„Prager Schule“ – tschechische Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit mit Weltrang
Wie sind Sprachen aufgebaut? Gibt es Gemeinsamkeiten in ihrer Grundstruktur, und wie funktionieren sie in den vielfältigen Sprachprozessen? Über diese und viele andere Fragen zerbrechen sich seit geraumer Zeit Linguisten vieler Länder den Kopf. Einige der hierzu entstandenen Fachtheorien, auch Sprachschulen genannt, haben die Wahrnehmung und Deutung der Sprache besonders beeinflusst. Zu diesen gehörte in der Zwischenkriegszeit auch der so genannte „Prager Linguistenkreis“, im Ausland unter dem Namen „Prager linguistische Schule“ oder kurz „Prager Schule“ bekannt. Im Folgenden mehr über die Bedeutung dieses Kreises.
„In dem Kreis vereinte Mathesius eine Gruppe von Persönlichkeiten, die ebenso wie er am Studium der modernen Sprachen interessiert waren. Die anfangs kleine Gruppe wuchs im Lauf der Zeit zu einer Gemeinschaft, die über eine Mitgliederbasis von Dutzenden führenden Philologen, Linguisten und Literaten verfügte. Unter ihnen waren auch in Prag lebende Deutsche, vor allem aber Russen und Ukrainer - mit Roman Jakobson und Nikolai Trubeckoy an der Spitze. Die Letzteren brachten die Erkenntnisse der international anerkannten Schulen in Moskau und Kasan ein. Die Gruppe formulierte grundlegende Thesen über den so genannten Strukturalismus in der Sprach- und Literaturwissenschaft, die heutzutage Allgemeingut der Linguistik sind und kaum noch als strukturalistisch bezeichnet werden. Außerdem etablierte sich die Prager Schule als eine kulturelle Plattform im wahrsten Sinne des Wortes: Sie gab Zeugnis der außergewöhnlichen intellektuellen Aktivitäten in der Ersten Tschechoslowakischen Republik.“
Der PLK präsentierte sich zum ersten Mal öffentlich im Jahr 1928 beim ersten Internationalen Linguisten-Kongress in Den Haag. Dort einigten sich die Prager Sprachwissenschaftler auf die Zusammenarbeit mit ihren ähnlich denkenden Kollegen aus Genf. Bei weiteren Konferenzen, die in den nachfolgenden Jahren eben zum Beispiel in Genf, aber auch in Amsterdam oder London stattfanden, widmeten die ausländischen Experten den Vorträgen und Studien der Prager immer stärkere Aufmerksamkeit. In Fachkreisen begann man weltweit von der „Prager strukturalistischen Schule“ zu sprechen.Einen bedeutenden Anteil hatte daran der Russe Roman Jakobson, er war als Dolmetscher für eine Delegation des sowjetischen Roten Kreuzes in die Tschechoslowakei gekommen.
„Roman Jakobson ist bekannt als einer der renommiertesten Philologen des 20. Jahrhunderts, er hat sich von Beginn seiner Berufslaufbahn an für die menschliche Sprache im weitesten Sinne interessiert. Hierzu gehörten zum Beispiel die Dialekte, die Literaturen verschiedener Völker oder auch die Folklore. Jakobson kam Anfang der 1920er Jahre nach Prag und wurde bald zum Mitgründer des Prager linguistischen Kreises. Schaut man sich die detaillierten Arbeitsprogramme der Gruppe an, findet man unzählige Verweise auf seine Ideen und auf all die Kontakte, die er im Osten, noch mehr aber im Westen unterhielt. Jakobson besaß ein geniales Sprachtalent. Schon wenige Jahre nach seiner Ankunft in Prag verfasste er seine Texte in einem einwandfreien, wenn auch ein bisschen archaischen Tschechisch“, so Professor Jan Čermák.
In den 1930er Jahren galt die Prager Schule bereits als einflussreiche Plattform von internationalem Rang. Ihre Tätigkeit war aber aufgefächert. Ein Strang, geleitet von Roman Jakobson und seinem Landsmann und früheren Professor an der Wiener Universität, Nikolai Trubeckoy, befasste sich mit den allgemein gültigen Segmenten eines Sprachsystems. Ein anderer, repräsentiert von Bohumil Havránek und Vilém Mathesius, richtete den Fokus auf das Beziehungsgefüge innerhalb eines Sprachsystems. Der literaturtheoretische Ableger wurde wiederum von Experten mit Jan Mukařovský an der Spitze geleitet, sie hatten in bestimmtem Umfang sogar Einfluss auf das literarische Schaffen einschließlich der Lyrik.Die Prager Schule als solche beschäftigte sich auch speziell mit der tschechischen Schriftsprache und der Sprachkultur. In den 1930er Jahre begann man unter anderem, angesehene Fachzeitschriften für moderne Philologie herauszugeben; in diese verlegerische Tätigkeit waren auch die Universitäten in Prag und Brno / Brünn einbezogen. 1968 erinnerte sich Roman Jakobson an die fruchtbarste Ära der Prager Schule, und das in einem breiteren Kontext:
„Die 1920er und 1930er Jahre waren eine Zeit des großen wissenschaftlichen und künstlerischen Umschwungs hierzulande. Das Postulat bei der Gründung der Tschechoslowakei, dass ein Land offener Türen für das internationale Kulturgeschehen entstehen sollte, wurde in hohem Maße umgesetzt. Die tschechische Avantgarde rezipierte nicht nur die neuesten internationalen Impulse, Entdeckungen oder Herausforderungen in der Wissenschaft, Literatur und Kunst, sondern sie schuf diese auch selbst. So wurde ein bedeutender Beitrag zur schöpferischen Entwicklung in Europa und der Welt geleistet.“Zu Ende der 1930er Jahre, und dann endgültig mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, veränderte sich auch die Lage für die Mitglieder der Prager Schule. Jan Čermák:
„Roman Jakobson hatte - im Unterschied zu einigen seiner Landsleute, denen ein tragisches Schicksal im stalinistischen Regime beschieden war – seine russische Heimat rechtzeitig verlassen. Nun musste er unter dem Druck der politischen Umstände in Europa gegen Ende der 1930er Jahre auch aus unserem Land weg. Aber auch diesmal hatte er Glück: Über Skandinavien konnte er, zum Teil auch mithilfe ausländischer Linguisten, in die USA fliehen. Dort war ihm eine schillernde und höchst bedeutende akademische Karriere beschieden.“In den USA begründete Jakobson die so genannte Harvard-Schule, die an ihre Prager Vorgängerin anknüpfte. Hierzulande setzte sich nach dem Krieg aufgrund des Regimewechsels die marxistische Sprachwissenschaft durch. Nach dem Machtantritt der tschechoslowakischen Kommunisten 1948 wurden bald kritische Stimmen aus der Sowjetunion über den Strukturalismus laut. Letztlich wurde diese mittlerweile in der UdSSR verfemte Richtung auch hierzulande verboten. Ein Teil derer, die noch kurz zuvor überzeugte Verfechter der Denkrichtung gewesen waren, gaben dem politischen Druck nach. Und nicht nur der sprachwissenschaftliche Strukturalismus fiel in Ungnade. Ebenso einzelne Fächer wie zum Beispiel die Anglistik, sagt Jan Čermák:
„Von da an war die Anglistik bis 1989 ein politisch streng verfolgtes Studienfach. Eine ganze Zeitlang war es kein autonomes Fachgebiet mehr. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls für Anglistik, die im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Betätigung internationale Kontakte knüpfen wollten, um die Ideen der Prager Schule weiterzuentwickeln, hatten eine erschwerte Lage. Manche gingen in die Emigration oder zogen sich auf weniger exponierte Posten zurück. Es fehlte ein normales akademisches Leben, das auf der Freizügigkeit von Personen und dem freien Gedankenaustausch begründet gewesen wäre. Nach dem Wendejahr 1989 bemühte man sich dann sehr um eine schnelle Auseinandersetzung mit den Folgen der vorherigen negativen Entwicklung. Im Bereich der englischen Linguistik haben wir aber immer noch einen großen Nachholbedarf.“Čermáks Worte lassen sich durch die Erinnerungen der emeritierten Professorin Libuše Dušková ergänzen. Von 1949 bis 1953 hatte sie Englisch an der Prager Karlsuniversität studiert. Gerne hätte sie dort nach dem Abschluss unterrichtet, doch das wurde ihr erst 1985 erlaubt. Damals brauchte sie für ihre Arbeit mit Jugendlichen auch die Zustimmung der zuständigen sogenannten Straßengruppe der kommunistischen Partei. An ihre Hochschullehrer erinnert sich die angesehene Autorin einer ganzen Reihe von Lehrbüchern und sprachwissenschaftlichen Englisch-Studien mit Hochachtung:„In allen Fächern hatten wir die bestmöglichen Sprach- und Anglistikexperten. Sie alle waren Schüler von Professor Mathesius und Mitglieder der Prager linguistischen Schule. Eine bessere Ausbildung hätten wir damals nicht erhalten können. Sie sprachen sehr gut Englisch. Zum Beispiel Professor Vachek lebte einige Jahre in den USA, wo er Vorträge hielt und Bücher über den Prager Linguistischen Kreis verfasste. Das waren Pädagogen, die ihre Fachkenntnisse in der Vorkriegszeit erlangt hatten. Im Unterschied zu unserer Generation hatten sie noch im Westen studieren können, sodass Englisch für sie keine exotische Sprache war. Wir - die damaligen Studierenden - waren wesentlich schlechter dran. Mit gesprochenem Englisch sind wir nur durch einen einzigen Lektor in Kontakt gekommen, ansonsten bestenfalls durch Kinofilme oder mittels englischsprachiger Radioprogramme.“
1990 konnte der PLK offiziell sozusagen erneut aus der Taufe gehoben werden. Als greifbares Resultat seiner Versuche, an die umfangreiche Tätigkeit der tschechischen Sprachforschung in der Vorkriegszeit anzuknüpfen, gilt auch das Buch „Der Prager Linguistenkreis in Dokumenten“ von 2012. Einer der drei Herausgeber des fast 800 Seiten starken Bandes war Jan Čermák.