer mit zwei künstlerischen Installationen der Brüder Martin und David Koutecký: In einem Kaffeehaus aus der Zwischenkriegszeit werden die Besucher in die Zeit der Bohème zurückversetzt. Im Untergeschoss fällt der Blick dann unmittelbar auf ein Künstleratelier, ausgestattet mit Pinseln, Lackdosen, allerlei Gerätschaften und den kuriosesten Gegenständen, welche die Imagination des Publikums anregen.

Am Eingang in den Hauptsaal trifft man auf František Kupka, der als Begründer der abstrakten Malerei bekannt ist. Er ist einer der Hauptvertreter der tschechischen Klassischen Moderne. Jiří Fajt erläutert diesen Begriff:

Jindřich Štyrský | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

„Das sind Künstlerinnen und Künstler, die am Anfang des 20. Jahrhunderts in der damaligen Tschechoslowakei und darüber hinaus wirkten. Die ganze Ausstellung beginnt mit drei Gemälden von František Kupka, der wahrscheinlich der berühmteste Künstler der Klassischen Moderne tschechischer Herkunft ist. Und wir gehen weiter. Wir zeigen Bohumil Kubišta, der der in Dresden gegründeten Künstlergruppe ‚Die Brücke‘ angehörte. Des Weiteren Toyen und Jindřich Štyrský, ein Künstlerpaar, das lange in Paris lebte und Ende der 1920er Jahre dort einen eigenen ‚Ismus‘ gründeten, nämlich den Artefizialismus. Und wir haben auch Otto Guttfreund da, einen Pionier der kubistischen Plastik.“

Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Das Konzept der Ausstellung sei nach langen Überlegungen und Gesprächen mit seinen Kollegen entstanden, sagt der Kurator:

„Ich wurde mehrfach gefragt, was eigentlich das Prägende und das Eigenartige an der zeitgenössischen tschechischen Kunstszene ist. Es war mir also ein Anliegen zu zeigen, wie sich die tschechische Kunstszene von den anderen eigentlich unterscheidet. Man muss dazu ergänzen, dass man in der gesamten Region Ostmitteleuropa oder Osteuropa immer noch in den nationalen Kategorien denkt. Das ist im Westen nicht so. Dieser ist viel mehr globalisiert, auch in Folge der kulturpolitischen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg.“

Was prägt zeitgenössische tschechische Kunst?

Künstleratelier | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Laut Jiří Fajt und den Aussagen von seinen Kollegen lässt sich bei einem Kunstwerk der Gegenwart erkennen, wenn es ein tschechisches Werk ist. Er wolle daher hervorheben, was die tschechische zeitgenössische Kunst beeinflusst und geformt hat:

„Das ist begründet auf ganz engen Kontakten zwischen Paris und Prag in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Viele Künstler wanderten aus dem Königreich Böhmen oder der Tschechoslowakei aus und ließen sich sogar auch lebenslang in Paris nieder. Kupka ist einer der Protagonisten, aber es gibt viel mehr: Toyen, Šíma, Štyrský. Dadurch hat Prag miterlebt, was in der Metropole an der Seine passierte. Man rezipierte in Prag in einem kreativen Prozess ganz schnell unterschiedliche ‚Ismen‘, wie Expressionismus, Kubismus und Surrealismus.“

Künstleratelier | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Der Surrealismus war die wichtigste Strömung, bei der in Tschechien auch eine eigenständige künstlerische Linie entwickelt worden sei, betont Fajt:

„Viele Leute, wie etwa Toyen und Štyrský, standen in regem Austausch mit André Breton, der die französische Surrealisten-Gruppe gründete. Kurz danach erleben wir auch die Gründung der tschechoslowakischen Surrealisten-Gruppe. Das kam nicht von ungefähr. Sie funktioniert immer noch, im Gegenteil zu den Franzosen, die Ende der 1970er Jahre aufhörten, sich zu treffen und als Gruppe aufzutreten. Paradoxerweise erlebten die tschechischen Surrealisten auch unter dem kommunistischen Regime weltweit große Anerkennung. Es strömten Leute in die Tschechoslowakei, die mit ihnen, allen vorain mit Jan Švankmajer, in Kontakt treten wollten. Diese frankophone Nähe und diese regen Kontakte zwischen Paris und Prag erlebt man nirgendwo sonst in der Region Ostmitteleuropas – wir kennen das nicht aus Deutschland, nicht aus Polen oder Ungarn. Dies ist also das, was die zeitgenössische tschechische Szene prägt. Und das zeigt die Ausstellungziemlich anschaulich.“

Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Austausch zwischen Prag und Paris

Kryštof Kintera | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Den Hauptraum im Lipsiusbau dominiert Krištof Kinteras Lichtinstallation „My Light is Your Light II“, die aus unzähligen Glühbirnen und anderen Leuchtmitteln besteht. Der Blick in die Höhe fällt auf die monumentale Arbeit „Resonances“ von Magdaléna Jetelovás. Die Künstlerin hat Spiegelmembranen in den Raum gehängt. Wenn man auf der darunter stehenden Orgelspielt, beginnen die Membranen zu vibrieren und sich zu bewegen. Dadurch werde der Raum verändert, sagt Jetelová:

Magdalena Jetelová | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

„Meine Arbeit ist sehr ortsbezogen. Wichtig ist für mich der Versuch, Musik umzusetzen, und zwar nicht wie viele andere Künstler in Zeichnungen, sondern in einer Raumveränderung. Ich habe in Prag die Orgelspielerin Kata gehört, wie sie an ihren eigenen Kompositionen arbeitet. Wir haben diese Installation gemeinsam gemacht, zunächst in Tschechien und nun in Dresden. Ich freue mich wahnsinnig, hier zu sein. Der Raum hat eine Atmosphäre, die für die unglaubliche Expansion, aber auch die Ruhe und dann weitere Impulse dieser Musik das Beste ist.“

Tomáš Císařovský | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Aber nicht nur Installationen sind im Lipsiusbau zu sehen. Die Mehrheit der ausgestellten Kunstwerke sind klassische Gemälde. Wie etwa das Bild von Tomáš Císařovský. Es gehört einem Zyklus an, in dem der Maler anhand einer Modelpuppe durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts führt. Er erläutert:

„Auf diesem Bild ist die Puppe gemeinsam mit den Brüdern Čapek dargestellt. Beide waren Schlüsselfiguren der Kunst- und Kulturszene der Ersten Tschechoslowakischen Republik – der eine Schriftsteller, der andere Maler. Josef Capek hat unter dem Einfluss des sich verändernden politischen Klimas in Europa noch zwei letzte Zyklen gemalt, bevor er ins KZ gehen musste, und zwar ‚Das Feuer‘ und ‚Die Sehnsucht‘. Ich habe diese Modellpuppe im Sinne des typischen čapekschen Kubismus transformiert. Sie ist als eine Mutter dargestellt, die ihr Kind in den Kampf jagt.“

Josef Čapek | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Lichter, Bewegung, Sound

Was alles möglich ist, wenn der Imagination keine Grenzen gesetzt sind, das verdeutlicht die tschechische Avantgarde der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wie kaum eine andere Generation. Ihre Vertreter haben eine Bildsprache geschaffen, die bis heute nachhallt. Diese zeichnet sich durch ihren Formen- und Farbreichtum, durch feine Selbstironie sowie einen spielerischen und imaginativen Zug aus. Rund 250 Werke sind in der Kunsthalle im Lipsiusbau zu sehen. Kurator Jiří Fajt erklärt, wie er die Werke ausgewählt und den Dialog zwischen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts und Gegenwartskunst umgesetzt hat:

Daniel Pitín | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

„Zunächst habe ich eine gewisse Vorauswahl getroffen. Danach habe ich mit jedem Künstler und jeder Künstlerin Gespräche geführt. Auch über die Rezeption dessen, was man als Klassische Moderne bezeichnet. Dabei kam heraus, wie intensiv diese Rezeption der avantgardistischen Strömungen immer noch die zeitgenössische Kunstszene prägt. Als ich zum Beispiel Daniel Pitín in seinem Atelier besuchte, habe ich auf seinem Tisch eine aufgeschlagene Monographie von Bohumil Kubišta aus den 1980er Jahren gesehen, mit Kubištas Bild ‚Der Erhängte‘. Pitín erzählte, dass er während des Studiums diese avantgardistischen Strömungen tschechischer Herkunft nicht wirklich wahrgenommen und immer wieder nach dem Westen geschaut habe. Dann aber gestand er sich zu, wie er sich geirrt hatte. Je mehr sich Pitín dann auf der internationalen Szene einen Namen machte, umso klarer wurde ihm, dass man nicht einen 657. Apologeten von Gerhard Richter haben will, sondern etwas Eigenständiges. Erst in den letzten Jahrzehnten habe er also die klassische Moderne tschechischer Prägung für sich neu entdeckt. Ich nahm mir dann vor, das Bild des ‚Erhängten‘ aus der Mährischen Galerie auszuleihen und es Pitíns Werken gegenüberzustellen. Und so bin ich auch mit den anderen Künstlern umgegangen. Die Auswahl beruht also auf meiner persönlichen und ästhetischen Vorliebe. Aber andererseits habe ich bei den Gesprächen versucht herauszufischen, was die Künstler umtreibt und beeinflusst und wo sie Inspiration gesucht haben. So ist die Auswahl zustandegekommen.“

Die Ausstellung „Alle Macht der Imagination!“ findet in der Kunsthalle im Lipsiusbau in Dresden statt. Sie läuft bis zum 9. Juli 2023. Die Öffnungszeiten sind täglich 10 bis 18 Uhr, montags ist geschlossen. Der reguläre Eintrittspreis beträgt acht Euro.

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