Milena Jesenská: Die übersehene Übersetzerin
Am 10. August 1896 wurde Milena Jesenská geboren. Vor 80 Jahren starb sie im Konzentrationslager Ravensbrück. Der Name der Journalistin und Schriftstellerin ist im Kafka-Jahr 2024 vielerorts zu lesen – war sie doch mit dem Prager Erfolgsautor liiert. Über einen Aspekt von Jesenskás Leben weiß man bis heute aber wenig, nämlich über ihre Tätigkeit als Literaturübersetzerin.
„Když 16letý Karel Rosman […] vjel již v zpomaleném parníku do newyorského přístavu, spatřil sochu Svobody […] jakoby ve světle náhle prudším.“
So klingt der Anfang der Erzählung „Der Heizer“ von Franz Kafka in Übersetzung von Milena Jesenská. Die Kurzgeschichte bildete die spätere Vorlage für den Roman „Der Verschollene“, der auch als „Amerika“ bekannt ist. Jesenskás tschechische Übertragung erschien im April 1920 im Literaturmagazin Kmen – und sie war die erste publizierte Übersetzung eines Kafka-Textes überhaupt.
Franz Kafka und Milena Jesenská – diese beiden Namen sind der Weltöffentlichkeit vor allem als Liebespaar bekannt. Während man über Jesenská heutzutage zwar mancherorts liest, dass sie Journalistin war, findet ihre übersetzerische Tätigkeit nur selten Erwähnung. Zu Unrecht, findet Michelle Woods. Sie lehrt an der State University of New York in New Paltz Literatur- und Übersetzungswissenschaft und brachte 2013 eine Publikation mit dem Titel „Kafka Translated“ heraus. Ein Kapitel darin ist eben gerade Milena Jesenská gewidmet.
„Als ich die ‚Briefe an Milena‘ las, stellte ich fest, dass sie Kafkas Werke übersetzte, bisher aber niemand darüber etwas geschrieben hatte. Das hat mich neugierig gemacht, gerade auch weil Jesenská ja die erste Übersetzerin seiner Arbeiten war.“
Mehr als „Kafkas Freundin“
Michelle Woods’ rund 30-seitige Abhandlung ist einer der ganz wenigen Texte, der sich mit Milena Jesenská als Übersetzerin beschäftigt. Woher aber kommt das generelle Desinteresse?
„Das liegt zum Teil daran, dass Übersetzung als kulturelles Werkzeug und die Einflüsse von Literaturübersetzung auf eine Kultur leider immer noch nur wenige Menschen interessieren.“
Hinzu kommt laut der Literaturwissenschaftlerin, dass Jesenská in ihrer Heimat lange Zeit gemieden wurde:
„Nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 in der Tschechoslowakei war sie mehr oder weniger verbannt. Denn sie hatte in den 1930er Jahren den Kommunismus kritisiert. Man konnte also nicht wirklich über sie sprechen – bis in die frühen 1960er Jahre, als Kafka rehabilitiert wurde.“
Im Westen war das Interesse an den Briefen und Büchern Kafkas da schon in die Höhe geschnellt. Vor allem Margarete Buber-Neumann rückte Milena Jesenská mit einer Biographie aus dem Jahr 1963 in den Fokus. Doch bereits der Titel des Buches drückt aus, was Woods an der Publikation in Frage stellt – denn sie heißt „Milena, Kafkas Freundin“:
„Das ist ein übertrieben romantisiertes Bild von Kafkas und Jesenskás Beziehung, ohne aber die Übersetzungen wirklich zu besprechen. Diese Liebesbeziehung wird zudem in die Mitte von Jesenskás Leben gerückt. Doch sie heiratete später auch, ließ sich scheiden, hatte andere Partner. Und sie wurde als Journalistin bekannt.“
Und Jesenská war eben auch Übersetzerin. Sich damit zu beschäftigen, sei aus zwei Aspekten heraus wichtig, sagt Woods:
„Um die Wende zum 20. Jahrhundert herum und dann auch nach 1918 wurde Übersetzung als wichtige Möglichkeit gesehen, die neuesten Texte aus aller Welt ins Tschechische zu übertragen. Dadurch sollte auch die hiesige Literatur bereichert werden. Man wollte frische Gedanken in die neugegründete Republik bringen.“
Zudem könne die Beschäftigung mit Jesenská wichtige Impulse aus einer feministischen Perspektive bringen. Denn Übersetzung habe damals auch gesellschaftliche Teilhabe bedeutet und sei für Frauen oft eine willkommene Möglichkeit gewesen, in die Literaturszene einzusteigen, so Woods im Interview für Radio Prag International.
Jesenská übersetzte nicht nur aus dem Deutschen
Wie wurde nun aber Milena Jesenská zur Übersetzerin? Durch Geldsorgen, sagt Woods:
„Sie ging mit ihrem Mann Ernst Pollak nach Wien. Ihre Familie war im Übrigen gegen diese Ehe, denn er war ein deutschsprachiger Jude. Pollak war leider ein ganz schöner Casanova und hatte mehrere Affären. Jesenská blieb allein zurück, hatte kein Geld – und das alles Ende der 1910er, Anfang der 1920er Jahre, als gerade die österreichisch-ungarische Monarchie zerbrach. Sie hatte kaum etwas zu essen. Später erzählte sie Kafka einmal, dass sie sogar als Gepäckträgerin am Bahnhof arbeiten musste. Und da kam ihre Prager Freundin Staša Jílovská mit der Idee, dass sie doch übersetzen könne, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.“
Jesenská übertrug Texte von Rosa Luxemburg, Gustav Schulz und Gustav Landauer. Doch sie übersetzte nicht nur aus dem Deutschen ins Tschechische:
„Zu ihren Ausgangssprachen zählten auch Russisch, Englisch und Französischen. Und sie übersetzte all das ziemlich schnell. Zu Beginn der 1920er Jahre erschienen gleich mehrere Texte. Die Autoren waren unter anderem etwa Lew Tolstoi, Upton Sinclair und Gina Kaus.“
Die Kurzgeschichten erschienen auf Tschechisch in Literaturmagazinen wie Kmen oder Tribuna. Zumeist wurden sie dort als Fortsetzungsromane publiziert. In jeder Ausgabe des jeweiligen Magazins wurde also ein Teil des Textes herausgebracht. Einmal jedoch gab es davon eine interessante Ausnahme…
ZUM THEMA
„Als sie ihre erste Kafka-Geschichte herausbringen wollte, den ‚Heizer‘ oder ‚Topič‘, sagte der Verleger von Kmen: ‚Eigentlich veröffentlichen wir solche Texte nur als Fortsetzungsgeschichte in mehreren Bänden. Aber diese Arbeit ist so bemerkenswert – wir werden einfach eine einzige Ausgabe nur damit bringen!‘ Das finde ich schon spannend, dass sich 1920 ein tschechischer Verleger der Bedeutung dieser Literatur bewusst war. Wo wir doch häufig davon ausgehen, dass Kafkas Werk vor seinem Tod 1924 gar keine Beachtung fand…“
Die Kafka-Übersetzungen schienen für Jesenská wichtiger als die anderen Texte zu sein, meint Woods. Und sie führten zum Briefkontakt des späteren Liebespaares…
„Sie stellte ihm einige Fragen. In einem der ersten Briefe schreibt Kafka, dass er ihre Übersetzung gelesen hat. Und er sagt, welche Entscheidungen man aber vielleicht noch einmal überdenken könnte. Dieser Kommentar wird von vielen als Kritik aufgefasst. Aber wenn man einmal genau nachliest, stellt man fest, dass das nicht stimmt, sondern Kafka sich lediglich die Frage stellt, wie man Stellen übersetzt, die ein wenig zweideutig sind.“
Klang des Textes im Fokus
Neben dem „Heizer“ übersetzte Jesenská etwa auch eine Auswahl aus Kafkas Sammelband „Betrachtung“ und darüber hinaus „Ein Bericht für eine Akademie“ („Zpráva pro Akademii“) und 1923 „Das Urteil“ („Soud“). Jesenskás Übertragungen zeichnen sich Woods zufolge dadurch aus, dass die Übersetzerin an mehreren Stellen mehr über den Klang des Textes nachdenkt und das Ziel einer möglichst inhaltlich korrekten Übersetzung hintenanstellt. Auffällig sei zudem ein weiterer Aspekt:
„Kafka verwendet in seinem Werk viele Wortwiederholungen, um Emotionen zu erzeugen. Einmal schrieb Kafka Jesenská, dass sie Probleme mit den Tschechen bekommen könnte, da sie ihm zu treu sei. Ich denke, er wollte sagen, dass man meinen könnte, sie sei eine schlechte Übersetzerin, weil sie die Stellen nicht glätte und an den damals üblichen tschechischen Stil anpasse.“
Tatsächlich gibt es Woods zufolge in einigen späteren Publikationen Kritik an Jesenskás Übersetzungen.
„In manchen Büchern über sie, in denen Translation nur am Rande erwähnt wird, behaupten die Autoren, dass Jesenská mit der Hilfe ihrer Liebhaber übersetzt habe. Als ob Jesenská ohne die Hilfe von Männern nicht klargekommen wäre! Es kann allerdings sein, dass sie bereits bestehende tschechische Übersetzungen zu Rate gezogen hat. Gerade bei Tolstoi halte ich das für denkbar, aber man müsste dies weiter untersuchen. Das stelle ich mir sehr spannend vor, dahingehend noch einmal weiter in die Tiefe zu gehen.“
Und so betont Woods abschließend, dass es zu Milena Jesenská als Übersetzerin noch viele offene Forschungsfragen gebe:
„In meinem Buch habe ich mich auch auf Kafka konzentriert, die anderen übersetzten Autoren habe ich eher außen vorgelassen. In dieser Richtung gibt es also noch viel zu erkunden. Man könnte etwa untersuchen, ob Jesenská einen eigenen Stil als Übersetzerin hatte. Denn die Autoren, die sie übersetzte, hatten alle eine sehr unterschiedliche Ästhetik und auch verschiedene Botschaften. Es gibt also noch einiges zu erforschen.“