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5) Frýdlant in Nordböhmen: Wo Franz Kafka als Inspektor unterwegs war

Frýdlant / Friedland in Böhmen liegt tief in jenem Zipfel Nordböhmens, der nach Polen hineinragt. Hier wird schnell klar, dass auch dies eine Stadt Franz Kafkas ist. Denn die Gesprächspartner, die uns über die Aufenthalte des Schriftstellers im Ort berichten sollen, haben gerade doch keine Zeit und vertrösten uns auf bald, sehr bald. Und schon kommt man sich vor wie die Figur K., die vergeblich versucht, in „Das Schloss“ zu gelangen. Ein solches gibt es in Frýdlant, und es ist sehr wahrscheinlich, dass es Franz Kafka als Inspiration für seinen Roman diente.

Schloss Frýdlant | Foto: Klára Stejskalová,  Radio Prague International

Die Figur K. kam in das Dorf mit dem Schloss, um dort als Landvermesser zu arbeiten. Und Franz Kafka kam ebenso nach Frýdlant, um seinem Beruf als Inspektor für Arbeitssicherheit nachzugehen – fand dann aber auch Gefallen an Ausflügen in der Gegend. Bei den regelmäßigen Aufenthalten nahm sich Kafka ein Zimmer im Hotel „Bílý kůň“ (Weißes Ross). Es befindet sich direkt auf dem Marktplatz im Zentrum der Stadt, der ansonsten von einem imposanten Rathaus im deutschen Stil dominiert wird.

Jakub Žáček | Foto: Klára Škodová,  Tschechischer Rundfunk

Und vor dem Hotel klappt es dann doch mit einem Treffen mit Schauspieler Jakub Žáček. Er hat einst seine Ausbildung in Frýdlant absolviert und ist der Stadt – wie auch Kafka – seitdem eng verbunden. 2020 organisierte Žáček zum ersten Mal das hiesige Kulturfestival, das nach dem Schriftsteller benannt ist. Was weiß man heute noch von Kafkas Aufenthalten im Hotel?

„Kafka wohnte immer in einem der Zimmer. Wir wissen allerdings nicht genau, in welchem – diese Information wurde nicht weitergegeben. Aber es gibt einen Tagebucheintrag, der sehr eigenartig und typisch depressiv für Frýdlant ist. Dazu passt es gerade auch, dass wir uns heute am ‚Weißen Ross‘ treffen, das Hotel aber geschlossen ist. Ganz im Kafka-Stil kommen wir nun nicht hinein.“

Foto: Klára Stejskalová,  Radio Prague International

Die Tagebuchnotiz, von der Žáček spricht, stammt aus dem Zeitraum Januar / Februar 1911 und lautet:

„Das Hotel in Friedland. Die große Diele. Ich erinnere mich an einen Christus am Kreuz, der vielleicht gar nicht da war. – Kein Wasserklosett, der Schneesturm kam von unten herauf. Eine Zeitlang war ich der einzige Gast.“

Foto repro: Jiří Slíva,  'Franz Kafka a Frýdlant'/Město Frýdlant

Es müssten um die zehn Besuche gewesen sein, die Kafka nach Frýdlant führten, schätzt Jakub Žáček. Manchmal sei der Aufenthalt in der Stadt für den sensiblen Schriftsteller auch zu lang gewesen…

„Als Versicherungsinspektor überprüfte Kafka, ob die hiesigen Unternehmen die Vorschriften zur Arbeitssicherheit der Mitarbeiter einhielten. Auch das deprimierte ihn. Er beschrieb, wie die Menschen ständig irgendetwas dort ablegten, wo es nicht hingehöre. Oder wie die Arbeiter in den Textilfabriken mit dem ganzen Scherenbesteck in den Händen die Treppe hinaufstürzten.“

Wenige, aber detaillierte Tagebucheinträge

Viele Aufzeichnungen über Kafkas Besuche in Frýdlant gibt es nicht. Die wenigen Tagebucheinträge seien dafür aber umso detaillierter, betont Stadtführer Žáček. Zudem könne man auch in Kafkas Werken Hinweise auf seine Eindrücke aus Nordböhmen finden – vor allem im Roman „Das Schloss“. Und weiter Žáček:

Foto repro: Jiří Slíva,  'Franz Kafka a Frýdlant'/Město Frýdlant

„Frýdlant faszinierte ihn durch seinen Genius Loci und vor allem durch das Schloss. Eben das ist wirklich irgendwie kafkaesk, die beiden haben sich also gefunden. In einem weiteren Tagebucheintrag zeigt sich Kafka begeistert von dem Bau und seiner geschlossenen Struktur. Er wirkt wie eine optische Täuschung, und das knüpft durchaus an den Roman ‚Das Schloss‘ an.“

Einen hundertprozentigen Beweis, dass das Schloss Frýdlant die Vorlage für Kafkas Buch war, gibt es nicht. Experten halten es ebenso für wahrscheinlich, dass das Herrenhaus in Siřem / Zürau die wichtigste Inspiration war – ein Dorf in Westböhmen, um das es im Übrigen im nächsten Teil dieser Serie geht. Bei der Analyse von „Das Schloss“ werden außerdem häufig die Bauten in Osek und in Střela, beides in Südböhmen, angeführt.

Schloss Frýdlant | Foto: Jaroslav Hoření,  Tschechischer Rundfunk

Es ist sehr wahrscheinlich, dass alle diese Orte einen Eindruck in Kafkas schriftstellerischer Fantasie hinterlassen haben. In seinem Roman geht es zudem auch gar nicht um die genaue Beschreibung eines Schlosses. Jakub Žáček meint zwar durchaus das Gebäude in Frýdlant zu erkennen, wenn er das Buch liest. Dies sei aber sicherlich eine voreingenommene Projektion, räumt er lachend ein. Beim Gang durch die Schlossräume macht er auf weitere Hinweise aufmerksam:

„Wir können von dem Autor nicht verlangen, dass er sich bis zum letzten Detail an die Quelle seiner Inspiration hält. Darum wird neben Frýdlant auch immer noch auf Siřem verwiesen. Hier vor Ort ist aber erkennbar, dass das Schloss in sich geschlossen ist. Man kommt nicht hinein, wenn man keine Eintrittskarte oder keinen Schlüssel hat. Zudem gehörten die letzten Inhaber zur Familie Clam-Gallas. Das führt uns zu Kafkas Figur Herrn Klamm. Und es gibt das Mädchen Frieda, das Herrn K. bezaubert und eine schicksalhafte Rolle spielt. Das fällt doch auf: Frieda – Frýdlant… Muss ich noch mehr sagen?“

Kafka mit seiner Schwester Ottla | Foto: Kateřina Ayzpurvit,  Radio Prague International

Obwohl der Schauspieler auf die düstere Erscheinung des Schlosses verweist und die eher depressiven Tagebuchreflexionen Kafkas zu Frýdlant hervorhebt, hat der Literat die Stadt doch auch sehr gern gehabt…

„Ja sicher. Als die Familie überlegte, auf welche Schule sie Kafkas Schwester Ottla schicken sollte, empfahl er sogar die Wirtschaftsschule in Frýdlant. Hier begann sie 1918 dann auch ihre Ausbildung. Dies wird wohl keine geschwisterliche Rache gewesen sein, denn Franz hatte Ottla sehr gern. Er schickte ihr auch schöne Postkarten von hier und zeichnete sein kaltes Hotelzimmer für sie auf – eine Art Comic, der auch erhalten geblieben ist. Ich denke, alle Kafka-Kenner wissen, dass Frýdlant für ihn von Bedeutung war.“

Fast aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden

Frýdlant | Foto: Jaroslav Hoření,  Tschechischer Rundfunk

Frýdlant liegt in jenem Gebiet, das historisch als Sudetenland bekannt ist. Bis 1945 waren die meisten Einwohner Deutsche, nach dem Zweiten Weltkrieg und der Befreiung von den Nationalsozialisten wurde ein Großteil von ihnen vertrieben. Das betraf auch die Stadt selbst, die seither eine vorrangig tschechische Bewohnerschaft hat. Damit lebte in der Nachkriegszeit dort kaum noch jemand, der sich daran erinnerte, dass einstmals ein gewisser Franz Kafka regelmäßig zu Besuch nach Frýdlant kam. Žáček berichtet, welche Auswirkungen dies auf das kollektive historische Gedächtnis hat:

„Bei einer meiner Führungen durch das Schloss fragten einige Engländer nach Kafka und wollten Aufnahmen oder Archivmaterialien sehen. Meine Kollegen meinten damals, dass Kafka hier nie gewesen sei und schließlich in Prag gelebt habe. Ich hatte jedoch auch schon als Kind von Bohumil Hrabal gehört, dass Kafka wirklich in Frýdlant war. Das wurde hier aber als frei erfunden abgetan. Dennoch stimmt es, und für Kafka-Kenner war das eine bekannte Tatsache. Nur ist diese Kontinuität unterbrochen worden. Das Wissen wurde einfach zwischen den beiden Nationalitäten nicht weitergegeben, als hier die Bewohnerschaft ausgetauscht wurde.“

Foto: Suhrkamp Verlag

Eine weitere Ursache dafür, dass Kafkas Verbindung mit Frýdlant nicht mehr zum Allgemeinwissen der Menschen in Tschechien gehört, ist in der Zeit des Kommunismus zu suchen. Der deutschsprachige Schriftsteller jüdischer Herkunft gehörte zwar nicht zu den verbotenen Autoren, wurde in der Schule aber kaum behandelt. Auf die Frage, wann in Frýdlant erstmals wieder davon gesprochen wurde, dass auch Kafka zur Geschichte der Stadt gehört, antwortet Žáček mit Humor:

„Zuallererst kam dies in der Arbeiter-Unfallversicherung zur Sprache, als man Kafka mitteilte, dass er sich als Inspektor um den Bezirk Frýdlant kümmern müsse. Darauf schaute er drein, wie er immer auf den Fotografien dreinschaut, und fuhr los. Damals ahnte er nicht, dass es hier auch 100 Jahre nach seinem Tod keine Kaffeetasse, kein T-Shirt oder Kuscheltier mit seinem Bild zu kaufen geben wird – so wie es etwa in Prag ist.“

Tatsächlich gibt es in der Stadt nicht einmal ein Denkmal oder eine Gedenktafel für Kafka, der heute weltweit verehrt wird. Das sei doch durchaus Kafka-typisch, findet Žáček. Als Schauspieler setzt er dem großen Literaten auf seine Art ein Denkmal: Das Kulturfestival „Frýdlantsko Franze Kafky“ fand bisher zweimal statt und lädt auch in diesem Sommer wieder in den Nordzipfel Böhmens ein.

„Die Stadt atmet eine besondere Atmosphäre. Und das hat uns bewogen, das Festival so zu nennen, auch wenn es dabei nicht nur um Kafka geht. Wir wollen den Namen und den Genius Loci, den ja auch Kafka spürte, als Schlüssel nutzen für die Dramaturgie und als Begründung, warum wir dies in Frýdlant veranstalten.“

Die dritte Ausgabe des Festival „Frýdlantsko Franze Kafky“ startet am 10. August. Alle Informationen gibt es, auch auf Deutsch, unter kafkafrydlant.cz.

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Der 100. Todestag von Franz Kafka bietet nicht nur die Möglichkeit, Kafkas Werk und Leben aus aktuellen und neuen Perspektiven zu betrachten. Alle Veranstaltungen, Ausstellungen, Vorträge, literarische Links sind auf der Website des Projekts Kafka2024 zu finden.

Kafka 2024 | Foto: Adalbert Stifter Verein
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