Die unvollendete Kirche auf dem Vyšehrad

Foto: Archiv des staatlichen Denkmalschutzamtes

Der Vyšehrad ist einer der bekanntesten frühmittelalterlichen Burgwälle in Böhmen. In der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts wurde auf dem Felsen südlich der Prager Burg eine zweite Burg der Přemysliden angelegt. 1070 verlegte Fürst Vratislav II. sogar seine Residenz vom Hradschin dorthin. Doch bereits zuvor, zwischen den Jahren 950 und 1050, wurde auf dem Hügel an einem ambitionierten Gotteshaus gebaut. Wer war damals der Auftraggeber? Und was stand der Fertigstellung der Kirche im Weg? Die Antworten darauf sind bis heute ein Geheimnis.

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Ladislav Varadzin  (Foto: Marián Vojtek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Die Grabungen auf dem Vyšehrad laufen seit beinahe 100 Jahren. 2011 berichteten Archäologen über den ersten Fund einer bis dahin unbekannten Kirche. Eine weitere Entdeckung schloss sich 2014 an. Man sei auf eine der größten Kirchen Mitteleuropas aus dem frühen Mittelalter gestoßen, hieß es damals. Die Forschung vor Ort lief bis 2018, seitdem haben Experten die Funde ausgewertet. Die Ergebnisse der Forschung werden nun in einem Buch zusammengefasst. Ladislav Varadzin ist Archäologe bei der Akademie der Wissenschaften:

„Stellen sie sich einen quadratischen Grundriss vor, an den sich auf der Nord-, Ost- und Südseite halbrunde Nischen anschließen. Solche Kirchen wurden etwa um das Jahr 1000 gebaut. Für das Gebiet Tschechiens handelt es sich um einen sehr ungewöhnlichen Typ eines Gotteshauses, dieser ist eher im Ausland belegt, im Donaugebiet des heutigen Ungarn oder in Frankreich. Die größte Zahl solcher Bauten findet man aber an der Adria. Wir nehmen an, dass die Dreiapsidenkirche auf dem Vyšehrad die Kontakte Böhmens zu anderen Regionen belegt. Zudem war dieses zentrale Kirchengebäude wegen seiner Größe einzigartig. Mit seinen 300 Quadratmetern nahm es eine Spitzenposition auf dem Gebiet der westlichen Slawen ein.“

Foto: Archiv des staatlichen Denkmalschutzamtes
Die Grundfläche der Kirche ist etwa 40 Prozent größer als die der Sankt-Veits-Rotunde auf der Prager Burg. Doch schriftliche Belege über den Bau und dessen Auftraggeber wurden bisher nicht gefunden. Laut Experten muss die Initiative zweifelsohne von einem der böhmischen Herrscher gekommen sein:

„Es wurden nur die Fundamente angelegt und mit einer Mörtelschicht konserviert, um später weitermachen zu können. Unsere Forschung hat aber gezeigt, dass der Bau nie fortgesetzt wurde. Das ist zwar eine traurige Feststellung, aus historischer Sicht ist sie aber auch sehr interessant. Die Pläne zeigen die großen Ambitionen des Bauherrn. In Folge von gewissen Ereignissen, von denen wir nichts wissen, wurde das Projekt gestoppt. Der Herrscher, der den Bau in Auftrag gegeben hatte, muss seine Meinung aus irgendeinem Grund geändert haben. Vielleicht ist dieser Herrscher auch gestorben und wurde von jemandem abgelöst, der den Bau nicht mehr fortsetzen wollte. Der Abbruch der Bautätigkeit verweist auf eine unbekannte Begebenheit aus den Anfängen des böhmischen Staates.“

Foto: Archiv des staatlichen Denkmalschutzamtes
Das Machtzentrum des böhmischen Staates war in jener Zeit die Prager Burg. Warum das einzigartige Gotteshaus nicht dort, sondern auf dem Vyšehrad entstehen sollte, ist unklar. Aber es handelt es sich um einen Beweis, dass die Burgstätte um das Jahr 1000 bereits eine wichtige Rolle gespielt hat. Ihre Bedeutung wird auch durch die Entdeckung einer Goldschmiede-Werkstatt belegt. Alte Kisten mit Tonscherben führten die Experten dorthin. Die archäologischen Ausgrabungen auf dem Vyšehrad laufen nämlich seit 1924. Ladislav Varadzin:

„Die alten Fundstücke sind viele Jahrzehnte lang nicht ausgewertet worden. Das hat erst unser Team getan. Wir haben in den halbverfaulten Kisten Tonscherben gefunden, die einen Kontakt mit großer Hitze aufweisen, in der Edelmetalle verarbeitet wurden. Diese Metalle sind auch an der Oberfläche der Scherben nachweisbar. Es handelt sich vor allem um Silber, aber auch um Gold und weitere Metalle.“

Die Archäologen haben eine Stelle gefunden, von der die meisten Scherben-Fundstücke stammen. Dort wurden archäologische Grabungen durchgeführt:

„Etwa zwei Meter unter der heutigen Erdoberfläche haben wir Überreste der Werkstatt gefunden. Wir haben dort Öfen entdeckt, in denen die Metalle bearbeitet wurden. Und wir sind auf kleine Goldstücke gestoßen und weitere Scherben mit Partikeln von Silber und anderen Edelmetallen. Interessant ist, dass auch diese aus der Zeit um 1000 stammen. Diese beiden sehr wichtigen Funde – die Kirche und die Verarbeitung von Edelmetallen – belegen, dass der Vyšehrad bereits in dieser Zeit eine außerordentliche Stellung hatte.“