Tschechien als der kranke Mann Europas: Kommt demnächst doch ein Wirtschaftsaufschwung?
Als einziges Land in Europa ist es Tschechien bisher nicht gelungen, seine Wirtschaft wieder auf Vor-Corona-Niveau zu bringen. Nach der Pandemie sorgte die Rekordinflation für einen weiteren ökonomischen Schock, begleitet von der Energiekrise. Tschechiens Konjunktur legt in diesem Jahr um weniger als ein Prozent zu, weswegen das Land von Fachkundigen derzeit als „kranker Mann Europas“ bezeichnet wird.
Mit dem symbolischen Begriff des kranken Mannes wird schon seit dem 19. Jahrhundert in der politischen Debatte ein Land bezeichnet, das innerhalb einer Staatengemeinschaft wirtschaftlich nicht mitziehen kann. Deswegen wird ihm die bittere Pille der Reform nahegelegt. In der deutschen Tageszeitung „Die Welt“ erschien unlängst ein Artikel, in dem Tschechien als kranker Mann Europas bezeichnet wird. Es sei das einzige EU-Land, das es ökonomisch noch nicht wieder das auf Vor-Corona-Niveau gebracht habe, hieß es zur Begründung.
Der Artikel bezog sich auf eine Analyse von Tomáš Dvořák. Er ist beim Londoner Beratungsunternehmen Oxford Economics tätig und äußerte sich zu seinen Untersuchungen in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:
„Die Pandemie hat Tschechien nicht unbedingt stärker als andere Länder beeinflusst. Die Rückgänge im Bruttoinlandsprodukt waren damals vergleichbar. Bei der Wiederbelebung der Wirtschaft danach blieb Tschechien aber zurück. Dies ist keine Frage von einem Quartal oder einem Jahr, sondern dauert schon mehrere Jahre an. Corona war nur der Anfang. Dann kamen weitere Schocks hinzu, die für Tschechien sogar noch schlimmer waren – konkret die Energiekrise und der Krieg in der Ukraine.“
Die Krisen haben durchaus auch die anderen EU-Staaten negativ getroffen. Was Tschechien dabei aber besonders anfällig mache, sei seine Wirtschaftsstruktur, erläutert Dvořák. Diese habe einen solch hohen Industrieanteil wie nur in wenigen anderen Ländern des Kontinents:
„Eine solche Wirtschaftsstruktur ist sehr energieaufwendig. Das heißt aber nicht, dass da nicht Raum für mehr Effektivität wäre. Der hohe Energieverbrauch ist ein Grund dafür, warum sich die Energiekrise so stark auf Tschechien ausgewirkt hat. Ein weiterer Grund ist, dass wir Energierohstoffe vor allem importieren müssen.“
Diese beiden Faktoren hätten zu einer Inflation geführt, die hierzulande zeitweise bei 18 Prozent lag. Das allein reiche aber noch nicht aus als Erklärung dafür, dass Tschechien derzeit wirtschaftliches EU-Schlusslicht ist, so Dvořák weiter:
„Gründe, warum es der tschechischen Ökonomie gerade nicht gut geht, gibt es viele. Einer der wichtigsten ist die geringe Nachfrage von Seiten der Privathaushalte. Diese hing zumindest zu Beginn direkt mit der hohen Inflation zusammen und dem damit verbundenen massiven Rückgang der Reallöhne und der Einkommen.“
Tschechen sind noch nicht wieder in Kauflaune
Dass die Menschen in Tschechien noch immer weniger Geld ausgeben als vor der Corona-Krise, sei nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass es ihnen finanziell nach wie vor schlecht gehe, sagt Dvořák. Die Einkommenseinschnitte der Lockdowns liegen lange zurück, die Inflation ist überwunden, und langsam steigen auch die Reallöhne wieder an. Doch anstatt einzukaufen und zu investieren, würden die Menschen hierzulande ihr Geld nun auf die hohe Kante legen, berichtet der Experte:
„Dass die Rücklagen der Privathaushalte jetzt anwachsen, ist eine Folge der Währungspolitik der tschechischen Nationalbank. Und das ist keine Überraschung. Denn eine strenge Geldpolitik ist einer der wichtigsten Übertragungsmechanismen, mit denen die Nationalbank versucht, die Inflation zu drosseln. Private Rücklagen sind dabei für die Menschen attraktiver als hohe Leitzinssätze, aber sie begrenzen die Nachfrage.“
Der Leitzinssatz in Tschechien liegt seit anderthalb Jahren bei sieben Prozent. Das hält die Krone stark, was sich vor allem im Kurs zu den Weltwährungen bemerkbar macht. Und es wirkt sich auf das Ausfuhrgeschäft tschechischer Unternehmen aus…
In meiner Analyse habe ich jetzt Tschechien den kranken Mann Europas genannt. Dieses Label hängt allerdings meist Deutschland an.
„Leider verschlechtern sich die Aussichten im Ausland. Die Exportnachfrage ist für die tschechische Wirtschaft aber sehr wichtig. In dem Zusammenhang ist etwa Deutschland zu nennen. In meiner Analyse habe ich jetzt Tschechien den kranken Mann Europas genannt. Dieses Label hängt allerdings meist Deutschland an. Dem Land geht es ökonomisch gerade auch nicht so gut.“
Was daran liege, dass Deutschland ebenfalls eine stark industriebasierte Wirtschaft hat, fährt Dvořák fort. Staaten mit dieser Struktur gehe es in Inflationskrisen immer schlechter, denn große Einkäufe auf Kredit und Investitionen würden vermieden. Für Tschechien wirke sich zudem negativ aus, dass Deutschland einer seiner wichtigsten Handelspartner ist. Beide Länder seien aber auch gemeinsam abhängig von den Vorgaben der Europäischen Zentralbank und deren Zinspolitik, räumt der Wissenschaftler ein.
Es ist dieser engen ökonomischen Wechselwirkung geschuldet, dass Tschechien sich aktuell im Zugzwang sieht, weil in Deutschland gerade zusätzliche Milliardensubventionen zur Deckung der hohen Energiepreise beschlossen wurden. Dvořák kommentiert:
Falls das Preisniveau hoch bleibt, müssen sich die Firmen früher oder später daran gewöhnen. Regierungssubventionen haben also nur Sinn für eine Überbrückungszeit.
„Die Energiepreise endlos zu subventionieren, ist nicht der richtige Weg. Damit wird das Unausweichliche nur hinausgezögert. Falls das Preisniveau hoch bleibt, müssen sich die Firmen früher oder später daran gewöhnen. Regierungssubventionen haben also nur Sinn für eine Überbrückungszeit. Das Problem mit solchen Finanzhilfen ist, dass sie nur sehr schwer wieder eingestellt werden können. Das erleben auch wir in Tschechien. Sind sie einmal im Staatshaushalt, dann bleiben sie meist auch da. Also würde ich überlegen, ob es nicht vielleicht besser wäre, diese Gelder – die auch in vielen anderen Ländern einen enormen Umfang haben – in Bereiche zu investieren, die das Potential haben, die Energiepreise zu senken. Wie etwa in erneuerbare Energiequellen. Diesbezüglich ist Deutschland sehr aktiv, was dort bereits zu Preissenkungen führt. Tschechien betreibt dahingehend aber keine Aktivitäten.“
Eine andere Form der Unterstützung der einheimischen Wirtschaft lasse sich in Tschechiens zweitgrößtem Nachbarland, nämlich Polen finden, berichtet Dvořák weiter:
„Während Tschechien am Ende der Wachstumsskala in Europa steht, befindet sich Polen an deren Spitze. Auch dafür gibt es viele Gründe. Aber vor allem muss gesagt werden, dass die polnische Regierung eine wesentlich aktivere Fiskalpolitik betrieben hat. Allerdings hält die Inflation in Polen immer noch an. Und dies in einem Maße, dass die dortige Nationalbank zwar kurz vor den Wahlen mit einer Senkung des Leitzinses begonnen hat, davon aber schnell wieder abgerückt ist. Denn der Inflationsdruck ist dort weiterhin sehr stark, und er verschwindet nicht einfach so.“
Dies sei ein Beleg dafür, dass jeder mutige fiskalpolitische Schritt auch immer etwas koste, so der Ökonom. Konkret hat die polnische Regierung angesichts der Konsumkrise die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel ausgesetzt. In den tschechischen Medien wurde darüber wiederholt als positives Beispiel referiert, wie die einheimische Nachfrage angekurbelt werden könne. Die hiesige Regierung sei dafür aber finanziell nicht vorbereitet, bemerkt Dvořák und holt argumentativ etwas weiter aus:
„Aus Sicht der Wirtschaftspolitik sollte die Fiskalpolitik immer gegenzyklisch sein, also den Wirtschaftszyklus abschwächen. Eine solche Strategie hat zwei Teile. Zum einen muss die Konjunktur unterstützt werden, wenn sie nicht gut läuft. Zum zweiten muss wiederum in guten Zeiten ein Finanzkissen angelegt werden, das diese Unterstützung in schlechten Zeiten erlaubt. Dieser zweite Aspekt wird hierzulande oft nicht erfüllt. In diesem Zusammenhang muss ich die antisystemische Abschaffung des Superbruttolohns erwähnen. Sie hat ein riesiges strukturelles Loch im tschechischen Etat hinterlassen, denn sie wurde durch nichts abgedeckt.“
Mit anderen Worten: Die aktuelle Regierung von Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) kämpft immer noch mit dem Erbe, das ihr das Vorgängerkabinett von Andrej Babiš (Partei Ano) hinterlassen hat. Seit Jahresbeginn 2021 gilt nämlich als Berechnungsgrundlage der Einkommenssteuer nicht mehr der sogenannte Superbruttolohn, also die Summierung von Einkommen, Zuschüssen und Sozialabgaben durch den Arbeitgeber. Jetzt zieht der Staat seine 15 Prozent – bei Höherverdienenden 23 Prozent – nur noch vom gewöhnlichen Bruttolohn ein. Im ersten Jahr der Reform sind dem Fiskus damit etwa 90 Milliarden Kronen (3,7 Milliarden Euro) verloren gegangen.
Tschechischer Staat hat kein ausreichendes Finanzpolster
Der tschechische Staat hat also nicht genügend Geld, um die anhaltende Wirtschaftskrise zu bekämpfen. Im Gegenteil, unausweichliche Milliardenhilfen in der Corona-Zeit haben ein Rekordloch in den Etat gerissen. Dafür müssen Regierung und Bevölkerung jetzt zahlen, und zwar mit den Sparmaßnahmen des Konsolidierungspakets. Das ist Ende November vom Präsidenten unterschrieben worden und sieht in den kommenden beiden Jahren Kürzungen von insgesamt rund 150 Milliarden Kronen (6,2 Milliarden Euro) vor.
Ökonom Tomáš Dvořák hält weder die Struktur noch den Zeitplan des Pakets für ideal. Es schränke den Spielraum der Regierung noch weiter ein, die Wirtschaft mit gegenzyklischen Maßnahmen zu unterstützen. Und weiter:
Es wäre aber vielleicht besser, die bestehenden Steuereinnahmen besser aufzuteilen und eventuell einige Steuern zu erhöhen.
„Ich fände es gut, das Paket ein wenig aufzuteilen und es mehr auf die Ausgaben als auf die Einnahmen auszurichten. Denn der fiskalische Multiplikator – also die Angabe, wie effektiv die Fiskalpolitik ist – ist auf der Ausgabenseite oft prozyklisch. Das heißt, er hat einen größeren Effekt in einer Krise, eben durch die Ausgabenkürzungen. Es wäre aber vielleicht besser, die bestehenden Steuereinnahmen besser aufzuteilen und eventuell einige Steuern zu erhöhen.“
Welche Steuern dies sein könnten, will Dvořák allerdings nicht konkretisieren. Tatsächlich sieht das Sparpaket auch einige solche Anhebungen vor, etwa mancher Mehrwertsteuersätze oder aber bei der Einkommenssteuer für juristische Personen und Firmen.
Angesichts dieser Pläne, einer geringen Auslands- und Investitionsnachfrage sowie der zurückhaltenden Kauflaune der Bevölkerung sei ein Wirtschaftsaufschwung in Tschechien in einem kurzfristigen Zeithorizont nicht zu erwarten, urteilt Dvořák. Dennoch glaube er, dass sich sowohl die einheimische als auch die europäische Konjunktur im kommenden Jahr wieder vom Boden abstoßen werden. Das Prager Finanzministerium prognostiziert für 2024 eine Zunahme des Bruttoinlandsproduktes in Tschechien von 1,7 Prozent. Der Experte ist skeptisch:
„Ehrlich gesagt halte ich das für eine sehr optimistische Schätzung. Um nämlich auf diesen Jahresanstieg zu kommen, müsste die tschechische Konjunktur jedes Quartal um fast ein Prozent zulegen. Dabei wächst die Wirtschaft aktuell gar nicht, sondern schrumpft sogar von Quartal zu Quartal. Ich bin mir also nicht sicher, wo der Finanzminister seinen Optimismus hernimmt.“
Schließlich habe auch die tschechische Nationalbank ihre Schätzung für 2024 wieder zurückgeschraubt, angesichts der schwachen Konjunkturentwicklung im zu Ende gehenden Jahr, fügt der Ökonom hinzu. Er selbst erwarte für das kommende Jahr ein Wirtschaftswachstum von nur 0,8 Prozent, so Tomáš Dvořák von Oxford Economics.