Ophelien und Wiedergänger - die morbiden Farben der böhmischen Dekadenz

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"V barvach chrobnych" - "In morbiden Farben" heißt eine Ausstellung im Prager Repräsentationshaus, die den Besucher auf die Nachtseite der menschlichen Seele führt. Geister, Dämonen, Nachtgespenster - gärende Sexualität, Pilgerschaft und die Erlösung, die nicht mehr zu finden ist: Die Schau bietet erstmals einen breiten und bildmächtigen Überblick über Dekadenz in der bildenden Kunst in den böhmischen Ländern um die Jahrhundertwende.

Rußig-schwarze Wände durchbrechen brutal die lichten Jugendstil-Fluchten des Repräsentationshauses. Schon die Ausstellungsarchitektur zieht den Besucher in ein düsteres und klaustrophobisches Labyrinth, in eine Welt ohne Hoffnung. Dekadenz, das wird deutlich, ist keine Stilrichtung, sondern eine Lebensauffassung. Das unterstreicht auch der Kurator der Ausstellung, der Kunsthistoriker Otto M. Urban:

"Die Dekadenz, das ist unsere These, ist nicht eine geschlossene Gruppe an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, sondern eines der Schlüsselmomente der gesamten Moderne. Das heißt, vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis hin zur Gegenwart lässt sich praktisch eine kontinuierliche Entwicklung dieses dunklen Blickes auf das menschliche Leben mit den Mitteln der Kunst verfolgen."

Rund um die Jahrhundertwende tritt diese Auffassung aber am deutlichsten hervor. Die Ausstellung beschränkt sich daher auf die Jahre zwischen 1880 und 1914. Für die junge Generation wird der Glaube an die klassischen Werte der Kunst, an das Schöne, Wahre und Gute, zur hohlen Phrase. Sie sehen eine Welt, die kein Heil mehr bietet - eine Auffassung, die wenige Jahre später im Ersten Weltkrieg zur Erfahrung einer ganzen Generation werden soll. Um die Jahrhundertwende teilt diese Sicht eine ganze Reihe von Künstlern, die sich später in die unterschiedlichsten Richtungen weiter entwickeln. So findet man in der Ausstellung auch Namen, die man hier sicher nicht erwartet hätte. Etwa Alfons Mucha, der später durch seine Jugendstilportraits ewig blühender, unberührter Mädchenschönheit weltberühmt geworden ist.

Otto M. Urban
"Aber um das Jahr 1900 herum hat Mucha eine ganze Reihe sehr interessanter, düsterer und apokalyptischer Pastelle geschaffen, in denen Dämonen und Nachtgespenster auftauchen - ganz naturalistische Visionen vom Verfall der Gesellschaft."

Seit Beginn der 90er Jahre beschäftigt sich der Kunsthistoriker Otto M. Urban mit der Dekadenz in den böhmischen Ländern. Bislang war das Thema vorwiegend der Literaturwissenschaft vorbehalten. Nach mehreren Einzelprojekten bietet die Ausstellung im Repräsentationshaus nun erstmals auch für die bildende Kunst einen Gesamtüberblick über das Phänomen der Dekadenz in Böhmen, Mähren und Schlesien:

"Das Thema ist für mich faszinierend darin, dass hier versucht wird, der Gesellschaft einen Spiegel entgegenzuhalten, ihr ihre dunkle Seite zu zeigen, von der sie nichts sehen und hören will, die sich aber nicht einfach verleugnen lässt und die latent im Verborgenen existiert. Es ist kein Zufall, dass zu der gleichen Zeit die Psychologie und Psychiatrie enorm entwickelt hat. In dieser Zeit hat der Nervenarzt Jean-Martin Charcot in Paris seine Experimente gemacht, und später sind die ersten Aufsätze von Freud erschienen, der sich gerade mit der verborgenen, dunklen Seite der menschlichen Seele befasst und einen wichtigen Weg zum Verständnis des eigenen Ich aufzeigt."

Um ein neues Verständnis des Ichs und der Welt ringen auch die Künstler der Dekadenz. Die Ausstellung ist als Pilgerweg dieser Suche konzipiert. Der erste Teil zeigt unter dem Titel "Ich und Ich" Selbsterforschungen, Selbstportraits und Stilisierungen, sei es als Dämon oder Christus. Im Ahasver-Motiv, dem ewigen und ruhelosen Wanderer, wird aber schließlich deutlich, dass das Ich keine Rettung bietet. Es folgt die Konfrontation mit dem Gegenüber, mit dem Weiblichen, mit der Frau als Verführerin, Versucherin, als Gebende und Vernichtende, als femme fatale, als Salome oder Ophelia. Im dritten Teil schließlich, so Kurator Otto M. Urban, wandelt sich das Gegenüber ins Transzendente:

"Das Gegenüber ist hier das geistige Prinzip, das Spirituelle, aber das natürlich aus dem dunklen, dekadenten Blickwinkel, der Nietzsches Satz akzeptiert, dass Gott tot ist - jedenfalls der gute Gott - und dass eine neue Grundlage gefunden werden muss. Und so ist hier oft das Motiv eines spirituellen Übergangs zu finden, für den die Künstler häufig auch Drogen benutzt haben, Halluzinogene, Opium und ähnliches, die ihnen, um es mit Baudelaire zu sagen, die künstlichen Paradiese aufgeschlossen haben."

Paradiese allerdings, die einen Blick auf den Boden der Hölle erlauben - finstere, nebelige Welten, bevölkert von Nachtgestalten und Spukwesen, von Vampiren, Chimären und Gestalt gewordenen Alpträumen - Dekadenz in ihrer schwärzesten und phantastischsten Form. Ausweg aus dieser fiebernden Überreiztheit nervöser Seelen bietet schließlich nur noch der reinigende Tod - die vierte Station im Ausstellungszyklus, aber nicht das Ende der schrecklichen Pilgerfahrt:

"Hinter den letzten Bildern der sterbenden und toten Leiber öffnet sich noch ein weiterer Teil, und der steht für den Sieg des Apokalyptischen. Hierhin gehören die Untoten und Wiedergänger, die aus dem Grab zurückkehren und sich ganz normal ins menschliche Leben einfügen und Teil der diesseitigen Welt werden. Hier schließt sich der Kreis und die Pilgerreise des Individuums knüpft zyklisch wieder an den ersten Teil der Ausstellung an."

Besonders Kennzeichen der Dekandez, und das nicht nur in den böhmischen Ländern, ist die strikte Individualität, verbunden aber mit einer genauso strikten Internationalität. Die Dekadenz, wenn man sie als Lebensauffassung versteht, eignet sich nicht als Gruppen bildendes Programm oder nationales Manifest, so Kurator Otto M. Urban:

"Karel Hlavacek, der hier auf der Ausstellung reich vertreten ist, hat zum Beispiel schon Anfang der 1890er Jahre klar gesagt, dass es ihm nicht wichtig ist, ob etwas nun in Böhmen, Italien oder Deutschland entstanden ist, sondern dass ihn das Kunstwerk als solches interessiert. Das in einer Zeit zu sagen, als in Prag gerade das Nationaltheater fertig gestellt war und die nationale Erweckung sich auf ihrem Höhepunkt befunden hat, das war wirklich provokant, aber in mancher Weise auch heilsam."

Die Ausstellung behält den übernationalen Blick bei - nicht um tschechische Kunst geht es, sondern um Kunst in den böhmischen Ländern. Ausführlich dokumentiert wird der Anteil der Prager deutschen und deutsch-böhmischen Künstler. Darauf hinzuweisen ist einer der besonderen Verdienste der Ausstellung, denn während sich die Nationen in den böhmischen Ländern zunehmend feindlich gegenüber traten, gab es zwischen der tschechischen und der deutsch-böhmischen Dekadenz enge Beziehungen:

"Die Kontakte waren sehr intensiv, deshalb ist der deutsch-böhmische Teil auf der Ausstellung auch reich vertreten, etwa durch Richard Teschner, August Brömse, Gabriel Cornelius Max oder Hugo Steiner-Prag und viele andere. Die Verbindungen sind evident - in der führenden Zeitschrift der tschechischen Dekadenz, der ´Moderni revue´ finden sich etwa im deutschen Original mit die frühesten Gedichte von Rainer Maria Rilke. Der berühmte Prager deutsche Schriftsteller Paul Leppin hat direkt mit dem Kreis der tschechischen Dekadenten zusammen gearbeitet. Die Beziehungen waren weit enger als man heute oft glauben will, denn später hat man aus ideologischen Gründen alles daran gesetzt, die Dinge schön säuberlich voneinander zu trennen."

Die wiedervereinigte Geschichte der Dekadenz in den böhmischen Ländern ist noch bis zum 18. Februar im Repräsentationshaus in Prag zu sehen. Zu der Ausstellung ist im Verlag Arbor Vitae ein opulenter Katalog erschienen, der auch in englischer Sprache zu haben ist.