Parteienverfall und Kandidatenspitzen

Prager Magistrat

Die Mehrheit der Tageszeitungen schenkt ihre Aufmerksamkeit der Situation in den beiden bislang stärksten tschechischen politischen Parteien, der ODS und der ČSSD. Der Anlass sind die immer noch nicht beendeten Verhandlungen über eine Rathauskoalition in Prag, aber auch der beginnende Kampf um den Posten des Parteichefs der Sozialdemokraten.

Petr Nečas  (Foto: ČTK)
Der Kommentator der Hospodářské noviny Jindřich Šídlo stellt gleich im Titel seines Kommentars die Frage: Haben wir in Tschechien noch Parteien? Das, was in diesen Tagen in Prag geschehe, seien nicht nur ein erfolgreicher Versuch zur Leugnung der Wahlresultate und ein beispielhafter Betrug der Wähler.

In Prag zeige sich die schwere langjährige Deformation der beiden Parteien, die zu wenig Mitglieder hätten und eher einer Sekte ähneln. Šídlo zufolge könne alles binnen weniger Minuten an dem richtigen Tisch mit den richtigen Leuten vereinbart werden. Schuld daran seien unter anderem die wenig sichtbaren Führungen der beiden Parteien, meint der Kommentator.



Bohuslav Sobotka  (Foto: ČTK)
„Der ODS-Chef Nečas sowie der amtierende Parteichef der Sozialdemokraten Sobotka verlieren in diesen Tagen ihre Zukunft. Sie lassen ihre Parteien vor ihren Augen auseinander nehmen, privatisieren und diskreditieren. Sie werden beide nicht morgen fallen. Kann sein, dass sie noch viele Jahre lang an der Spitze der Parteien ausharren. Aber nur aus dem Willen derjenigen, die den beiden Parteichefs schon jetzt ins Gesicht lachen. Ihnen gehören nämlich die Parteien in Wirklichkeit.“

Michal Hašek  (Foto: ČTK)
Wer „sie“ sind, lässt Šídlo offen. Daniel Kaiser kommentiert in der Lidové noviny den beginnenden Kampf um den Posten des Vorsitzenden der Sozialdemokraten, der auf dem Parteitag im März kommenden Jahres gewählt werden soll. Neben den bisherigen Kandidaten, dem amtierenden Chef Sobotka und dem südmährischen Kreishauptmann Hašek habe sich ein klarer Outsider für den Wettbewerb gemeldet, schreibt Kaiser einleitend. Gemeint ist der außenpolitische Experte der ČSSD Lubomír Zaorálek.



Lubomír Zaorálek  (Foto: ČTK)
„Zaorálek macht, auch wenn er bedeutend älter als die beiden anderen Kandidaten ist, einen frischeren Eindruck.(…) Mit seiner radikalen Auffassung von Außenpolitik kann er aber höchstens eine kleine Gruppe linker Intellektueller ansprechen, um die sowieso schon Sobotka wirbt. Wenn die Sozialdemokraten das Parteisteuer wirklich in Richtung Mitte drehen möchten, würde ihnen Parteichef Zaorálek zur Last fallen. Damit will ich aber nicht sagen, dass Zaoráleks Kandidatur dem Wettbewerb um den Parteichefposten nicht nutzen könnte. Im Gegenteil: Es könnte ihm gelingen, die beiden Altjungen wenigstens ein wenig wachzurütteln. Die beiden erinnern in ihrer Bemühung, untereinander eine klare Grenze zu ziehen, an einen kroatischen und einen serbischen Akademiker, die nach dem Zerfall von Jugoslawien zusammentreffen und das Serbokroatische teilen.“