Politologe Jelínek: „Kommunisten müssen enttabuisiert werden“

Foto: Filip Jandourek, Archiv des Tschechischen Rundfunks

Für die vorgezogenen Parlamentswahlen am 25. und 26. Oktober sagen Meinungsumfragen einen deutlichen Sieg der Sozialdemokraten (ČSSD) voraus. Damit stellt sich gleichzeitig die Frage, ob es in Tschechien zum ersten Mal seit 1989 zu einer Regierung kommt, die von der Tolerierung der Kommunisten (KSČM) abhängig ist. Was das für die tschechische Politik und Gesellschaft bedeuten würde – dazu ein Gespräch mit dem (der ČSSD nahestehenden) Politologen Lukáš Jelínek.

Lukáš Jelínek  (Foto: ČT24)
Herr Jelínek, wie wahrscheinlich ist es, dass es zu einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung unter Tolerierung der Kommunistischen Partei kommt?

„Die Umfragen zeigen, dass die linken Parteien - Sozialdemokraten, Kommunisten und eventuell auch die SPOZ-Zemanovci - dieses Mal erheblich stärker aus den Wahlen hervorgehen könnten als jemals zuvor. Möglicherweise werden sie sogar über eine Verfassungsmehrheit im Abgeordnetenhaus verfügen. Für die Sozialdemokraten ist es wegen der großen Unzufriedenheit der Bürger wichtig, ihr Wahlprogramm möglichst problemlos umzusetzen. Dafür bietet sich eine Koalition mit Parteien aus dem linken oder mittleren Spektrum an. Die KSČM ist ein stabiler Teil des Parlaments und ein relativ berechenbarer Partner. Es ist anzunehmen, dass die ČSSD eine Minderheitsregierung unter Tolerierung der KSČM anstreben wird und keine offene Koalition mit den Kommunisten. Denn die hat die ČSSD bereits Mitte der 1990er Jahre ausgeschlossen. Daran wird sich nichts ändern.“

Was würde es für die tschechische Gesellschaft und Politik bedeuten, wenn zum ersten Mal seit 1989 eine Regierung von der Unterstützung der Kommunisten abhängig wäre?

„Es wäre eine ziemlich bedeutende symbolische Veränderung. Die tschechische Gesellschaft reagiert besonders auf das Verhältnis zur kommunistischen Vergangenheit sehr emotional. Viele Menschen haben eine generelle Abscheu vor allem, was an das frühere Regime erinnert. Und andere erinnern sich umgekehrt nostalgisch an dieses Regime. Die KSČM hat sich zwar schon längst von den Vor-Wende-Kommunisten distanziert. Aber viele ihrer ideologischen Akzente sind gleichgeblieben, genauso wie viele der Mitglieder. Das Problem ist, dass die Kommunisten im Abgeordnetenhaus seit langem etwa 20 Prozent der Mandate innehaben. Das heißt, es kommt zu einer Blockade der parlamentarischen Geschäfte, wenn die Kommunisten nicht einbezogen werden. Wenn sich die Sozialdemokraten von den Kommunisten tolerieren lassen würden, könnte dies das eingefahrene politische System ein wenig aus seiner Erstarrung lösen. Die Frage ist, ob den Kommunisten überhaupt daran gelegen ist. Denn auch die tschechischen Kommunisten haben gut das Beispiel Frankreichs vor Augen, wo Francois Mitterand in den 1980er Jahren die Kommunisten in die Regierung holte und damit die Partei praktisch vernichtete. Daher ist die KSČM sehr vorsichtig mit der Übernahme von Verantwortung. Für sie ist es von Vorteil, eine Protest-Partei zu sein.“

Stalin
Wäre es gesund für die KSČM, wenn sie Verantwortung übernehmen müsste?

„Ich glaube, es läge im Interesse der tschechischen Gesellschaft und der KSČM selbst, wenn es zu einer gewissen ‚Zivilisierung’ der Kommunisten kommen würde. Sie haben jetzt schon ein relativ modernes Programm, in manchen Punkten weitaus moderner, grüner und liberaler als das der Sozialdemokraten. Dafür bemüht sich die ČSSD, realitätsnah zu sein, während die Kommunisten gerne Luftschlösser bauen. Ein weiteres Problem ist, dass die KSČM der Öffentlichkeit ein anderes Gesicht präsentiert als ihren Stammwählern. Vor diesen bemüht sie sich, an die Kommunistische Partei von vor 1989 zu erinnern – etwa indem hohe KSČM-Funktionäre Stalin bewundern. Auf der anderen Seite entsteht bei den Kommunisten gerade eine neue, junge Unternehmer-Elite, die kein Bedürfnis nach Nostalgie hat. Wenn sich diese neue Elite durchsetzt, könnte eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten nicht nur für die Sozialdemokratie, sondern auch für andere politische Parteien akzeptabel werden.“

KSČM  (Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Sie sagen, die KSČM hat sich ausreichend distanziert von der stalinistischen Zeit. Gegenüber den eigenen Wählern verhält sie sich aber anders. Welches ist das wahre Gesicht der KSČM? Ist sie wirklich eine normale demokratische Partei?

„Das wird sich erst in jenem Moment zeigen, in dem die KSČM als vollwertige politische Partei in Erscheinung tritt. Die Kommunisten brüsten sich vor ihren Wählern damit, dass sie nicht in Korruptionsaffären verwickelt sind. Das ist meines Erachtens allein deshalb der Fall, weil sie nicht an der Regierung beteiligt sind. Hinsichtlich ihrer Arbeit im Abgeordnetenhaus sind die Kommunisten tatsächlich eine ziemlich normale demokratische Partei. Das Problem ist, dass ihnen häufig ihre Ideologie wichtiger ist als ihre Arbeit im Parlament. Aber die kommunistischen Stammwähler, die von dieser Ideologie abhängig sind, werden immer älter. Und daher bemühen sich die jetzigen Eliten, Wähler aus anderen Schichten und politischen Parteien anzuziehen. Schon heute gibt es unter den kommunistischen Funktionären erfolgreiche Rechtsanwälte, Unternehmer und Akademiker. Allein das könnte schon eine Garantie dafür sein, dass die KSČM sich nicht bemühen wird, das Vorgänger-Regime in irgendeiner Weise zu rehabilitieren. Dennoch tut sie dies gegenüber ihren Stammwählern. Aber in meinen Augen ist das Problem mit den Kommunisten eher ein ethisches und ästhetisches als ein sachliches.“

Robert Fico  (Foto: Xmetov,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Sie haben keine Angst vor einer eventuellen Koalition zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten?

„Ich glaube, eines Tages muss es so oder so zu einer Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten kommen. Die Tschechen hatten nicht das Glück wie andere postkommunistische Länder, dass sich die Kommunisten in Sozialdemokraten transformiert haben und zur führenden Kraft in der Gesellschaft geworden sind. Auch ist es bei uns nicht gelungen, die Kommunisten in den Hintergrund zu drängen, so wie dies etwa Robert Fico in der Slowakei gelungen ist. Dessen Partei Smer hat die große Mehrheit der linken Wähler hinter sich und kann ohne die Unterstützung der Kommunisten regieren. Das wird es in Tschechien nie geben. Hier wird sich ein Teil der Wähler immer zu den Kommunisten hingezogen fühlen. Und jetzt kommt es darauf an, welches Verhältnis die Sozialdemokraten zu den Kommunisten finden werden. Sollte es ihnen gelingen, die KSČM in die Regierungsverantwortung zu nehmen, könnte dies die Kommunisten deutlich schwächen. Es würde sich zeigen, dass sie auch nicht anders, sauberer und idealistischer sind als die übrigen Parteien.“

Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks
Wie erklären Sie sich, dass viele Tschechen heute gegenüber den Wahlen gleichgültig eingestellt sind?

„Ich habe den Eindruck, dass die Tschechen schon derart vom Niveau der Politik als solcher enttäuscht sind, dass sie gar nicht mehr groß zwischen den einzelnen Parteien unterscheiden. Die Angst vor der Kommunistischen Partei kommt vor allem aus Prag und den weiteren prosperierenden Regionen. In den sozial schwächeren Regionen wie etwa den früheren Sudetengebieten haben die Kommunisten großen Rückhalt und gewinnen sogar Wahlen. Ein Arbeitsloser oder Fabrikarbeiter in Nordböhmen oder Nordmähren erblickt in einer gestärkten KSČM eher Hoffnung. Diese Spaltung der tschechischen Gesellschaft zieht sich schon über mehrere Legislaturperioden hin. Wähler aus den Großstädten sind sehr empfänglich für anti-kommunistische Warnrufe, besonders direkt vor den Wahlen. Und eine andere, sozialschwache Gruppe sieht in radikalen linken Strömungen umgekehrt die Rettung. So gesehen ist es ein Erfolg, dass die Sozialdemokraten gleichmäßig über ganz Tschechien verteilt Stimmen holen. Andernfalls würden sich die Konflikte und politischen Gräben noch weiter vertiefen.“