Schmuggel im Cabrio: Plakate aus Prag 1968
Eine Sammlung von historischen Plakaten weckt heute Erinnerungen an ihre Reise nach Prag im August 1968: Robert F. Marten und Eberhard Haas waren damals Medizin-Studenten in Heidelberg. Die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August löste bei ihnen ein Solidaritätsgefühl aus. Mehr hören Sie im folgenden Gespräch mit Robert Marten.
Herr Marten, Sie haben in den 1960er Jahren Medizin in Heidelberg studiert. Westeuropa und die Studenten dort haben damals eine stürmische Zeit erlebt. Was haben Sie von der Entwicklung in der Tschechoslowakei, also einem Land hinter dem Eisernen Vorhang, mitbekommen?
„Sehr viel. Ich glaube sogar, dass man generell in den westlichen Ländern, zumindest in den Anrainerstaaten Österreich und Deutschland, aber auch in Skandinavien, sehr stark Anteil genommen hat. Wir waren glühende Verehrer von Dubček, Černík und Smrkovský (führende Reformkommunisten in der Tschechoslowakei, Anm. d. Red.) und haben das von Anfang bis Ende mitverfolgt. Dabei hatten wir auch immer Angst hatten, dass das schnell zu Ende gehen könnte, ähnlich wie in Ungarn 1956. Nach dem Einmarsch rechneten wir sogar damit, dass eine kriegerische Auseinandersetzung losbricht. Gottseidank ist es nicht so weit gekommen. Aber trotzdem war das für uns Anlass zu sagen, dass es gut wäre, wenn wir uns irgendwie solidarisch zeigen könnten.“
„Nach dem Einmarsch rechneten wir sogar damit, dass es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommen würde.“
Was hat der Prager Frühling für Sie bedeutet?
„Aus unserer Sicht hielten wir es für möglich, vielleicht einen dritten Weg zwischen dem kommunistischen System und dem westlichen Kapitalismus zu finden. Vielleicht hätte man einen neuen politischen Weg gehen und den Sozialismus tatsächlich anders begründen können.“Dieser „Dritte Weg“ endete am 21. August mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei. Sie haben das bereits angesprochen: Sie haben sich solidarisch gefühlt und wollten auch konkret helfen. Was haben Sie unternommen?
„Wir haben in der Klinik, in der wir gearbeitet haben, um Urlaub gebeten und haben diesen auch sofort erhalten. Wir haben einen großen Medizinkorb gefüllt, mit Blutersatzflüssigkeit, Medikamenten und Verbandsmaterial. Wir waren selbst Sanitäter und wollten eventuell hilfreich tätig werden. Ich persönlich hatte noch die Auffassung, dass wir Deutsche den Tschechen nach den Verbrechen, die die Deutschen in der Tschechoslowakei begangen hatten, etwas ‚schuldig sind‘. Irgendwie war es für mich ein Stück Wiedergutmachung.“
Wann haben Sie sich auf den Weg in die Tschechoslowakei gemacht? Wie sind Sie über die Grenze gekommen?
„Vor der Grenze war eine riesige Menschenmenge, aber es hieß, niemand dürfe hinein, die Grenze sei abgeriegelt.“
„Wir sind relativ spät, erst am 25. August, einem Sonntag, losgefahren. Am nächsten Morgan kamen wir in Furth im Wald an. Dort war eine riesige Menschenmenge vor der Grenze, aber es hieß, niemand dürfe hinein, die Grenze sei abgeriegelt. Wir haben uns durchgedrängelt, wurden aber von den Grenzsoldaten sofort zurückgewiesen. Dann habe ich gesagt, dass wir Mediziner seien, und sie möchten doch bitte ihren Oberst holen. Der Chef der Grenzpolizei kam auch. Er war von unserem Vorhaben angetan und sagte, wir dürften durch. Allerdings brauchten wir Visa. Dazu benötigt man auch Fotos, und die hatten wir nicht. Es waren viele Presseleute da, sie haben schnell Fotografien von uns angefertigt und diese entwickelt. Dann haben wir die Unterlagen ausgefüllt und durften tatsächlich einreisen.“Wie sind Sie weiter vorangekommen?
„Die Fahrt war für uns nicht einfach, weil die Straßenschilder entfernt worden oder falsch ausgerichtet waren (Damit sollten die Truppen des Warschauer Paktes verwirrt werden, Anm. d. Red.). Das haben wir schnell gemerkt. Wir sind dann ein bisschen der Nase nach gen Osten nachgefahren und haben bei Passanten nachgefragt, die wir getroffen haben. Wir wurden überall sehr freundlich begrüßt. Wir waren das einzige westliche Auto, das gen Osten fuhr. Wir kamen dann zunächst nach Pilsen. Dort erlebten wir auf dem Platz der Republik, dass Flugblätter von einem Hubschrauber abgeworfen wurden. Da war sofort die Spannung spürbar.“Ihr Ziel war aber Prag, wo Sie am Montagabend ankamen …
„Wir haben dort versucht, die Adresse von einem Arzt zu finden, den wir aus Westdeutschland kannten. Wir hatten kein Quartier und wollten bei ihm nachfragen. Wir haben also dort geklingelt, es machte aber niemand auf. Dann kam jemand und schaute ganz vorsichtig um die Ecke. Es war der Bruder des Arztes, der sofort sagte, wir sollten weggehen. Er hatte offensichtlich große Angst und hat wohl gedacht, wir seien von der Geheimpolizei. Damals gab es bereits viele Verhaftungen.“
An wen haben Sie sich danach gewendet?
„Ab neun Uhr abends fing ein Sperrfeuer an. Da haben wir uns unter die Betten gelegt, weil wir Angst vor Querschlägern hatten.“
„Wir sind in ein Jugendhotel in der Altstadt gegangen. Dort haben wir ein Zimmer bekommen. Wir hatten es auch eilig, weil man uns gesagt hat, dass mit Einbruch der Dunkelheit eine Ausgangssperre gelte. Ab neun Uhr Abend fing ein Sperrfeuer an, bei dem mit MGs in die Häuserblöcke oben hineingeschossen wurde, da war richtig was los. Wir haben uns unter die Betten gelegt, ums uns vor Querschlägern zu schützen. Das hat uns durchaus Angst gemacht. Denn ein Sperrfeuer ist unangenehm, wenn alles heult, gegen die Wände klatscht und aufspritzt.“Haben Sie am nächsten Tag die medizinischen Hilfsgüter übergeben können?
„Ja, wir haben ein großes Krankenhaus aufgesucht und haben sie Güter dort abgegeben. Die haben sich sehr darüber gefreut. Dann hatten wir Zeit noch herumzugehen. Wir sind auf den Wenzelsplatz gegangen, es gab dort ziemlich Schwierigkeiten, viele Tumulte. Zum Beispiel wurden aus einem Lautsprecherwagen Propaganda-Parolen gebrüllt, dass man nach Hause gehen sollte und die sowjetischen Truppen bereit stünden, für Recht und Ordnung zu sorgen. Die Passanten reagierten sehr heftig. Sie brüllten vor Wut, pfiffen und riefen immer wieder ‚Dubček, Svoboda‘. Und es wurden auch Warnschüsse abgegeben von den Soldaten, die auf den Panzern saßen.“
Haben Sie damals Angst gehabt?
„ Die Passanten reagierten sehr heftig. Sie brüllten vor Wut, pfiffen und riefen immer wieder ‚Dubček, Svoboda‘.“
„An dieser Stelle nicht. Aber später ja, speziell weil wir dann begonnen haben, Plakate abzulösen. Die Häuser waren übersät mit Plakaten des Widerstandes. Das war ein Ausdruck des Protestes gegen die Besatzung. Wir haben dann die Plakate, die doppelt oder dreifach abgedruckt waren, abgelöst und mit ins Hotel genommen. Natürlich hatten wir Angst, dass man uns erwischt und wir dann Schwierigkeiten bekommen. Am nächsten Tag sind wir wieder auf den Wenzelsplatz gegangen und hörten da, dass die Moskauer Delegation zurückgekommen sei. In der Zwischenzeit war nämlich die tschechische Führung nach Moskau verschleppt und dort praktisch inhaftiert worden. Es gab da eine Konferenz, bei der ihnen praktisch die Pistole auf die Brust gesetzt wurde, damit sie diese ganzen Reformen wieder rückgängig machen. Das wusste man aber noch nicht, alle waren begeistert, dass die Delegation zurück war. Josef Smrkovský (Damaliger Parlamentspräsident, Anm. d. Red.) haben wir zum Teil miterlebt, er ging nach der Rückkehr ins Parlament und wurde mit riesigem Beifallsturm begrüßt. Und am Nachmittag haben wir mitgekriegt, dass Alexander Dubček (Parteichef, Anm. d. Red.) und Ludvík Svoboda (Staatspräsident, Anm. d. Red.) im Rundfunk gesprochen und gesagt, dass man die ganzen Neuerungen aufgeben und zur sozialistischen Tagesordnung übergehen müsse. Darauf haben die Menschen sehr enttäuscht reagiert.“Sie haben also auch diesen Stimmungswandel miterlebt…
„Wir wollten die Plakate als Ausdruck des Mutes der Bevölkerung und als Zeugnis für die Nachwelt erhalten.“
„Ja. Und anschließend auch die Angst. Aber wir haben an dem Tag noch mitgekriegt, dass über die Nacht die meisten Plakate von den Wänden entfernt wurden, wahrscheinlich von Besatzungssoldaten. Dann haben wir uns gedacht, wenn sie eh entfernt werden, dann können wir auch noch ein paar mitnehmen, weil wir sie als Ausdruck des Mutes der Bevölkerung verstanden haben. Wir dachten, dass es vielleicht wichtig wäre, sie als Zeugnis für die Nachwelt zu erhalten, auch gerade im Westen. Deshalb haben wir ein paar handgemalte Plakate mitgenommen. Zwar haben wir uns ein bisschen wie Diebe gefühlt, aber im Sinne einer guten Sache. Dann erfuhren wir, dass die Grenzen von der Seite der Besatzungsmächte geschlossen worden war. Wir wurden langsam unruhig und dachten, wir sollten zurückfahren. Es war auch klar, dass es keinen Aufstand mehr geben würde. Mittlerweile waren auch Bitten von Seiten der Staatsführung durchgedrungen, dass man nicht zu den Waffen greifen sollte, da dies nur in einem Blutvergießen enden würde.“Am Tag darauf sind Sie dann nach Deutschland zurückgefahren...
„Für uns war das große Problem, wie wir die Plakate mitnehmen können. Wir sind auch mehrfach angehalten worden, aber man hat nichts bemerkt. Wir haben das Dach geöffnet und die Plakate in das Rolldach eingerollt.“
Auf diese Weise haben Sie dann die Plakate nach Deutschland geschmuggelt. Wie war das weitere Schicksal der Sammlung?
„Wir haben in dem Krankenhaus, von dem wir die Medikamente und die Unterstützung bekommen hatten, eine Ausstellung gemacht. Das war aber damals alles. Erst jetzt, zum 50. Jahrestag, möchten wir die Plakate, wenn es geht, an eine Stelle in der ehemaligen Tschechoslowakei zurückgeben. Denn ich finde, es ist ihr Eigentum, wie waren nur die Treuhänder.“