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2) Vyšehrad: Die Hohe Burg auf dem Fels über der Moldau

Blick von Vyšehrad (Foto: Irina Rutschkina)

Die Silhouette von Prag wird seit Jahrhunderten von ihrer Burg und dem Veitsdom geprägt. Doch was manche nicht wissen: Neben diesen Bauten gibt es noch ein zweites Burggelände. Es soll einer alten Legende nach der Sitz der ersten Herrscher hierzulande gewesen sein – vor allem der sagenhaften Fürstin Libussa (Libuše), der Stammmutter der Tschechen. Es ist der Vyšehrad / Wyschehrad, auch „Hohe Burg“ genannt. Wir machen uns nun im zweiten Teil unserer Serie über „Prager Denkmäler mit Geschichte(n)“ auf die historischen Spuren dieses Gemäuers.

Wahrzeichen Prags, umrankt von Mythen und Legenden

Vyšehrad  (Foto: ŠJů,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0)

Der Vyšehrad ist noch heute eines der wichtigsten Wahrzeichen Prags, obwohl er bei Touristen nicht dieselbe Beachtung genießt wie die Prager Burg oder die Karlsbrücke. Für die Tschechen ist es jedoch ein Ort, um den sich etliche Legenden und Mythen ranken. In ganz Prag gibt es wahrscheinlich keinen anderen Ort, mit dem so viel nationaler Aberglauben in Verbindung gebracht wird. Nicht wenige Menschen denken, dass hier tschechische Geschichte geschrieben wurde. Und Historiker und Archäologen diskutieren ständig darüber, ob der Vyšehrad nicht älter ist als die Prager Burg, die als Symbol der königlichen Macht wahrgenommen wird. Petr Kučera ist Direktor des Vyšehrad-Museums. Er kennt die Geschichte des Ortes und weiß Bescheid über die neuesten Erkenntnisse von Archäologen:

Petr Kučera  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)

„Die ältesten historischen Funde vom Vyšehrad sind um einige tausend Jahre früher anzusiedeln als jene von der Prager Burg. Allerdings ist sozusagen die ‚neuere‘ Baugeschichte, die bis ins Mittelalter zurückreicht, um hundert Jahre jünger. Wir wissen jedoch, dass der Vyšehrad schon lange vor dem Hradschin besiedelt war, obwohl wir keine Ahnung haben, welche Funktion diese Siedlung hatte. Auf jeden Fall aber gab es ab dem 10. Jahrhundert zwei Burgen hier an der Moldau. Zwischen ihnen entstanden Siedlungen, aus denen sich im Laufe der Zeit Prags heutige Stadtteile herausgebildet haben. Die allererste Bezeichnung von Prag war ‚Zwischen den Burgen‘, was eben der Lage der Stadt entsprach."

Julius Mařák: Vyšehrad  (Foto: Archiv der Verwaltung der Prager Burg)

Anfangs war die Stellung beider Burgen nahezu ebenbürtig, doch im Laufe der Zeit änderte sich ihre Bedeutung. In welcher Epoche hatte also der Vyšehrad seine größte Blüte? Und wie hat sich der Status der Hohen Burg im Laufe der Jahrhunderte entwickelt?

Vyšehrad um 1420  (Quelle: Wikimedia Commons,  CC0)
Vratislav II.  (Foto: CC0)

„Die Geschichte des Vyšehrad ist lang, kompliziert, und seine Stellung hat sich im Laufe der Jahrhunderte erheblich verändert. Seine berühmteste Zeit war ziemlich kurz und lag während der Herrschaft des ersten gekrönten böhmischen Königs Vratislav II. Dieser machte die Hohe Burg um 1070 zu seiner neuen Residenz und baute sie in monumentaler Weise um. Später wurde er auch hier begraben. Anstelle des alten Fürstenhofs ließ Vratislav II. eine königliche Burganlage schaffen und das Königliche Kollegiatkapitel mit der Peter-und-Paul-Kirche, das sich schnell zu einem wichtigen Bildungszentrum entwickelte. Vermutlich war der Vyšehrad aber nur relativ kurze Zeit etwas bedeutender als die Prager Burg – und danach nie mehr wieder. Doch häufig wird auf diese Zeit verwiesen, die mit dem ersten böhmischen König verknüpft ist.“

Aus der sogenannten Cosmas-Chronik ist bekannt, dass am 30. Juli 1119 ein Tornado durch Prag fegte. Er traf besonders die Südseite der Hohen Burg. Die Beschreibung des Unwetters ist zugleich die älteste Erwähnung eines Tornados in den böhmischen Ländern. Bei dieser Naturkatastrophe starben mindestens 900 Menschen, und viele Gebäude auf dem felsigen Burghügel wurden zerstört. Obwohl ein großer Teil der Gebäude recht schnell repariert wurde, nahm die Bedeutung des Vyšehrad in der Folge weiter ab. Der größte Teil des gesellschaftlichen Lebens spielte sich nun auf der Prager Burg und in der Altstadt ab. Im 14. Jahrhundert begann sich die Lage jedoch zu ändern:

Karl IV.  (Quelle:  Romae: Apud Vincentium Accoltum,  Flickr,  CC0)

„Damals war Karl IV. böhmischer König und römischer Kaiser. Er ließ die Prager Burg zu seinem modernen Herrschersitz umbauen, zugleich wurde aber auch der Vyšehrad merklich ausgebaut. Allerdings wollte Karl IV. die Hohe Burg nicht als Zweitsitz nutzen, sondern dort sollte der Königsweg beginnen. Der Herrscher machte den alten Burghügel zu einer Art Monument seiner Vorfahren. Darüber hinaus war er von militärischer Bedeutung, von hier sollte der südliche Teil Prags überwacht werden. Nach dem Dreißigjährigen Krieg sollte hier sogar eine Zitadelle entstehen, sie wurde jedoch nie fertiggestellt. Sie erfüllte auch nie ihren Zweck, sondern wurde zweimal vom Feind erobert.“

Angliederung an Prag als nationaler mythischer Felsen

Prag-Vyšehrad  (Foto: ŠJů,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0)

In den folgenden Jahrhunderten stand der Vyšehrad erneut „im Schatten“ des Hradschin, und die Hauptadern des gesellschaftlichen Lebens flossen an ihm vorbei. Vom 15. bis 19. Jahrhundert waren der Vyšehrad und seine Vorburg eine eigene Stadt. Erst 1883 wurde diese Gegend offiziell an Prag angegliedert, als sich die Lage wieder zu ändern begann:

Mikuláš Karlach  (Foto: Kristýna Maková / Praha křížem krážem)

„Der Vyšehrad gewann im 19. Jahrhundert wieder an Bedeutung, unter den sehr patriotisch eingestellten Propsten Mikuláš Karlach und Václav Svatopluk Štulc. Sie nährten den Mythos vom Vyšehrad als mythischem tschechischem Felsen. In dieser Zeit entstand hier auch ein nationaler Heldenfriedhof. Viele neue Gebäude wurden im romantisierenden Stil gebaut. Dies sollte die nationale Symbolik des Vyšehrad noch betonen.“

Josef Mathauser: Fürstin Libussa prophezeit auf dem Vyšehrad-Felsen die Herrlichkeit von Prag  (Quelle: Wikimedia Commons,  CC0)

Die Prager Burg war stets ein Symbol für die Ausübung der Macht, der kirchlichen wie der weltlichen. Und sie ist es bis heute. Ihr Pendant, die Hohe Burg, ist eher ein gewisses Memento an die Geschichte, das menschliche Gedächtnis und den nationalen Aberglauben. In der Zeit vor dem 10. Jahrhundert, die in Mythen und Legenden beschrieben wird, war der Vyšehrad unter Umständen ein wichtigeres gesellschaftliches Zentrum als der Hradschin. Doch gibt es keine archäologischen Funde, die dies belegen können. Und so ist für einen ziemlich langen Zeitraum nicht bekannt, was sich auf dem Vyšehrad zugetragen hat:

Auf dem Vyšehrad wurde bisher relativ wenig gegraben,  nur auf 17 Prozent der Flächer  (Foto: Archiv des staatlichen Denkmalschutzamtes)

„Allerdings denke ich, dass sich hier noch viele Dinge finden lassen, die eine Reihe von Fragen beantworten. Auf dem Vyšehrad wurde bisher relativ wenig gegraben, nur auf 17 Prozent der Fläche. Demgegenüber ist der Hradschin bereits zu 80 Prozent erkundet. Auf der Hohen Burg schlummert also wirklich noch das Potenzial, dass sie noch mehr über sich erzählen kann.“

Blick von Vyšehrad  (Foto: Irina Rutschkina)

Der Vyšehrad steht bis heute etwas am Rande des pulsierenden Lebens der Moldaumetropole. Zum Teil auch deshalb, weil die historische Stätte abseits der einschlägigen Touristenrouten und weiterer Sehenswürdigkeiten liegt. Nach Aussage von Petr Kučera gehen die Touristen oft nur einmal über das Gelände, machen ein paar Selfies und eilen dann weiter. Dabei ist der Vyšehrad eine verblüffende Symbiose aus Park und Kulturdenkmälern und verdient sicher mehr Zeit und Aufmerksamkeit:

Karlach-Park  (Foto: Another Believer,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0)

„Es ist ein vielschichtiger Ort und, wenn man so will, auch ein markantes Landschaftsgebilde: Am Ende der Pankrác-Ebene ragt der Vyšehrad als Felsvorsprung hoch über der Moldau empor, so wie ein Eisbrecher, der sich von Süden auf den Prager Talkessel zubewegt. Auf der einen Seite wird er von der Moldau und auf der anderen vom kleinen Botič-Bach begrenzt. Und an diesem landschaftlich beeindruckenden Ort, der in sich geschlossen und klein ist, haben sich im Laufe der Jahrhunderte mehrere Siedlungsschichten angehäuft. Der Vyšehrad ist daher die Summe von all diesem. Es sind Schichten aus dem Mittelalter und der Neuzeit dabei, genauso wie ein Park und eine Prise von nationalem Pathos. Des Weiteren ist es ein sehr naturbelassener Ort, an dem man auch relativ seltene Pflanzen und Tiere antrifft. Zudem wohnen hier etwa 40 Menschen, dazu hat sich eine Reihe von Institutionen niedergelassen. Man trifft also auch auf verschiedenste Mentalitäten. Deshalb sage ich oft: Der Vyšehrad ist Denkmal, Park und Dorf in einem.“

Denkmal, Dorf und Park in einem

Stiftkirche St. Peter und Paul  (Foto: Štěpánka Budková)

Jene, die für mindestens einen halben Tag hier herkommen, werden definitiv nicht enttäuscht sein. Neben dem Nationalfriedhof findet man auch die Stiftkirche St. Peter und Paul sowie die St.-Martins-Rotunde. Man kann aber noch viele weitere interessante Orte besuchen, wie die unterirdischen Kasematten, das Sommeramphitheater, das Burggrafenhaus oder die Überreste einer gotischen Festung. Eine weitere Attraktion des Vyšehrad ist geologischer Art:

Teufelssteine  (Foto: Kristýna Maková / Praha křížem krážem)

„Neben Statuen gibt es hier verschiedene mehr oder weniger mysteriöse Steine. Am populärsten sind sicherlich die sogenannten Teufelssteine (oder auch die Devil's Columns) – sie befinden sich direkt hinter der Basilika an der Hauptkreuzung. Es gibt viele Theorien darüber, woher diese Steine kommen. Eine der bekanntesten ist sicherlich die Legende über einen hiesigen Priester, der mit dem Teufel eine Wette eingegangen ist. Es ging darum, dass der Teufel es nicht schaffen werde, bis zum Ende der Nachtmesse eine Säule aus der ältesten Marienkirche Roms, der Santa Maria in Trastevere, zum Vyšehrad zu bringen. Also begann der Priester die Messe zu lesen, der Teufel flog nach Rom, riss die Säule heraus und machte sich auf den Rückweg. Der heilige Petrus – zusammen mit dem heiligen Paulus ist er der Schutzpatron der hiesigen Kirche – verhinderte jedoch die Rückkehr des Teufels. Er verlangsamte dessen Flug und schlug ihn dreimal in den venezianischen Lagunen nieder. Der Teufel kam dadurch zu spät, worauf er vor Wut die Säule durch das Dach der Basilika warf, woran bis heute eine Malerei in der Basilika erinnert. Es gibt aber noch mehr Legenden über die Herkunft dieser Steine, zum Beispiel, dass es sich um die Überreste eines heidnischen Hains handele, der sich unterhalb des Vyšehrad befunden habe. Oder dass sie Überreste eines Sonnenkalenders seien, was aber Unsinn ist, da die Slawen nichts dergleichen besaßen. Sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass es sich um Fragmente von zwei bis drei Säulen einiger ehemaliger Gebäude hier oben handelt. Denn früher standen auf dem Gelände noch mehr Kirchen, und die Bauten auf dem Vyšehrad sind mehrmals vollständig zerstört worden.“

Wappen des Vyšehrader Kollegiatkapitels  (Foto: Miaow Miaow,  Wikimedia Commons,  CC0)

In diesem Jahr wird auf dem Vyšehrad ein wichtiges Jubiläum begangen: Das Königliche Kollegiatkapitel der Peter-und-Paul-Kirche wurde vor 950 Jahren von König Vratislav II. gegründet. Der Grund dafür war ein Streit zwischen dem Monarchen und seinem jüngeren Bruder, dem Prager Bischof Jaromír. Um sich von seinem Bruder zu distanzieren, mit dem er um Macht und Einfluss kämpfte, verlegte Vratislav II. seine Residenz auf die Hohe Burg. Dort gründete er das Kollegiatkapitel. Das heißt, es war Rom direkt untergeordnet und nicht etwa einem böhmischen Bischof oder Erzbischof. Dies dauerte bis in die Zeit von Maria Theresia. Daher wurde die Hauptkirche auch den Heiligen Peter und Paul geweiht, und genauso wie die Päpstliche Basilika stand die Stiftkirche unter dem Wappenemblem des Heiligen Stuhls: den Schlüsseln Petri und der dreikronigen Tiara. Das Kapitel ermöglichte den böhmischen Herrschern auch den direkten Kontakt mit Rom. Es ist zugleich die zweitälteste Institution im heutigen Tschechien und hat alle Umwälzungen auf dem Vyšehrad überdauert.

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Autoren: Lothar Martin , Irina Rutschkina
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