Das „Münchner Diktat“ 1938: Tschechisches Außenministerium präsentiert wenig bekannte Dokumente

Ausschnitt aus der Karte der Tschechoslowakei, die Hitler seinen Bad Godesberger Forderungen beilegte. Die rot schraffierten Flächen sind die Gebietsansprüche Deutschlands

Für Tschechien ist das sogenannte Münchner Abkommen vom 30. September 1938 ein Trauma, das bis heute nachwirkt. Anlässlich des Jahrestags seiner Unterzeichnung hat das tschechische Außenministerium einige unbekanntere Dokumente vergangene Woche der Presse präsentiert.

Letzte Seite des Münchner Abkommens | Foto: Barbora Navrátilová,  Radio Prague International

Im Münchner Abkommen stimmten die beiden Westmächte Frankreich und Großbritannien sowie Italien den Forderungen Hitlers zu, die Sudetengebiete aus der Tschechoslowakei herauszulösen und Deutschland zuzusprechen. Es war der Schlusspunkt unter der Sudetenkrise im Jahr 1938.

Hitlers Memorandum von Bad Godesberg | Foto: Barbora Navrátilová,  Radio Prague International

Die Krise hatte sich im September zugespitzt, als Hitler unverhohlen mit Krieg drohte. In der Folge übten Paris und London auf Prag Druck aus. Am 21. des Monats stimmte die Tschechoslowakei dann zu, Gebiete mit über 50 Prozent deutschsprachiger Bevölkerung abzutreten. Am nächsten Tag traf der britische Premierminister Neville Chamberlain in Bad Godesberg ein, um mit dem deutschen Reichskanzler über die wichtigsten Fragen zu verhandeln. Doch Hitler lehnte die britischen Vorschläge ab und stellte neue, weitergehende Forderungen. Was darauf folgte, zeigt das tschechische Außenministerium anlässlich des 86. Jahrestags des Münchner Abkommens anhand von Dokumenten, die der Öffentlichkeit teils unbekannt sind. Der Ministerialbeamte Ivan Dubovický zu den Verhandlungen in Bad Godesberg:

Karte der Tschechoslowakei,  die Hitler seinen Bad Godesberger Forderungen beilegte. Die rot schraffierten Flächen sind die Gebietsansprüche Deutschlands | Foto: Archiv des tschechischen Außenministeriums

„Damit wischte Hitler den englisch-französischen Plan, der der Tschechoslowakei am 19. September 1938 vorgelegt worden war und dem zwei Tage später die Regierung in Prag unter Druck zugestimmt hatte, komplett vom Tisch. Hitler veränderte in den Forderungen von Bad Godesberg seine territorialen Ansprüche grundlegend. Das enttäuschte selbst Chamberlain.“

Ivan Dubovický | Foto:  Barbora Navrátilová,  Radio Prague International

Dabei hatte gerade Chamberlain mit seiner Appeasement-Politik darauf gehofft, Hitler beruhigen zu können. Als die tschechoslowakische Führung um Staatspräsident Edvard Beneš vom Scheitern der Gespräche in Bad Godesberg erfuhr, rief sie die allgemeine Mobilmachung aus. Im Archiv des tschechischen Außenministeriums findet sich eine Depesche des damaligen Außenministers Kamil Krofta an alle Auslandsvertretungen des Landes. Darin ordnet der Ressortchef den Schritt der Mobilmachung ein:

Nachricht des tschechischen Außenministers Kamil Krofta an die Botschafter des Landes in London und Paris,  dass sie die dortigen Regierungen darüber unterrichten sollen,  wie viel Waffenmaterial durch das Münchner Abkommen in Hitlers Hände gekommen | Foto: Barbora Navrátilová,  Radio Prague International

„Es ist nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Maßnahmen Deutschlands folgen können. Wir sind auf alles vorbereitet. In jedem Fall unternehmen wir nichts, was uns berechtigterweise als Provokation ausgelegt werden könnte. Vielleicht hat die (Mobilmachung) eine präventive Wirkung und schränkt die eventuellen Angriffspläne Deutschlands ein (…).“

Zugleich übergab der tschechoslowakische Botschafter in London, Jan Masaryk, dem britischen Außenminister Lord Halifax eine Note, in der Prag Hitlers neue Forderungen ablehnte. In dieser heißt es unter anderem:

„Die Vorschläge übersteigen bei Weitem das, dem wir beim sogenannten englisch-französischen Plan zugestimmt haben. Sie entziehen uns jegliche Garantien für unsere nationale Existenz. Wir sollen zu großen Teilen unsere sorgfältig vorbereitete Befestigung aufgeben und die deutschen Truppen tief in unser Land lassen, bevor wir es auf neuer Grundlage organisieren und Maßnahmen zu seinem Schutz ergreifen können.“

Telegramm des tschechischen Botschafters in London,  Jan Masaryk,  der sich über das Verhalten des britischen Premiers Neville Chamberlain beschwert | Foto: Archiv des tschechischen Außenministeriums

Am 26. September 1938 trat Hitler im Berliner Sportpalast auf und hielt eine äußerst aggressive Rede, deren Übersetzung der tschechoslowakische Gesandte in Berlin, Miroslav Schubert, anschließend nach Prag schickte. Danach traf sich der britische Botschafter in Berlin, Nevile Henderson, mit dem deutschen Reichskanzler. Und der Vertreter Londons übermittelte der Führung in Prag ein Ultimatum. Dazu Tomáš Klusoň vom Archiv des tschechischen Außenministeriums:

Tomáš Klusoň | Foto: Barbora Navrátilová,  Radio Prague International

„Am 27. September gab Hitler im Gespräch mit dem britischen Botschafter deutlich zu verstehen, dass er seine aggressive Haltung noch steigert. Er sagte, falls seine Forderungen nicht bis zum folgenden Tag, also dem 28. September, 14 Uhr erfüllt würden, dann behalte er sich alle militärischen Schritte vor. In Prag und in allen anderen europäischen Metropolen begann man, sich auf einen Kriegsausbruch am folgenden Tag vorzubereiten.“

Letztlich wendeten Chamberlain und der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt mithilfe des italienischen Diktators Benito Mussolini den Krieg vorerst ab. So wurde für den 29. September eine Viermächtekonferenz in München einberufen. Am folgenden Tag wurde das Münchner Abkommen geschlossen, womit die Vertreter Frankreichs, Großbritanniens und Italiens ihre Zustimmung gaben zum Anschluss des gesamten Sudetenlandes an das Deutsche Reich. Ab dem 1. Oktober marschierte die Wehrmacht ein und besetzte diese Gebiete. Von tschechoslowakischer Seite hatte niemand am Verhandlungstisch gesessen. Deswegen und wegen des massiven Drucks von Seiten Hitlers spricht man hierzulande auch vom „Münchner Diktat“.

Foto: Tschechisches Fernsehen

Letztlich konnte die nationalsozialistische Aggression mit dem Abkommen nicht gestoppt werden. Am 15. März 1939 besetzte Deutschland den Rest von Böhmen und Mähren, nachdem zuvor schon in der Slowakei ein faschistischer Staat von Hitlers Gnaden entstanden war. Diese Erfahrung lebt bis heute nach in der tschechischen Politik.

„Die Frage lautet, ob man konsequent Widerstand gegen einen Aggressor leisten sollte oder ob man durch Zugeständnisse etwas erreicht. Für uns ist das Münchner Abkommen der klare Beweis, dass der Frieden in Europa dadurch nicht bewahrt werden konnte“, erläutert Ivan Dubovický.

Autoren: Till Janzer , Olga Vasinkevich
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