Ostrauer Luft macht krank

Foto: František Tichý, Archiv des Tschechischen Rundfunks
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Jedes Jahr das Gleiche: Vor allem im Herbst und im Winter legt sich der Smog über Ostrava / Ostrau und Umgebung, als wolle er die mährisch-schlesische Stadt ersticken. Und die unzähligen Industrieschlote füttern unablässig nach. Das Tschechische Hydrometeorologische Institut gibt dann regelmäßig seine Warnungen heraus: „Die Bürger werden gebeten, die Fenster geschlossen zu halten. Ältere und kranke Menschen sollten ihre Wohnung nicht verlassen.“ Es ist beinahe schon jahreszeitliche Folklore. Aber vor allem die gesundheitlichen Folgen für die Kinder sind alarmieren. Christian Rühmkorf war in Ostrau und hat sich ein Bild gemacht.

Smog in Ostrava  (Foto: František Tichý,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Ostrau, Stadtteil Radvanice. Hier, im Schatten des Stahlgiganten ArcelorMittal summen abends vor vielen Häusern große Luftfilteranlagen. Fenster zu öffnen wagt hier niemand. In Radvanice hat die Kinderärztin Eva Schallerová seit 30 Jahren ihre Praxis. Jeder dritte ihrer kleinen Patienten ist Asthmatiker.

„Hier hat das menschliche Leben keine außergewöhnliche Bedeutung, meine ich. Was das betrifft, leben wir hier noch in einer anderen Welt.“

Seit Jahren kämpft Eva Schallerová auf allen Ebenen für eine bessere Luft. Ostrau ist eine Industriemetropole. Hier wird Kohle nicht nur abgebaut, sondern auch gleich verheizt. Zum Beispiel im Stahlwerk ArcelorMittal. Ostrau ist die drittgrößte Stadt Tschechiens und ihre Luft eine der schmutzigsten in Europa. Zur „Hochsaison“ atmen hier rund 300.000 Lungen bis zu zehn Mal mehr Feinstaub ein, als anderswo in Tschechien. Der Smog manipuliert schon die Eizelle, die Spermien und den Embryo, erklärt Dr. Schallerová:

Eva Schallerová  (Foto: Archiv der Statutarstadt Ostrava)
„Die schlechteste Zeit, hier gezeugt zu werden, ist Ende November, Anfang Dezember. Denn dann erlebt die Frau das erste Vierteljahr ihrer Schwangerschaft in der schlimmsten Phase der Luftverschmutzung. Wenn ein Kind im Herbst geboren wird, ist das nicht besser. Es kommt häufiger vor, dass der Säugling während seines ersten Winters auf Erden mehrere Bronchialinfekte oder sogar Lungenentzündungen durchmacht“, erklärt Schallerová. Dann kämen die chronischen Erkrankungen – Allergien und Asthma. Und bei den Erwachsenen folgen Herz- und Gefäßerkrankungen.

Der Epidemiologe Radim Šrám von der Akademie der Wissenschaften hat mit seinem Team vor gut drei Jahren untersucht, welche Auswirkungen die Luftverschmutzung in Ostrau auf den menschlichen Organismus hat. Die Wissenschaftler hatten unter anderem festgestellt: Die extreme Schadstoffeinwirkung beschädigt die DNA der Menschen in Ostrau, die abnorm hohe Aktivität eines reparativen Gens schwächt den Organismus langfristig. „Ostragen“ nannte es der Ostrauer Liedermacher Jarek Nohavica scherzhaft.

Petr Kajnar  (Foto: Archiv der Statutarstadt Ostrava)
Die Stadt Ostrau ist damals mit Anwälten gegen die Veröffentlichung der Studie vorgegangen. Die Ergebnisse seien irreführend und rufschädigend, hieß es. Oberbürgermeister Petr Kajnar streitet jedoch ab, dass über Anwälte Druck auf die Wissenschaftler ausgeübt worden sei. Und für die schlechte Luft trage die Stadt im Grunde keine Verantwortung.

„Verantwortlich ist dafür grundsätzlich der Staat. In der Grundrechtecharta garantiert er den Bürgern das Recht auf saubere Luft. Auf diese Frage sollte der Staat eine Antwort finden.“

Vor wenigen Tagen wurde abermals gemeldet, dass Tschechien und das benachbarte Polen enger zusammenarbeiten wollen, um die Situation in Schlesien zu ändern. Bisher seien die Bemühungen nicht ernsthaft genug, kritisiert jedoch die stellvertretende Ombudsfrau, Jitka Seitlová, in ihrer jüngsten Stellungsnahme. Das gelte auch für die Stadt- und Kreisämter. Seit Jahren kommt kaum Bewegung in die Sache. Es gibt aber Bürger in Ostrau, die etwas ändern wollen.

Jan Kozina  (Foto: Archiv der Organisation Čisté nebe)
Einer von denen, die das Heft in die Hand genommen haben, ist der Personalmanager Jan Kozina mit seiner Organisation „Čisté nebe“ (Sauberer Himmel). Er fährt mit den Fingern über sein Smartphone und zeigt auf eine Skala. Eine Nadel pendelt zwischen Grün und Rot und bleibt schließlich auf Gelb-Orange stehen.

„Jetzt ist es gerade in Ostrau-Zábřeh am schlechtesten. 108 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter. Das ist schon eine ziemlich schlechte Situation“, erklärt Kozina.

Erlaubt sind 50 Mikrogramm pro Kubikmeter. „Smog-Alarm“ heißt die App. Ihre Entwicklung ist eine von vielen Aktivitäten, die „Čisté nebe“ initiiert, um Menschen aus der Passivität zu holen. Mit der Smog-App kann man ermitteln, wie hoch die Feinstaubbelastung in dem Stadtteil ist, in man sich gerade aufhält, erklärt Kozina. Wenn Limits überschritten werden, trudelt automatisch eine Warn-Mail ein.

Illustrationsfoto: Zdeňka Kuchyňová,  Radio Prague International
Für Jan Kozina ist die Industrie einer der größten Verschmutzer, sicher. Aber was außerdem die einzelnen Haushalte verfeuerten, das sei jenseits von Gut und Böse:

„Es gibt wirklich Leute, die da ihre Abfälle in den Heizkessel werfen und verbrennen - zum Beispiel Joghurtbecher aus Plastik. Und das ist bei den niedrigen Verbrennungstemperaturen eine Chemiebombe. Es gibt hier viele solcher Hausbesitzer. Denen ist es auch egal, wenn der Nachbar sich über die schlechte Luft beklagt. Sie leben in ihrer Mikrowelt, und die Tatsache, dass sie ihre Umwelt und sich selbst vergiften, dass kapieren sie entweder nicht oder es ist ihnen egal. Solchen Leuten ist man einfach ausgeliefert.“

Radim Šrám  (Foto: ČT24)
Der Druck auf sie müsste wesentlich größer sein, meint Kozina in Richtung Politik. Dass die Stadt Ostrau damals gegen die Ergebnisse der Šrám-Studie vorgehen wollte, war für ihn der Impuls, sich zu engagieren.

Im Klassenzimmer brummt es wie ein Dieselgenerator. Es ist laut. Dafür sind die Kinder still. Sie können auch gar nicht anders. Denn in ihre Münder strömt aus einer Tülle unentwegt Dampf. Lauwarme, salzig schmeckende Luft. Sie inhalieren. Friedlich, unaufgeregt und der Prozedur ergeben sitzen die Drittklässler da. Jeder vor seinem Inhalator. Wie in einem Sanatorium. Aber es ist eine Grundschule mit angeschlossenem Kindergarten in Ostrau-Svinov.

Inhalator für Asthmatiker  (Foto: Wikimedia Commons Free Domain)
„Das ist wirklich heftig. Aber wir haben uns schon daran gewöhnt und eine Art Immunität dagegen aufgebaut. Denn unsere Kinder werden kaum krank, sie haben kaum mit Grippewellen zu kämpfen. Irgendetwas tragen wir in uns, was uns schützt“, sagt Dana Kohutová, die Leiterin des Kindergartens.

2002 hat sie ein spezielles Gesundheitsprogramm gegen den Smog entwickelt. Gemeinsam mit den Eltern sucht sie die Kinder aus, die besonders oft unter Asthma und anderen Atemwegserkrankungen leiden. Von Oktober bis Juni wird regelmäßig inhaliert. Im Winter kommt sogar jedes Kind an die Reihe. Täglich 15 Minuten. Zudem sprühen sich die Kinder drei Mal wöchentlich Mineralwasser in die Nase, um die Schleimhäute feucht zu halten. Im Winter sind Ausflüge und Spaziergänge gestrichen, die Fenster geschlossen.



Foto: Phaitoon,  FreeDigitalPhotos.net
„Aber über längere Zeit gesehen wird das mit uns kein gutes Ende nehmen“, sagt Kindergartenleiterin Kohutová und gesteht, dass sie Angst habe.

Und auch die Kinderärztin und fraktionslose Stadträtin Eva Schallerová kritisiert: Die Industrie, der Magistrat, Umweltministerium und Gesundheitsministerium hätten kaum Interesse an einer Lösung. Das habe spätestens der Umgang mit der Šrám-Studie gezeigt.

„Das schrecklichste Paradox meines Lebens ist: Wenn ich pfuschen würde, wenn die Kinder hier reihenweise sterben würden, dann würde ein enormer Druck entstehen.“