"So nah und doch so fern" - Fotografien von Jindrich Streit
"So nah und doch so fern": Unter diesem Titel stellt das feine Museum Kampa Fotografien von Jindrich Streit aus. Streit reiste durch Tschetschenien und das Nachbarland Inguschien, und fotografierte dort Menschen, die seit Jahren in Flüchtlingslagern auf die Heimkehr warten. Die Bilder von Streit erzählen von dem Leben der Menschen, ihrem Leid und ihrer Hoffnung. Für diesen Beitrag im Kultursalon besuchte unser freier Mitarbeiter Thorsten Herdickerhoff die Ausstellung und sprach mit dem Fotografen Jindrich Streit.
Auf der Moldau-Insel Kampa, mitten in Prag an der Kleinseite, gibt es einen lauschigen Hof. Links ein gemütliches Restaurant, rechts ein kleiner Wasserlauf, dazwischen junge Bäume und bizarre Skulpturen. Dieser Hof gehört zum Museum Kampa, einem privaten Museum für moderne Kunst. Jetzt zeigt es zum ersten Mal auch Fotografien, und zwar Fotografien von Jindrich Streit. Seine Werke sind gegenüber dem Hauptgebäude ausgestellt, so dass man von der Kasse aus noch mal den lauschigen Hof durchquert.
Die Ausstellung empfängt mit einer großen Fotografie im Querformat. Sie zeigt einen kleinen Jungen von hinten, nur mit einer kurzen Hose bekleidet. Er klammert sich an einem schweren Gitter fest, das das ganze Bild ausfüllt. Er blickt durch die dicken Metallstäbe in eine weite Sommerlandschaft. Wiesen und Felder liegen vor ihm in der Sonne, Hügel und Wälder am Horizont. Dieses Bild gibt das Thema der Ausstellung vor. Sie heißt "Tak blízko, tak daleko - So nah und doch so fern".
"Diese Bezeichnung entstand am letzten Tag, an dem ich dort fotografiert habe - in einem der Flüchtlingslager. Das Lager liegt in Inguschien, an der Grenze zu Tschetschenien. Die Flüchtlinge aus Tschetschenien leben schon seit drei Jahren dort, und alle diese Menschen sehen täglich vom Lager aus über die Grenze. Aber sie können dort nicht hingehen. Das heißt: Die Heimat ist so nah und gleichzeitig so fern - weil sie dort nicht hinkönnen."
Die weiteren Bilder über tschetschenische Flüchtlinge hängen rechts in einem hellen, weißen Raum. Sie sind genauso groß wie das erste, und alle im Querformat. Sie hängen von der Decke herab in den Raum, in einer Reihe hintereinander, und scheinen zu schweben. Wenn man vor einem Foto steht, verdeckt es die anderen, und man hat viel Ruhe es zu betrachten. Auch die übersichtliche Zahl der Fotografien beruhigt. Es entsteht nicht der Eindruck, durch die Ausstellung hetzen zu müssen. Nein, hier ist man eingeladen sich Zeit zu nehmen, und die Bilder in Ruhe anzuschauen. Diese Anordnung der Bilder hat sich Streit gut überlegt. Doch seine Idee widersprach den Vorstellungen der Museumsleiterin, Meda Mladkova, und der Fotograf hatte einen schweren Stand.
"Die Installation war sehr schwierig, weil Frau Meda Mladkova es völlig anders haben wollte. Aber ich sagte, es muss genau so sein. Ich konnte mich durchsetzen, und als ich es ihr zeigte, sagte Frau Mladkova, dass es viel besser sei als ihre Idee. Das war ein schöner Erfolg."
Die Fotos zeigen Menschen, Flüchtlinge aus Tschetschenien, und ihr Leben in den Zeltlagern. Eine Frau spielt Akkordeon in einer Gruppe von Kindern. Die Sonne scheint, zwei Kinder tanzen, die Gesichter scheinen betrübt. Diesen Eindruck verstärkt ein Mädchen, das mit leidenschaftlicher Hingabe tanzt. Das Foto hält ihre Bewegung fest in einem Moment, der das schmerzliche Bewusstsein der eigenen Lage zeigt. Und dieses Bewusstsein wird ausgedrückt auf die lebendigste Weise, die wir kennen: sie tanzt. Vor ihr steht ein Mann im Bild, der Tarnkleidung trägt und eine Maschinenpistole. Wie kann man in solchen Situationen fotografieren? Wie reagierten die Menschen darauf?
"In Tschetschenien und Inguschien konnte ich sehr gut fotografieren, ausgezeichnet. Ich hatte praktisch keine Probleme. Das verdanke ich dem Umstand, dass ich von der tschechischen katholischen Caritas eingeladen war, die sich dort schon einige Jahre engagiert. Die Leute von der Caritas kümmern sich z. B. um 1000 Kinder, sie haben Schulen gebaut und verschiedene andere Einrichtungen wieder aufgebaut. Sie haben eine Menge Geld investiert für das Leben der Menschen. Die Menschen dort sind der Caritas sehr dankbar. Und da ich von Mitarbeitern der Caritas begleitet wurde, hatte ich keine Probleme, die Menschen zu fotografieren."
Streit fotografierte die Menschen in ihren alltäglichen Lebenssituationen: betende Männer, ein krankes Kind das gepflegt wird, eine werdende Mutter oder Frauen beim Ballspielen. Doch die Bilder drücken weit mehr aus. Sie zeigen den Schmerz und die Hoffnung dieser Menschen, ihre Trauer und Freude - ihr Leid, ihre Zuversicht, ihre Träume. Die elf gezeigten Bilder vermögen fast alles über diese Menschen zu sagen, fast alles, was wichtig ist.
"Ich bedanke mich für diese Worte, die Sie gesagt haben. Ja, die elf Bilder reichen aus, die Atmosphäre auszudrücken. Auf der Ausstellung waren allerdings eine Menge Leute, denen elf Bilder zu wenig waren."
Die Bilder von Streit füllen den Ausstellungsraum, sie machen auf sich aufmerksam, sie haben Gewicht. Sie sind großformatig, lassen sich ruhig betrachten, und es gibt weder Titel noch Ortsangaben. Kein Text lenkt ab. Wer etwas über die Bilder erfahren will, muss sie betrachten. Genau das will Streit erreichen.
"Ich sage, was das anbelangt, solange die Fotos nicht aus sich selbst heraus sprechen, solange sie keinen Gehalt haben, hilft ihnen der Titel auch nicht viel. Ich möchte Fotos machen, die keine Titel brauchen."
Ohne Titel treten die Menschen auf den Fotos noch stärker hervor. Wir sehen ihr Leben, ihr Erleben, das auch uns angeht.
"Das ist richtig, das ist es, was ich will. Ich fotografiere dann, wenn es mir gelingt, dass der Ausdruck der Menschen und meine Gedanken so stark sind, dass es keine Überschrift braucht."
Nach dieser Maxime hat Streit schon viele Menschen fotografiert. Menschen im Theater, Drogenabhängige, Menschen aus Akagi in Japan, oder behinderte Menschen. Er steht mit dieser Art zu fotografieren in der Tradition der sozial-dokumentarischen Fotografie. Sie reicht weit zurück, und hatte ihre ersten großen Erfolge in den USA um 1900, etwa mit dem Lehrer und Fotografen Lewis W. Hine.Hine verband damals den Anspruch wahrheitsgemäßer Darstellung von Menschen mit künstlerischen Gestaltungs-Regeln. Ergebnis waren packende Fotografien von hoher Wirksamkeit. Sie wurden eingesetzt, um soziale Missstände anzuprangern und letztlich abzuschaffen. Hines Fotos trugen unter anderem dazu bei, dass Kinderarbeit in den USA verboten wurde.
Diese Art zu fotografieren, diese Kunst beherrscht auch Jindrich Streit - und das hat ihn berühmt gemacht, weltberühmt. Die Ausstellung geht noch auf eine weite Reise. Sie wird an verschiedenen Orten in Tschechien gezeigt, dann in Frankreich und schließlich in Finnland. Geht sie auch nach Russland?
"Dahin vermutlich nicht." - Warum nicht? - "Das ist ein großes Problem. Die Politiker, die tschechischen Politiker haben große Angst vor einem Konflikt zwischen Russland und Tschechien. Wenn man das Wort 'Tschetschenien' sagt, wollen die Politiker nichts mehr hören. Diese Ausstellung habe ich auch in Brüssel gezeigt - die Politiker haben nichts gesagt. Genauso in Straßburg."
In Prag ist Streit sehr zufrieden mit der Ausstellung. Nicht, weil sie hier von irgendwelchen Politiker besucht würde. Die haben gerade mit sich selbst zu tun und versuchen die Regierung zu kitten. Nein, Streit freut sich, weil das Museum Kampa eine hervorragende Adresse in Prag ist, viele Menschen erreicht, und zum ersten Mal Fotografien ausstellt. Trotz unzähliger Erfolge - allein im letzten Jahr hatte er 55 Ausstellungen - trotz all dieser Anerkennung ist auch die Kampa-Ausstellung ein großer Erfolg für ihn, worüber er sich sehr freut.
Die Ausstellung "Tak blízko, tak daleko - So nah und doch so fern" ist bis zum 29. Mai im Museum Kampa zu sehen. Es gibt auch ein Buch mit demselben Titel, das den gesamten Zyklus von 70 Fotografien enthält.