Soziales Pulverfass Nordböhmen
Es begann mit einer Schlägerei im nordböhmischen Rumburk / Rumburg und endete mit Protesten der örtlichen Bevölkerung gegen die Roma. Auch in anderen Orten des so genannten Schluckenauer Zipfels werden die Roma für den Anstieg der Kriminalität verantwortlich gemacht. Die Region Nordböhmen wird mit ihren seit vielen Jahren aufgestauten und ungelösten sozialen Problemen oft mit einem Pulverfass verglichen. Droht nun eine Explosion?
Es scheint, als hätte die verstärkte Polizeipräsenz tatsächlich geholfen, die Lage zu beruhigen. Als vergangenen Freitag in Rumburk / Rumburg, einem weiteren Brennpunkt der Region, unzufriedene Bürger vor einige von Roma bewohnte Häuser gezogen waren und diese stürmen wollen, konnten sie von den zusätzlichen Polizeikräften daran gehindert werden. Mittlerweile gelingt es sogar wieder, über das Problem zu diskutieren. Am vergangenen Donnerstag haben im Kino von Varnsdorf / Warnsdorf die Bürger mit Vertretern der Stadtverwaltung und mit Experten für Integrationsfragen gesprochen. Darunter war auch der Direktor der Agentur für soziale Integration, Martin Šimáček, der seine Eindrücke wie folgt zusammenfasst:
„Die Bürger haben berechtigte Befürchtungen um ihre Sicherheit geäußert. Es wurde insbesondere über die Situation im Umfeld einer privaten Herberge gesprochen, deren Eigentümer sich gegenüber den Bewohnern dieser Bleibe sehr ausbeuterisch verhält. Er verlangt unverhältnismäßig hohe Mieten und ebenfalls überhöhte Nebenkosten für Wasser und Strom. Das führt zu Unruhen unter den Bewohnern, dringt dann auch nach außen durch und verursacht Schwierigkeiten im Zusammenleben in der ganzen Stadt. Die übrige Bevölkerung in der Umgebung dieser Bleibe hat sich über die Situation dort beschwert und darüber haben wir ganz besonders diskutiert.“Für ihn persönlich sei es auch wichtig gewesen, so Šimáček gegenüber dem Tschechischen Rundfunk, dass die versammelten Bürger nicht die Roma per se verurteilten, sondern zu einer differenzierten Haltung fähig waren:
„Es betrifft bei weitem nicht alle Roma in der Stadt Warnsdorf, das wurde auch auf der Bürgerversammlung festgestellt. Die meisten Roma haben einen Beruf und schicken ihre Kinder in Schulen. Man muss sich also jenes Teils annehmen, der im wahrsten Sinne des Wortes von der Gesellschaft ausgeschlossen ist und den Ausweg in kriminellen Tätigkeiten sieht. Es ist erstens eine Sicherheitsfrage, die in Zusammenarbeit mit der Polizei gelöst werden kann. Zweitens muss aber die Situation der konkreten Menschen verbessert werden. Es fehlt an geeigneten Arbeitsplätzen, Bildung und Maßnahmen, die über längere Zeiträume wirken könnten.“Ähnlich beurteilte auch ein weiterer Teilnehmer der Warnsdorfer Diskussion, der Roma-Aktivist Ivan Veselý, die Situation. Er sprach für Dženo, eine der vielen tschechischen Roma-Organisationen. Für ihn sind die Spannungen im Schlukenauer Zipfel nicht überraschend, wie er im Folgenden erläutert. Gleichzeitig macht er den örtlichen Politikern den Vorwurf, die Angelegenheit künstlich aufgebauscht zu haben:„Ich denke, dass ist eine künstlich geschaffene Hysterie. Und höchstwahrscheinlich stecken die örtlichen Bürgermeister dahinter. Die kommunalen Selbstverwaltungen in Nordböhmen ernten nun das, was sie vor rund zehn Jahren gesät haben. Wir haben zum Beispiel seit Jahren auf die Gefahr von möglichen Konflikten mit einem rassistischen Unterton hingewiesen. Und ebenso auf den direkten Zusammenhang zwischen steigender Arbeitslosigkeit unter den Roma und einem Anstieg an Kriminalität. Alle haben die Gefahr unterschätzt, waren nicht präventiv aktiv und deshalb sollten wir uns nicht darüber wundern, was jetzt in Nordböhmen vor sich geht.“
Das, was Ivan Veselý ansprach, betraf die 1990er Jahre. als das Problem der sozial ausgeschlossenen Roma-Familien erstmals für breite Teile der Bevölkerung spürbar wurde. Vor allem in Nordmähren ließen sich zahlreiche Familien nicht nur von Immobilienspekulanten, sondern oft leider auch von lokalen Verwaltungen dazu verleiten, ihre Häuser und Wohnungen zu verkaufen. Für das Geld beschafften sie sich ein Flugticket nach Kanada, bzw. eine Busfahrkarte nach Belgien mit dem Ziel, dort ein neues Leben zu beginnen. Doch die gleichzeitig von vielen gestellten Asylanträge wurden in den meisten Fällen abgelehnt und die Roma mussten wieder nach Tschechien zurückkehren. Dort hatten sie nun allerdings keine Wohnung mehr, in die sie zurückkehren konnten. In Folge dessen zogen viele von ihnen mit ihren ganzen Familien in andere Gegenden Tschechiens – etwa nach Nordböhmen – zu Verwandten und Freunden, wodurch die Grundlage für die heute explosive Situation entstand. Das ist heute nicht mehr der Fall, wie der Integrationsbeauftragte Martin Šimáček erläutert:„Aus den Informationen, die wir gegenwärtig zur Verfügung haben, geht hervor, dass der Zuzug von sozial Schwachen mehr eine Sache der Migration innerhalb der Region ist, als dass es sich um Menschen von außerhalb handeln würde. Bis auf eine einzige Ausnahme konnten wir nicht feststellen, dass die Roma gezielt und unter Ausnutzung der schlechten sozialen Lage systematisch in Siedlungen und potentielle Ghettos verwiesen wurden. Das ist eine gute Nachricht, weil andernfalls die Lage im Schlukenauer Zipfel weitaus explosiver wäre. Wir werden uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir diese ungewollte potentielle Migration künftig verhindern können.“
Der Roma-Aktivist Ivan Veselý sieht die Gründe für die explosive Lage in Nordböhmen in den fehlenden Lebensperspektiven der dortigen Roma-Bevölkerung, wie er abschließend erklärt:„Ich bin davon überzeugt, dass das Grundproblem in der hohen Arbeitslosigkeit unter den Roma liegt. Damit eng verbunden ist eine gewisse Frustration: Die Menschen haben keine Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Lage. Das Problem ist, dass sie auch von niemandem motiviert werden, sich selber Arbeit zu suchen.“