„Eine ganz normale Kneipenschlägerei auf dem Land“ – Die Unruhen in Nordböhmen
Bereits das vierte Wochenende in Folge hat es im so genannten Schluckenauer Zipfel Demonstrationen gegeben. Der Zipfel ist eine kleine Region an der Grenze zu Sachsen. Die Städte Šluknov / Schluckenau, Varnsdorf / Warnsdorf und Rumburk / Rumburg liegen in diesem Gebiet und bilden die Zentren der Unruhe. Die Bürger demonstrieren nicht etwa gegen ausufernde Korruption oder die angekündigten Sozialreformen, sie gehen gegen die Minderheit der Roma auf die Straße. Bereits mehrfach musste die Polizei eine wütende Menschenmenge davon abhalten, von Roma bewohnte Häuser zu stürmen. In unserem Forum Gesellschaft werfen wir einen Blick hinter die Kulissen der Ausschreitungen.
Begonnen haben die Proteste, nachdem am 20. August eine Gruppe Roma in Rumburk mehrere Menschen auf dem Weg von der Disko nach Hause überfallen und zusammengeschlagen hatte. Vorher hatten bereits in Nový Bor / Haida mit Macheten bewaffnete Roma eine Spielhalle überfallen. In den Medien wurde daraufhin von „Übergriffen mit rassistischen Untertönen“ gesprochen, von einer Eskalation der schon lange bestehenden Spannungen im Schluckenauer Zipfel aufgrund gestiegener Kriminalität. Markus Pape, Mitbegründer der Initiative „Hass ist keine Lösung“, Beobachter für das European Roma Rights Center und Kenner der Verhältnisse in Varnsdorf, stellt die Situation anders dar:
„Sowohl die Polizei als auch der Bürgermeister von Varnsdorf leugnen, dass es in der Stadt zu einer gestiegenen Kriminalität in der letzten Zeit gekommen sei. Die beiden bekannten, so genannten Massaker, waren lokale Konflikte. Einmal in einer Spielhalle und dann in Rumburk, in der Nähe einer Diskothek, am frühen Morgen. Den neuesten Informationen zufolge war weder der eine noch der andere Fall rassistisch bedingt, sondern es waren einfache Kneipenschlägereien, von denen es in der Republik jedes Jahr Hunderte gibt.“Über die Vorfälle in Rumburk hat Martin Demeter von der örtlichen Roma-Vereinigung Ähnliches zu berichten:
„Das was dort passiert ist, diese Prügelei, das war meiner Meinung nach eine ganz normale Kneipenschlägerei auf dem Land und man hat daraus einen rassistischen Übergriff gemacht. Hier muss betont werden, dass es keine rassistischen Untertöne gegeben hat. Die eine Seite hat gerufen ´Ihr Zigeuner´ und die andere ´Ihr Tschechen´, und dann haben sie sich geschlagen. Und die Medien haben dann daraus einen rassistischen Zwischenfall gemacht.“Also gibt es keine gestiegene Kriminalität im Schluckenauer Zipfel? Jan Černý von der Menschenrechtsorganisation „Člověk v tísni“ (Mensch in Not) und langjähriger Streetworker bringt etwas Licht ins Dunkel: Es handele sich dabei oft um Kleinkriminalität. Diese werde von den Behörden nur als Ordnungswidrigkeit behandelt, nicht als Straftat, und daher nur mit Geldstrafen geahndet. Die Menschen vor Ort fühlen sich aber von gestohlenen Dachrinnen und Kanaldeckeln, von aufgebrochenen Autos oder abgeholzten Bäumen belästigt und bedroht. Eine Lösung dieses Problems könnte laut Černý sein, diese Kleinkriminalität systematisch auszutrocknen, indem die Hehler konsequenter verfolgt würden. Martin Demeter aus Rumburk hat noch eine andere Idee:
„Wenn zwei Polizisten kämen und einer davon wäre ein Roma, dann hätten sie den Respekt der anderen Roma und die Kriminalität wäre sicher geringer. Dies müsste natürlich ein ehrlicher und respektierter Roma sein. Wenn aber dieser Roma zu den anderen Roma käme und sie beschimpfen würde, wäre es kein rassistischer Zwischenfall.“Als ein weiterer Grund für die Probleme der wenig integrierten Roma-Minderheit wird in den Medien und von den Politikern immer die Ghettoisierung genannt. Die Lokalpolitiker im Schluckenauer Zipfel gaben an, über einen längeren Zeitraum seien vermehrt Roma aus der ganzen Republik in ihre Gemeinden gezogen. Markus Pape meint dazu:
„Also nach den Informationen, die wir haben, trifft dieser weitere Mythos auf jeden Fall nicht auf die Stadt Varnsdorf zu. Dort handelte es sich um eine kreisinterne oder sogar stadtinterne Migration. Vor einigen Monaten sind auf rätselhafte Weise zwei Häuser in Flammen aufgegangen und die Bewohner dieser Häuser haben Unterschlupf in einem dieser beiden Zielobjekte dieser Hassmärsche gefunden, in einem Wohnheim namens Hotel ´Sport´.“Trotzdem leben die Roma häufig in Siedlungen oder Herbergen unter sich. Das liegt zum einen am besonders engen Zusammenhalt der Familien, aber natürlich auch daran, dass über 80 Prozent der tschechischen Bevölkerung keine Roma als Nachbarn und Vermieter keine Roma als Mieter haben möchten. Von den Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden, berichtet die Mutter einer Roma-Familie mit fünf Kindern aus Varnsdorf:
„Sehr lange haben wir nichts gefunden. Oft hat man uns am Telefon gesagt: ´Ja, die Wohnung ist frei´. Wenn wir dann aber kamen und die Leute gesehen haben, dass wir Zigeuner sind, haben sie uns abgelehnt und gesagt, es wäre schon vergeben.“Natürlich haben Geschäftleute dies als Marktlücke entdeckt. Sie kaufen leerstehende Häuser oder Herbergen auf und vermieten sie zu überteuerten Preisen an Roma, die sonst keine Möglichkeiten der Unterbringung finden. Die Mieten erhalten diese Vermieter dann direkt vom Staat, der Wohnunterkünfte für Roma über das Wohngeld finanziert. In einer solchen Herberge wohnte auch die Roma-Familie aus Varnsdorf:
„Es kostete 13.000 Kronen (etwa 520 €). für eine Einraumwohnung mit Küche. Dort gab es aber nur ein Zimmer mit einem Schrank, einem Bett, einem Tisch und einem Fernseher. Das war alles.“Markus Pape erklärt am Beispiel Varnsdorf, dass diese Praxis aber nicht nur von zwielichtigen Geschäftemachern betrieben wird:
„Eines der beiden Wohnheime gehört der Stadt, dort trifft es zu, dass die Mieten horrend sind. Aber das kann die Stadt oder die Einwohner sich erlauben, weil diese Mieten zum großen Teil durch das Wohngeld finanziert werden, und zwar vom Staat.“
Die Kommunen lassen sich also über die Unterbringung von Roma durch das Wohngeld auf eine gewisse Art quersubventionieren. Markus Pape sieht in dieser Praxis Vor- und Nachteile:„Natürlich liegt da eine Gesetzgebung zugrunde, die es Vermietern ermöglicht, höhere Mieten von den Mietern zu verlangen und diese dann über das Wohngeld finanzieren zu lassen. Diese Gesetzgebung ist entstanden, um Wohnraum für Roma zu schaffen. Wir wissen ja, dass 85 Prozent der tschechischen Bevölkerung keinen Roma als Nachbarn haben möchte. Wir können auch verstehen, dass es über eine solche Gesetzgebung ermöglicht wurde, dass überhaupt Wohnraum für Roma gefunden wird.“
Dass alle Roma faul seien und nicht arbeiten wollen, ist ein weiteres Vorurteil, das die meisten Menschen hegen. So wurden dann auf den Demonstrationen auch immer wieder Parolen wie „Romové do práce“, also „Roma zur Arbeit“ gerufen. Und dass, obwohl die Arbeitsmarktsituation in Nordböhmen katastrophal ist und die meisten Demonstranten selber keine Arbeit haben. Markus Pape bestätigt dies:
„Dieser Mob, der sich da jede Woche auf der Straße bewegt und versucht, diese Wohnheime anzugreifen, der besteht zum Großteil aus Leuten, die selber ihre Arbeit verloren haben, die Angst haben ihre Arbeit zu verlieren oder die einfach genauso sozial bedroht sind, wie auch die Einwohner der Wohnheime. Das bedeutet, jemand hat es geschafft, die einen Armen gegen die anderen Armen aufzuhetzen.“
Martin Demeter aus Rumburk sieht nicht, dass die Roma im Schluckenauer Zipfel arbeitsscheu oder faul wären:„Hier im Schluckenauer Zipfel gibt es insgesamt viel weniger Roma als Tschechen. Hier gibt es eine große Arbeitslosigkeit und trotzdem haben die Roma Arbeit. Sie arbeiten und leben anständig.“
Nun wurde erst einmal Bereitschaftspolizei in die Gegend geschickt, um die Ordnung wiederherzustellen. Arbeits- und Sozialminister Jaromír Drábek kündigte an, 100 gemeinnützige Stellen zu schaffen, und die Regierung legte einen Zehn-Punkte-Plan zur Bekämpfung der Ghettobildung vor. Bei seinem Besuch am Montag im Schluckenauer Zipfel machte der Premier klar, in welche Richtungen seine Ideen zur Lösung der Situation gehen:
„Ich sehe den Schlüssel darin, die Auszahlung von Sozialhilfe an öffentliche Arbeiten zu koppeln. Es gibt immer etwas zu tun bei der Verbesserung unserer Gemeinden und Städte.“Arbeits- und Sozialminister Drábek ergänzt:
„Das bedeutet, wer auf dem Arbeitsmarkt keine Arbeit finden kann, wird 20 Stunden die Woche eine für die Öffentlichkeit sinnvolle Arbeit verrichten.“
Roma-Aktivisten begrüßen grundsätzlich die Bemühungen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen – eine Entwicklung, die sicherlich für alle Menschen in Nordböhmen wünschenswert wäre. Die Lösung der Probleme in Nordböhmen wird also nicht einfach nur auf ein paar Maßnahmen bei der Vergabe von Sozialhilfe zu beschränken oder durch die Stationierung von zusätzlicher Polizei zu erreichen sein.