Stanice 6: Neue Zukunft für leerstehendes Bahnhofsgebäude in Prag
Wer mit dem Zug von Berlin oder Dresden kommend nach Prag einfährt, kann kurz hinter der Stadtgrenze neuerdings rechterhand ausgelassene Stimmung erleben. Denn am ehemaligen Bahnhof Bubeneč wurde gerade ein neues Kulturzentrum eröffnet. Stanice 6 heißt dieser Ort. Er bietet eine Bar, soll in Zukunft Veranstaltungen aller Art dienen und beherbergt einen Fahrradverleih. Eröffnet wurde die Einrichtung vergangene Woche Mittwoch – zehn Jahre nachdem zuletzt ein Zug am historischen Bahnhof Praha-Bubeneč hielt.
Es ist ein besonderer Zug, den die Reisenden an diesem heißen Augustabend am dritten Bahnsteig des Prager Hauptbahnhofs besteigen. Als Os 1 ist der Sonderzug angeschlagen, also als Personenzug 1. Ein passender Name, denn nach zehn Jahren ist es heute auf den Tag genau zum ersten Mal, dass wieder ein Zug am Bahnhof Prag-Bubeneč halten soll. Die Stimmung an Bord ist bei der Abfahrt entsprechend ausgelassen. Es gibt Bier aus Blechdosen und Supermarkt-chlebíčky aus der Einweg-Plastikverpackung.
Die Fahrgäste des Os 1 sind allesamt geladene Gäste: Wegbereiter und Unterstützer, die dafür gesorgt haben, dass aus dem leerstehenden Bahnhofsgebäude im Prager Stadtteil Bubeneč ein Kulturzentrum wird. Vor allem sind Freunde und Verwandte der drei Kulturmanager gekommen, die aus dem leerstehenden Verkehrsknotenpunkt nun die Stanice 6 gemacht haben.
„Ich fahre gern mit dem Zug, und früher habe ich dort meine Ausflüge gestartet“, erklärt eine der Reisenden.
Die Eisenbahnharmonie ist heute fast perfekt. Langsam rollt die gelbe lokálka in der Abendsonne über die Prager Gleise – am Vítkov-Hügel vorbei, dann über die Moldau. Nach ein paar Minuten kommt eine betont angenervte Schaffnerin vorbei. Sie wolle die Fahrkarten sehen, plärrt sie die Fahrgäste an. Dann verteilt sie aber doch nur Schnaps und Pralinen. Ihre Rolle als Zugbegleiterin spielt die Schauspielerin perfekt.
Der Sonderzug nach Bubeneč
Bei der Einfahrt in den Bahnhof Praha-Bubeneč brandet Jubel auf. Über einen improvisierten Bahnsteig verlassen die Reisenden den Zug – und bekommen sofort ein Glas Sekt in die Hand gedrückt. Der Zug macht sich wieder von dannen. Nun kann die Einweihungsfete so richtig beginnen. Gekommen ist auch Michal, der Eisenbahner mit Leib und Seele ist. Unter anderem arbeitet er als Lokführer. Die Ankunft des Sonderzuges habe er sich nicht entgehen lassen wollen:
„Ich war bereits dabei, als hier vor zehn Jahren der letzte Zug hielt. Das war auch schön. Aber heute sieht das Gebäude so gut aus! Und es sind viele Leute da. Ich denke, in Zukunft wird das ein guter Ort für alle sein.“
Begrüßt werden Michal und die anderen Feiergäste von Ondřej Kolář von der Partei Top 09. Er ist Bürgermeister des sechsten Stadtbezirks und neuerdings auch Abgeordneter im Europaparlament. Unterbrochen wird seine kurze Rede nur vom vorbeirauschenden Eurocity aus Berlin.
Die Initiative kam von der Politik
Als Vertreter aus den Reihen der Politiker ist auch Jan Lacina dabei. Er ist ebenfalls mit dem Sonderzug vom Prager Hauptbahnhof angereist. Lacina sitzt für die Bürgermeisterpartei Stan im tschechischen Abgeordnetenhaus sowie im Stadtrat von Prag 6. Die Errichtung eines Kulturzentrums an den Gleisen war ihm seit Langem ein Anliegen.
Herr Lacina, wir sind gerade mit dem Sonderzug hier am Bahnhof Prag- Bubeneč angekommen. Wie fühlen Sie sich?
„Ich bin sehr glücklich. Denn vor zehn Jahren habe auch ich den letzten Zug verabschiedet, und wir wussten, dass hier nun kein Haltepunkt mehr sein wird. Später bin ich in den Stadtrat von Prag 6 eingezogen und habe mich dafür eingesetzt, dass das Gebäude eine neue Funktion erhält. Heute, genau nach zehn Jahren, bin ich hierhergekommen, um die Früchte meiner Arbeit zu ernten. Wir eröffnen die Stanice 6, und ich fühle mich großartig.“
Warum ist die neue Funktion denn gerade ein Kulturzentrum geworden?
„Als der sechste Prager Stadtbezirk das Gebäude in seinen Besitz übernommen hat, haben wir eine große Umfrage gestartet, die auch stark beworben wurde. Dabei kam heraus, dass die Menschen hier ein Zentrum für Kultur, Sport und Freizeit möchten. Mit diesem Ergebnis haben wir 2019 eine öffentliche Ausschreibung für ein Nutzungskonzept gestartet. Es gab 50 Bewerber. Eine Jury hat dann die fünf besten Einreichungen ausgewählt. Nach der zweiten Runde standen der Gewinnerentwurf und die anderen Platzierungen fest. Das, was die Öffentlichkeit wollte, also ein Sport-, Kultur- und Freizeitzentrum, das gibt es hier nun auch.“
Unter den Einreichungen befanden sich auch Entwürfe von Akteuren, die bereits andere erfolgreich Kulturprojekte in Prag realisiert haben. Warum haben am Ende gerade diese drei Herren und ihre Stanice 6 gewonnen?
„Darauf gibt es eine leichte Antwort: Sie haben in der zweiten Runde der Ausschreibung die meisten Punkte geholt. Die Jury bestand aus neun Personen. Darunter waren teils Beamte, aber auch Politiker – sowohl aus der Koalition als auch aus der Opposition. Dieses Projekt hat gewonnen, wir haben aber auch die anderen fünf besten Einreichungen bewertet und ein Ranking festgelegt. Denn wir ahnten schon, dass es bis zur Eröffnung noch dauern wird. Für den Fall, dass die Sieger abspringen, wären die Zweitplatzierten nachgerückt und dann die Dritten. Aber am Ende stehen wir hier nun mit den Gewinnern: drei Herren aus Prag, alle um die 55 Jahre alt, Klassenkameraden aus der Mittelschule – Preisler, Kontra, Krb.“
Kulturveranstaltungen und Verleih von Retrofahrrädern
Richard Preisler, Martin Kontra und Martin Krb – so heißen die drei Herrschaften mit ganzem Namen. In der Prager Kulturszene sind sie kein unbeschriebenes Blatt. Denn sie stehen hinter erfolgreichen Projekten wie Bajkazyl, Bike Jesus oder auch Fuchs2, was ein angesagter Ort in der alternativen Klubkultur Prags ist.
Nun also der Eisenbahnbau – und der große Bahnhof an diesem Mittwochabend um die drei Akteure und ihr Projekt. Um über ihre Initiative im Interview zu erzählen, sind die Männer deshalb schon zu müde. Martin Krb fasst sich dann aber doch ein Herz und berichtet für Radio Prag International, wie es zu dem Projekt gekommen ist:
„Wir sind drei Freunde und kennen uns aus dem Gymnasium. Wir haben uns im Leben mal häufiger und mal seltener gesehen. Und vor fünf Jahren hatten wir diese verrückte Idee, uns auf die Ausschreibung für die neue Nutzung des Bahnhofs Praha-Bubeneč zu bewerben.“
Im Rahmen der Stanice 6 gibt es neben dem Bistro unmittelbar an den Gleisen auch eine Galerie in der oberen Etage des Gebäudes. Unter ihr befindet sich der große Veranstaltungssaal. Und dann gibt es da noch den Fahrradverleih…
„Wir hielten das für logisch. Denn auf der einen Seite haben wir hier direkt den Stromovka-Park, auf der anderen den Moldauradweg Richtung Kralupy. Wir wollten aber nicht einfach Mountainbikes oder Stadtfahrräder vermieten. Mein Kollege Martin Kontra baut Fahrräder, und er ist schon immer ein riesiger Fan von Radkultur gewesen. Er meinte, dass er uns eine Kollektion von Rennrädern aus den 1980er, 1990er und 2000er Jahren zusammenstellt, die heute ja wieder in Mode sind. Ein jeder kann hier also einmal ausprobieren, wie man im Jahr 1980 bei der Tour de France unterwegs war, denn genau solche Räder bieten wir an.“
Geschichtsträchtiges Bahnhofsgebäude – behutsam saniert
Die Stanice 6 ist aber nicht nur durch ihre inhaltliche Ausgestaltung besonders. Der Bahnhof Bubeneč hat auch eine bewegte Geschichte. Ondřej Tuček hat als Architekt die Umgestaltung des Gebäudes geleitet und erläutert:
„Der Bahnhof liegt an der ehemaligen k.k. Nördlichen Staatsbahn. Sie führte von Wien zum nördlichsten Rand Österreich-Ungarns – also über Prag nach Děčín und später bis Hamburg.“
1850 wurde der Bahnhof Bubeneč eröffnet. Für die Gestaltung der Bahnhofsgebäude entlang der Strecke war damals Anton Jüngling zuständig.
„Er unterteilte seine Stationsgebäude nach dem Verkehrsaufkommen in fünf Klassen. Das hier war ein Bahnhof der vierten, also zweitniedrigsten Klasse. Das Besondere daran ist, dass heute nicht mehr viele Gebäude dieser Stufe erhalten sind. Ich weiß, dass es noch einen identischen Bau in Zámrsk gibt, aber das ist meinen Recherchen nach der einzige. Alle anderen sind nicht mehr erhalten, sie wurden entweder abgerissen oder komplett umgebaut.“
Vielleicht war auch gerade deshalb das Denkmalschutzamt bei der Umgestaltung des bis dahin vernachlässigten Bahnhofs im Nordwesten von Prag besonders streng. Martin Krb sagt:
„Die Denkmalschützer hatten eine lange Liste mit Dingen, die wir hier nicht verändern durften. Es wurde zum Beispiel ein kleines Stück einer originalen Fliese gefunden. Anhand derer wurden neue Repliken angefertigt, die sich nun in der Wartehalle auf dem Fußboden finden. Derartige Elemente gibt es hier einige. Das Amt gab diese Aspekte vor, die Architekten mussten sich danach richten. Gleichzeitig war uns wichtig, dass das Gebäude kein Museum wird und nicht wie 1850 aussieht, als der Bahnhof errichtet wurde. Wir wollten gewisse Anleihen ans 21. Jahrhundert. Dafür haben wir sehr gekämpft. Manche Schlachten haben wir gewonnen, andere verloren. Das Endergebnis bewerten wir als einen guten Kompromiss, mit dem meiner Meinung nach alle zufrieden sind.“
Bleibt die Frage nach der Zukunft des Bahnhofsgebäudes. Zehn Jahre nach der Schließung der Station: Wo sieht Martin Krb die Stanice 6 im Jahr 2034?
„Da fragen Sie mich zu früh. Wir haben ja gerade einmal acht Stunden geöffnet! Unseren Mietvertrag haben wir für zehn Jahre unterschrieben. Aber was dann hier stattfinden und wie es hier aussehen wird – das kann ich heute noch gar nicht sagen.“