Fotografie als Dokument und Kunst – Lucia Moholy in der Kunsthalle Praha

Lucia Moholy: Exposures

Die Fotografin und Autorin Lucia Moholy wurde 1894 in Prag geboren. Den größten Teil ihres Lebens verbrachte sie in Deutschland, England und der Schweiz. Aufnahmen von ihr sind in renommierte Kunstsammelstellen dieser Länder sowie der USA eingegangen. Hierzulande war Lucia Moholy gänzlich vergessen. Nun präsentiert die Kunsthalle Praha in ihrer Geburtsstadt die umfassende Lebens- und Werkschau „Lucia Moholy – Exposures“.

Lucia Moholys Fotografien sind schöpferisch und sachlich zugleich. Die nüchterne Objektivität teilen sie mit der Neuen Sachlichkeit. Außer dem Essentiellen betonte Moholy indes durch Komposition und Blickwinkel stets zugleich das Besondere ihrer Motive – ob sie Produkte der Werkstätten oder Architektur des Bauhauses dokumentierte, Persönlichkeiten porträtierte oder Reisebilder in Jugoslawien und dem Vorderen Orient schoss.

Lucia Moholy: Exposures | Foto: Vojtěch Veškrna,  Kunsthalle Praha

„Sie sagte, dass sie Menschen so wie Architektur fotografiere. Stets aus mehreren Winkeln, Ansichten. Und interessanterweise bemühte sie sich nicht, daraus ein finales Porträt zu erstellen, sondern sie schuf stets Serien“, erklärt der Künstler und Hochschullehrer Jan Tichý. Er ist einer der Kuratoren der Ausstellung, wegen der er in den letzten Jahren oft aus den USA angereist ist. Dort lehrt er seit 2007 Fotografie an der Kunsthochschule School of the Art Institute of Chicago. Zusammen mit dem Ausstellungsarchitekten Zbyněk Baladrán hat Tichý das Design der Schau gestaltet. Sie decke alle wichtigen Aspekte des Lebens und Wirkens Lucia Moholys ab, so Tichý:

„Wir haben versucht, die Biographie und das Lebenswerk Lucia Moholys vollständig darzustellen – nicht nur die bekannten Abschnitte, wie die paar Jahre am Bauhaus oder die Porträtfotografie in London. Sondern wir haben Lucia Moholys Geschichte so konzipiert, wie wir sie verstehen: als Dokumentaristin. Wir hielten es für wichtig, nicht nur ihre frühen Jahre zu beleuchten, sondern auch das, was Lucia Moholy gemacht hat, als sie in der Schweiz lebte.“

In die Schweiz zog Lucia Moholy 1959, nachdem sie ein Vierteljahrhundert in England gelebt hatte. Im Kanton Zürich ist Moholy 1989 im Alter von 95 Jahren auch gestorben. Zur Welt gekommen ist sie als Lucie Schulz 1894 in Prag, ein gutes Jahrzehnt nach Franz Kafka. Sie wuchs in demselben Lebenskontext heran wie ihr berühmter Zeitgenosse und hatte ebenso Teil an der kulturellen, religiösen und ethnischen Vielfalt des historischen Prag. Nach Spuren der Prager Kindheit und Jugend Lucia Moholys hat die Kunsthistorikerin Hana Buddeus bei der Vorbereitung der Ausstellung geforscht.

'Shadows on Rock and Water' | Foto: Lucia Moholy,  Photo Elysée,  Lausanne/Kunsthalle Praha

Frühe Jahre im multikulturellen Prag

„Sie wurde in einer Familie jüdischen Glaubens geboren. Ihr Vater setzte sich für tschechisch-jüdische Aktivitäten ein. Er war Mitglied bei verschiedenen tschechisch-jüdischen Vereinen, die eine Einführung des Tschechischen in die jüdische Glaubenspraxis anstrebten. Er redete wahrscheinlich mit den Kindern Tschechisch, denn wir wissen aus Briefen, dass Lucia Moholy die Sprache nicht nur für den häuslichen Gebrauch beherrschte, sondern auch imstande war, Tschechisch zu schreiben. Ihre Schulbildung absolvierte sie jedoch in deutscher Sprache. Sie besuchte ein deutsches Mädchenlyzeum in Prag.“

Die Mutter Waleska Schulz, geborene Baruch, stammte aus der Lausitz. Nach dem Lyzeum besuchte Lucia, beziehungsweise Lucie, Vorlesungen aus Kunstgeschichte an der K. k. Deutschen Karl-Ferdinand-Universität und arbeitete ein Jahr lang in der Anwaltskanzlei ihres Vaters im Stadtteil Karlín mit. Doch die junge Frau strebte in die Welt hinaus. Gerade mal 21 Jahre alt, zog Lucie 1915 aus der elterlichen Wohnung aus und ging nach Deutschland. Dort verdiente sie ihren Lebensunterhalt zuerst in Wiesbaden und später in Berlin als Mitarbeiterin von Verlagen und als Pädagogin. Auf der Suche nach Selbstverwirklichung näherte sie sich progressiven Zeitströmungen an, die ihrem Weltbild entsprachen. Buddeus schildert:

Edith Tschichold,  1926 | Foto: Lucia Moholy,  Fotostiftung Schweiz,  Winterthur/Kunsthalle Praha

„Diese Zeit hat sie für ihr gesamtes weiteres Leben entscheidend geprägt. Sie sagte sich vom bürgerlichen Lebensbild der Mittelklasse los. Von der Rolle der Anwaltstochter, deren Bildung auf ein Dasein als Ehefrau ausgerichtet war. Und dann knüpfte sie Kontakte zu revolutionären und feministischen Bewegungen, einige Zeit veröffentlichte sie auch Gedichte unter einem männlichen Pseudonym. In jener Zeit lernte sie in Berlin, als sie beim Rowohlt-Verlag arbeitete, László Moholy-Nagy kennen. Die beiden experimentierten mit Fotografien. Diesen Lebensabschnitt kennzeichnen also viele rasche Wechsel.“

Mit dem avantgardistischen Künstler aus Ungarn zusammen schuf Lucie etwa Fotogramme. Dabei werden Objekte auf lichtempfindlichem Papier belichtet, sodass ihr Schatten eine helle Fläche hinterlässt. 1923 wurde László Moholy-Nagy als Lehrer an das Bauhaus nach Weimar berufen. Lucia Moholy, da schon mit ihm verheiratet und Ungarin, folgte ihm. Während der folgenden fünf Jahre fertigte sie in Weimar und Dessau Hunderte Aufnahmen von der Architektur, den Produkten und Persönlichkeiten des Bauhauses an. Sie war die erste professionelle Fotografin der legendären Schule für angewandte Kunst und Architektur. Etliche ihrer Aufnahmen sind nach deren zwangsweiser Schließung 1933 und den Kriegszerstörungen zu unersetzlichen Bilddokumenten des Bauhauses geworden. 1928 ging das Paar nach Berlin. Lucia Moholy nahm eine Stelle an der privaten Kunstschule des ehemaligen Bauhaus-Lehrers Johannes Itten an. Sie trennte sich von László Moholy-Nagy und verband sich mit Theodor Neubauer, einem kommunistischen Reichstagsabgeordneten. Als die Gestapo Neubauer im August 1933 verhaftete, flüchtete Lucia Moholy überstürzt aus Berlin. Dabei musste sie ihre Negative auf Glasplatten zurücklassen. Jan Tichý hat dem Thema Verlust durch Migration mit einer kinetischen Installation Ausdruck verliehen, die nun ebenfalls in der Kunsthalle Praha zu sehen ist. Das Kunstwerk entstand bereits 2016 im Auftrag der Berliner Galerie Kornfeld. Tichý über sein Werk:

'Der Blick aus dem Fenster von Lucia Moholy,  Dessau,  1926' | Foto:  Lucia Moholy,  Fotostiftung Schweiz,  Winterthur/Kunsthalle Praha

Flucht und Exil einst und jetzt

„2016 war Berlin voller Emigranten. Diese Fragen waren damals sehr aktuell. Vor diesem Hintergrund habe ich meine ‚Installation Nr. 30, Lucie‘ geschaffen, die Lucias Geschichte in den politischen und sozialen Kontext der Gegenwart stellte. Ich habe Glasplatten in der Größe dieser Negative zuschneiden lassen, auf denen nichts ist, sie sind leer. Und diese Glasplatten sind wie ein Kartenhaus auf dem Boden aufgestellt, sie stützten sich nur durch ihr Gewicht gegenseitig. So bilden sie einen sehr abstrakten, urbanen Raum. Und in der Mitte sind Gruppen kleinerer Glasplättchen analog zu den Grundrissen der Dessauer Meisterhäuser angeordnet. Diese Installation von 330 Glasplättchen wird durch Licht aktiviert, das aus Videoprojektoren strömt und sich bewegt und so den weißen, leeren Raum mit abstrakten Bildern füllt.“

Jan Tichý: Installation Nr. 30,  Lucia  (2016) | Foto: Jan Tichý

Nach Zwischenstationen in Prag, Wien und Paris konnte Lucia Moholy 1934 nach London auswandern. Dort gründete sie ein Fotostudio, in dem sie Künstler der Bloomsbury Group und andere Persönlichkeiten aus ihrem Umfeld porträtierte. Nachdem ihr Atelier bei einem Bombenangriff zerstört worden war, wendete sie sich dem Mikrofilm als neuem Berufsfeld zu.

„Lucia Moholy fasste die Fotografie in allen ihren Formen stets als ein Mittel gesellschaftlichen Handelns auf, als einen Akt der sozialen Intervention. Und nicht anders ging sie an den Mikrofilm heran. Sie sah diese Technik als Teil des Zusammenhangs von Produktion und Reproduktion. Sie wirkte während des Zweiten Weltkriegs als Leiterin des Mikrofilmzentrums der britischen Regierung und Armee bei der ASLIB.“

Lucia Moholy,  1980 | Foto: Giorgio Hoch,  Courtesy of the artist/Kunsthalle Praha

Die Mikrofilm-Abteilung der ASLIB – Association of Special Libraries and Information Bureaus – wurde nach dem Krieg aufgelöst. Lucia Moholy machte sich als Dokumentaristin selbstständig. Zweimal entsandte die Unesco sie in die Türkei, um Bibliotheks- und Archivbestände auf Mikrofilmen zu speichern. Damit erschloss sie Kulturquellen für eine breitere Nutzung, eine Tätigkeit, die in ihrer Sichtweise dem höheren Ziel humanistischer Bildung durch Teilhabe an Kunst und Wissen diente. Bereits als Teenagerin hatte sie, damals noch Lucie Schulz, ihrem in Deutsch geführten Prager Tagebuch die Verse anvertraut:

„Der Mensch ist ein kleines Kind der Natur,
Die Kunst ist ein großes Kind des Menschen.
Sie wird neue Menschen erziehen.
Die Nachfolge dieser kennt man nicht.“

Diesen Glauben hat Lucia Moholy nie aufgegeben – trotz aller Verluste und Leiden, die ihre Familie, viele ihrer Bekannten und nicht zuletzt sie selbst infolge der nationalsozialistischen Barbarei hinnehmen mussten.

Späte Entdeckung als Kunstfotografin

Auch wenn Lucia Moholy selbst die fotografischen Techniken primär als Dokumentationsmedium sah, wertete man ihr fotografisches Œuvre ab den 1980er Jahren um, als die Fotografie eine legitime Kunstform wurde. Die Züricher Galerie Renée Ziegler organisierte 1981 die erste Einzelausstellung mit über 50 Drucken von Lucia Moholy. Renommierte Institutionen wie die National Portrait Gallery of London, das San Francisco Museum of Modern Art oder die Stiftung Ludwig in Köln haben Bilder von ihr gezeigt. Der Großteil des Nachlasses Lucia Moholys befindet sich im Bauhaus-Archiv in Berlin.

Lucia Moholy: Exposures | Foto: Vojtěch Veškrna,  Kunsthalle Praha

Die nunmehrige Ausstellung in der Kunsthalle Praha vereinigt auf zwei Etagen Hunderte Fotografien, Schrift- und Audiodokumente über Moholy. Dazu hat die Kunsthalle unter der Federführung der Kunsthistorikerin Jordan Troeller einen Sammelband mit Studien herausgebracht. Und Jakub Hauser hat Lucia Moholys Monographie „A Hundred Years of Photography“ erstmals ins Tschechische übersetzt. Das Buch war 1939 mit einer Auflage von 40.000 Stück im britischen Penguin-Verlag erschienen. Einmal in die Wege geleitet, habe das Projekt immer weitere Kreise gezogen, erinnert sich Kurator Jan Tichý:

„Die Ausstellung begann mit einer Vision von Christelle Havranek, der Chefkuratorin der Kunsthalle Praha. Wir begegneten uns vor sieben Jahren in Chicago. Christelle kam mit dem Gedanken, Lucia Moholy nach Prag heimzuholen. Ich arbeitete damals mit Robin Schuldenfrei zusammen, und diese brachte mich mit Jordan Troeller in Kontakt, einer amerikanisch-deutschen Kunsthistorikerin, die besonders über Lucia Moholys Beziehungen zu sozialen und feministischen Gruppen geforscht hat. Später schloss sich uns Meghan Forbes an, eine Kunsthistorikerin aus New York, deren Forschungen sich unter anderem auf das Wirken Lucia Moholys in Jugoslawien konzentrieren.“

Sie und die übrigen Mitglieder des Teams haben umfangreiche Materialien über Lucia Moholy zusammengetragen, die eine breite Grundlage dafür bilden, ihr einen gebührenden Platz in der Geschichte der Fotografie zu sichern.

Bis zum 28. Oktober ist die Ausstellung „Lucia Moholy – Exposures“ noch in der Kunsthalle Praha zu sehen. Anschließend, im Frühjahr 2025, zeigt sie die Fotostiftung Schweiz in Winterthur, die an der Organisation beteiligt ist.

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