Schriftsteller Ivan Klíma: Rückschau auf sein „wahnsinniges Jahrhundert“

Ivan Klíma

Der tschechische Romancier, Essayist, Dramatiker, Kinderbuchautor und Publizist Ivan Klíma hat Mitte September seinen 80.Geburtstag gefeiert. Das hat Radio Prag bereits in seinen Sendungen berichtet. Diesmal soll der international renommierte Buchautor selbst zu Worte kommen. Mit ihm werden Sie vor allem einen Einblick in ein besonderes Leben erhalten, das durch das Geschehen des 20. Jahrhunderts stark geprägt wurde.

Ivan Klíma
Ivan Klíma hat eine bewegte Geschichte: 1931 in Prag geboren, wurde er von den Nazis ins KZ Theresienstadt deportiert. Nach dem Krieg studierte er an der Prager Karlsuniversität und wird später als Lektor in einem Buchverlag und Redakteur tätig. Politisch neigt er den Kommunisten zu, wird 1953 sogar Parteimitglied, aber schon 1967 wieder hinausgeworfen. In der Zeit der Normalisierung nach der Niederschlagung des Prager Frühlings gehört Ivan Klíma zu den verbotenen Schriftstellern und engagiert sich als Dissident bis zur Wende von 1989. So im Kurzdurchlauf die biographischen Eckdaten.

Philip Roth: „Shop Talk“
Tatsächlich spielte sich Klímas Leben von Kindesbeinen an vor dem Hintergrund unruhiger Zeiten ab. Erst durch den Transport ins Ghetto von Theresienstadt (Terezín) erfuhr er zum Beispiel, ein jüdisches Kind zu sein. 1989 stellte ihm Philip Roth die Frage, wie ihn diese Erfahrung beeinflusst habe. Der bekannte US-amerikanische Romancier führte damals Gespräche mit Schriftstellerkollegen, die er unter dem Titel „Shop Talk“ publizierte. Ivan Klíma antwortete:

„Wer als Kind im Konzentrationslager war - wer völlig von einer äußeren Macht abhängig war, die sich jederzeit bemerkbar machen und ihn und alle um ihn herum schlagen oder töten konnte –, geht vermutlich ein kleines bisschen anders durch das Leben als Leute, denen eine solche Erfahrung erspart geblieben ist. Wie eine Schnur lässt sich das Leben durchtrennen - so lautete für mich als Kind die tägliche Lektion. Und die Auswirkung auf mein Schreiben? Eine leidenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Gerechtigkeit, mit den Gefühlen von Menschen, die verdammt und ausgestoßen wurden, mit den Einsamen und Hilflosen. Daraus erwachsende Themen haben dank des Schicksals meines Landes nichts an Aktualität eingebüßt.“

KZ Theresienstadt
Klíma gegenüber dem Tschechischen Rundfunk:

„Ich begann mit dem Schreiben ungefähr im Jahr 1945 nach meiner Rückkehr aus Theresienstadt. Mein Erstling betitelt „Vier Weihnachtsfeste im KZ“ erschien unter der Abkürzung mit Anfangsbuchstaben meines Namens IK, weil ich mich geschämt habe.“

Nach dem Abitur am Gymnasium studierte Ivan Klíma Bohemistik und Literaturwissenschaft an der philosophischen Fakultät in Prag. Schon im zweiten Studienjahr fand er das Thema für seine Diplomarbeit: das Leben und Werk von Karel Čapek. Daran arbeitete er kontinuierlich bis zum Studiumsabschluss. Es sei eine schöne Lektüre gewesen, die sich sehr davon unterschied, was man damals an der Hochschule gepredigt habe, so Klíma. Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit für das ganze Land. Die kommunistische Oberherrschaft wollte alle Bereiche des polischen und gesellschaftlichen Lebens unter ihrem Kommando haben. Wie hat der Student Klíma diese Zeit erlebt?

Ivan Klíma
„Die Vorträge habe ich nur sehr wenig besucht. In Linguistik hatten wir allerdings sehr gute Professoren. Pflicht war zwar auch Stalins Lehre, unsere Pädagogen haben sie aber nur in gekürzter Fassung präsentiert. Gut waren auch die Vorträge über die tschechische Literatur. Echt abscheulich waren hingegen die Vorträge eines Erzmarxisten über die Weltliteratur. Was wirklich gut war, bezeichnete er als imperialistisch und verbrecherisch.“

Klíma entstammte aus einer kommunistischen Familie und trat selbst mit 22 Jahren der kommunistischen Partei (KPČ) bei. Von seiner Kindheit an habe er das Gefühl gehabt, dass der Kommunismus eine Zukunft habe, sagte der Schriftsteller 2007 in einem Interview für die Literaturzeitschrift „Host“. In diesem lesen wir weiter:

Rudé právo
„(...) Im Moment meines Eintritts ins Leben, also mit dem Beginn meines Studiums an der philosophischen Fakultät Anfang der 1950er Jahre, geriet ich wiederholt in Konflikt mit dem offiziellen Bild der Wirklichkeit. Das kommunistische Regime schuf nämlich ein fiktives Wirklichkeitsbild und präsentierte dieses kontinuierlich in den Massenmedien. Das ist eine der eindeutigen Merkmale einer Diktatur.“

1956 konnte Klíma dank der Parteimitgliedschaft Redakteur der neuen Wochenzeitschrift „Květy“ (Blumen) werden. Auf Beschluss der KPČ-Führung sollte das Blatt dem Volk eine etwas leichtere Lektüre bringen, denn bislang gab es nur die wenig lesbaren Artikel im Stil des Parteiorgans Rudé právo. Im Unterschied zur philosophischen Fakultät, an der es Klíma zufolge immer noch viele normal denkende und intelligente Menschen unter den Parteimitgliedern gab, sei er in der Redaktion der „Květy“ auf waschechte Bolschewiki aus der Vorkriegszeit gestoßen:

Ein Buch von Milan Kundera in der Edition ´Das Leben um uns herum´ im Verlag ´Československý spisovatel´
„Es war ein Horror, diese Leute reden hören. Zum Beispiel in Bezug auf die damaligen Ereignisse in Ungarn. Der Chefredakteur meldete alle Redakteure, ohne sie zu fragen, für die Mitgliedschaft in den (paramilitärischen, Anm. d. R.) Volksmilizen an. Ich war deprimiert und habe den Austritt aus der Partei erwogen. Doch am nächsten Tag kam zum Glück die Absage – mit dem Argument, dass nur Arbeiter in Frage kämen.“

In den 1960er Jahren führt das politische Tauwetter zu gewissen Erleichterungen und damit auch zu einem Durchatmen. Ivan Klíma:

„Das war wirklich eine etwas liberalere Zeit. Man konnte auch Dinge durchsetzen, so lange sie keine Attacke gegen einen kommunistischen Boss oder die Partei darstellten. Damals arbeitete ich als Leiter der Edition ´Das Leben um uns herum´ im Verlag ´Československý spisovatel´ (Tschechoslowakischer Schriftsteller), die Edition wurde aus kleineren Literaturformaten wie Erzählungen oder Novellen zusammengestellt. Die Autoren wie zum Beispiel Ludvík Vaculík, Milan Uhde, Jan Trefulka oder Milan Kundera haben sich wenig später als anerkannte Schriftsteller etabliert. Doch schon ihre Erstlinge waren hervorragende Prosastücke.“

Mit der neuen Generation der Prosaiker der 1960er Jahre, zu der auch Bohumil Hrabal, Ladislav Fuks, Josef Škvorecký, Arnošt Lustig, Alexandr Kliment, Václav Havel, Pavel Kohout sowie Ivan Klíma selbst zählten, erreichte die tschechische Literatur und die Kultur allgemein einen historischen Höhepunkt. Zugleich aber vertiefte sich die Kluft zwischen der obersten Parteiführung und dem Großteil der Kulturschaffenden. Das trat im Juni 1967 auf dem vierten Schriftstellerkongress deutlich zutage. In den Diskussionsbeiträgen war eine bis dahin ungewöhnlich scharfe Kritik der Parteipolitik im Kulturbereich zu hören. Ivan Klíma:

„Ich bin gegen die vorherrschende Zensur aufgetreten. Aufgrund von Fakten versuchte ich nachzuweisen, dass die Zensur selbst unter dem berühmt berüchtigten Politiker der Habsburger Monarchie, Alexander von Bach, wesentlich milder war als die in der Tschechoslowakei.“

Das erzürnte die anwesenden Parteibosse. Ivan Klíma wurde sofort aus der KPČ ausgeschlossen und mit ihm auch Ludvík Vaculík und A. J. Liehm. Pavel Kohout wurde verwarnt, und gegen Milan Kundera wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Das geschah jedoch zu einer Zeit, als der Reformprozess des so genannten Prager Frühlings bereits angelaufen war. Diese Zeit des Aufbruchs nutzte Klíma zu Auslandsreisen unter anderem nach London, wo ihn auch die Nachricht von der Niederschlagung des Prager Frühlings erreichte. Der Autor kehrte sofort nach Prag zurück.

Als Ivan Klíma 1969 für zwei Jahre in die USA ausreisen durfte, waren viele verwundert. Ebenso überraschend war, als Klíma 1970 nach Prag zurückkehrte. Seinen Unterhalt wollte er als Schriftsteller verdienen. Doch wegen eines Publikationsverbots war er gezwungen, als Schaufensterputzer oder Straßenfeger und Vermesser zu arbeiten. Allerdings nur kurzzeitig:

Ivan Klíma  (Foto: Archiv des Verlags Academia)
„Heute bereue ich es sehr, dass es nur so kurz war. In der Arbeit war man etwas freier, ohne Überwachung. In der Kneipe konnte man im Prinzip alles sagen, was man wollte. Was hätte man uns noch mehr antun können? Für mich war es eine sehr interessante Erfahrung. Das Regime hatte keine Anhänger. Zumindest unter den normalen Menschen nicht, auch wenn die Nation lieber schwieg. Ich erinnere mich persönlich gerne an jene Zeit. Wenn man aber 20 Jahre nur Fensterscheiben putzen durfte, wie es bei vielen gebildeten Menschen der Fall war, ging zuviel kostbare Lebenszeit verloren.“

Nach seiner Zeit als gewöhnlicher Arbeiter konnte Ivan Klíma als Autor von Trickfilmen arbeiten. Seine Bücher wurden aber nur im Ausland herausgegeben - vor allem in Deutschland, England und den USA.

Dann kam die politische Wende von 1989. In der Tschechoslowakei hegte die Mehrheit der Menschen nun große Hoffnungen. Ivan Klíma schrieb gleich 1990 eine Serie von Presseartikeln mit dem Titel „40 Jahre in uns“ und warnte:

„In diesen Artikeln versuchte ich die Leser davon zu überzeugen, dass man nach den 40 amoralischen Jahren keine Wunder erwarten kann. Viele Menschen ließen sich zu Diebstahl, Lügen, Heuchelei und Nichtstuerei verführen. Viele haben sich nach dem bekannten Motto ´Wer nicht stiehlt, der beraubt die eigene Familie´ verhalten. In der Euphorie kann man vieles ändern, aber nur für ein paar Tage. Ich habe also keine großen Hoffnungen gehegt. Für mich war es wichtig, dass die Freiheit zurückgekehrt war und dies so blieb.“

„Mein wahnsinniges Jahrhundert“,  2. Band
2010 erschien Klímas Buch „Mein wahnsinniges Jahrhundert“. In zwei Bänden mit insgesamt 880 Seiten legt der Autor als einziger der ehemaligen Dissidenten Rechenschaft ab über eigene Fehler und Irrtümer. Der eine trägt den Namen „Kommunismus“:

„Die Grundsteine der kommunistischen Ideologie waren Lüge und Diebstahl. Die Partei verwandelte die Volksdemokratie in ein Terrorregime. Sie log über die Vergangenheit, über die Gegenwart und über die Zukunft. Sie behauptete, das System, in dem der Mensch dem Menschen ein Wolf war, werde durch eine Gesellschaftsordnung ersetzt, in der kameradschaftliche Beziehungen herrschen würden. In Wirklichkeit geschah das Gegenteil. Die Partei zerstörte alle traditionellen Beziehungen. Sie zerstörte auch den Gedanken der Demokratie, da sie ihre Diktatur zur höchsten Form der Demokratie erklärte.“

Im erwähnten Buch, für das Ivan Klíma den bedeutendsten tschechischen Literaturpreis, den „Magnesia litera“, in der Kategorie Publizistik erhalten hat, schrieb er sich auch seine kommunistische Vergangenheit von der Seele.

Es sei seine Hauptschuld gewesen, Mitglied der kommunistischen Partei gewesen zu sein, sagte Klíma jüngst auch in einem „Feature am Sonntag“, den der deutsche Radiosender SWR 2 im September ausgestrahlt hat. In Bezug auf sein Buch „Mein wahnsinniges Jahrhundert“ sagte er:

„Immer wieder vergleiche ich den Hitlerismus mit dem Kommunismus. Viele Leute regen sich darüber auf und sagen: Der Kommunismus hatte doch gute Ziele, der Hitlerismus dagegen hatte von Anfang an antihumane Ziele verfolgt, die in ´Mein Kampf´ enthalten sind. Trotzdem – im Kommunismus gab es den ´Klassenkampf´ und den Hass gegen eine Klasse. Beim Vergleich finde ich gemeinsame Züge beider verbrecherischen Ideologien, die im 20. Jahrhundert auf so viele Millionen Menschen Einfluss hatten.“

„Mein wahnsinniges Jahrhundert“,  1. Band | Foto: Academia
Sein Augenmerk richtet Klíma nach wie vor auch auf die Gegenwart und kommt wiederholt zu Schlüssen, die wenig aufmunternd sind. Seiner Meinung nach erlebt die Zivilisation von heute einen Verfall, indem sie die moralischen Werte gegen die Unterhaltung ausgetauscht habe. In diesem Zusammenhang darauf angefragt, ob er nicht eine Fortsetzung von „Mein wahnsinniges Jahrhundert“ schreiben würde, reagierte der Schriftsteller bei seinem jüngsten Besuch im Tschechischen Rundfunk schlagfertig:

„Ich stelle mir die Frage, ob dieses neue Jahrhundert auch ´wahnsinnig´ ist, oder genauer gesagt, ob es nicht ´anders wahnsinnig´ ist. In dem Falle müsste etwa das neue Buch ´Das anders wahnsinnige Jahrhundert´ heißen.“