Street-Art für einen guten Zweck: Der Künstler ChemiS sammelt mit Murals Geld für Kriegsgebiete

Er nennt sich ChemiS, heißt mit bürgerlichem Namen aber Dmitrij Proschkin. Ende der 1980er Jahre in Kasachstan geboren, ist er in Tschechien aufgewachsen und hier geblieben. Und darum rühmt man sich hierzulande gern damit, dass ChemiS einer der besten und weltweit bekanntesten Street-Art-Künstler des Landes ist. Vor zwei Jahren bekam sein Wandbild eines Mädchens, das unter einer ukrainischen Flagge Schutz sucht, viel Aufmerksamkeit. Und zuletzt machte er für die Organisation Ärzte ohne Grenzen auf den Konflikt in Nahost aufmerksam. Radio Prag International hat mit ChemiS ein Interview geführt.

Foto: ChemiS

Man muss zweimal hinschauen, um das wichtigste Detail in dem Bild zu entdecken. Ein Arzt trägt ein Mädchen auf den Schultern, und sie schauen sich freundschaftlich an. Beide sind von farbenfrohen Sonnenblumen umringt, aber im Hintergrund sind skizzenartig zerstörte Häuser zu erkennen. Und dann fällt auf: Das Mädchen hat zwei Beinprothesen. Ein Warnschild im Vordergrund mit der Aufschrift „Danger: Mines“ (Achtung: Minen) lässt erahnen, wie sie ihre Beine verloren hat.

Der Mann trägt das Logo von Ärzte ohne Grenzen auf dem Kittel. Eben diese Organisation hat das Wandgemälde auch in Auftrag gegeben, das sich über die gesamte Seite eines dreistöckigen Wohnhauses in der Nähe des Prager Verkehrsknotenpunktes Anděl erstreckt. Autor dieses Murals, wie solche Werke in Street-Art-Kreisen genannt werden, ist der Sprayer ChemiS:

ChemiS  (Dmitrij Proschkin) | Foto: Amelia  Mola-Schmidt,  Radio Prague International

„Ärzte ohne Grenzen hat mich angesprochen mit der Bitte, ein Mural für sie anzufertigen. Dabei sollte ich völlige schöpferische Freiheit haben. Also haben wir zusammen die Themen besprochen, die für die Organisation wichtig sind. Eines war eben plastische Chirurgie, also Operationen nach Verletzungen, die vor allem durch Minen oder andere Explosionen verursacht werden. Dann musste nur noch eine Fläche gesucht werden, und da bot sich die Wand in Prag-Smíchov an. Bisher war dort meist Reklame angebracht, aber wir haben sie nun für mehrere Jahre zur Verfügung gestellt bekommen. Das Interessante an dem Bild ist die Nutzung der erweiterten Realität. Die Passanten können an der Wand einen QR-Code einlesen, wodurch auf dem Smartphone ein Video zum Thema aufgerufen wird.“

Foto: ChemiS

Es ist nicht die erste Zusammenarbeit mit einer großen Hilfsorganisation, bei der ChemiS seine Kunst einsetzt. Er nutze jede Gelegenheit, mit Wandbildern auf soziale Themen und gesellschaftliche Probleme aufmerksam zu machen, sagt der Künstler und erklärt bei dieser Gelegenheit den Unterschied zwischen einem Mural und Graffiti:

„Beim Graffiti geht es eher um Buchstaben und den eigenen Namen. Bei Murals oder Street-Art wird etwas bildlich dargestellt, und zwar grafisch oder auch realistisch, so wie ich das etwa mache. Allerdings kann Graffiti ebenfalls großflächig sein und letztlich in ein Mural münden. Es gibt keine Maße, die erfüllt werden müssen. Entscheidend ist stattdessen, was dargestellt wird. Ein Mural kann zum Beispiel auch ein dreistöckiges Graffiti sein, wenn es eben groß ist und vor allem legal angefertigt wurde. Graffiti bewegt sich immer noch auf der illegalen Ebene.“

Murals mit Menschenrechtsthemen für Amnesty International

ChemiS ist künstlerisch tätig, seit er 16 Jahre alt war. In seiner mehr als 20-jährigen Karriere hat er verschiedene Disziplinen ausprobiert…

„Ich habe ganz klassisch mit Graffiti angefangen. Das heißt, ich bin nachts mit den Sprayflaschen unterwegs gewesen. Mit der Zeit wollte ich dann neue Dinge ausprobieren, also Figuren malen und ähnliches. Ich war Fan von Rap-Musik, und beim Rap ging es damals viel um soziale Aspekte. Daher interessierten mich solche Themen schon immer, und ich wollte diese Gedanken in eine Bildform übertragen. Mit Buchstaben ging das nicht, also habe ich mich auf Figuren und ihre Aktivitäten konzentriert.“

Seine erste legale Arbeit sei ein Bild namens „Memento mori“ an einer Wand im mittelböhmischen Benešov / Beneschau gewesen. Damit habe er auf die Sinnlosigkeit vieler Tode hinweisen wollen, sagt ChemiS, und deswegen Krieg, einen Autounfall oder auch Drogensucht dargestellt.

Bald wurden die Inhalte aber politischer. So übernahm ChemiS etwa vor einigen Jahren die Schirmherrschaft über das Projekt „Write for Freedom“ von Amnesty International. Mit zwei weiteren jungen Sprayern habe er sich damals auf den Weg gemacht, so der Künstler:

„Es fand eine zweimonatige Reise durch die Länder Süd- und Osteuropas statt, und in vielen Städten entstanden Malereien. Eine der ersten war eine Erinnerung an den Holocaust in Auschwitz. Weitere Themen waren Recycling und Umweltschutz, Gewalt gegen Frauen und Kinder, dann Menschenhandel oder auch Terrorismus. Das ist schon 14 Jahre her, und dies waren Themen, zu denen damals Gesetze entstanden. Über die Reise gibt es einen Dokumentarfilm auf YouTube. Darin ist der Amateurcharakter des Ganzen sehr schön zu erkennen – dass also jeder mit seinen Aktivitäten etwas in Gang setzen kann. Dazu sind keine großen Finanzen oder Ausstattung nötig. Es reicht, wenn man losgeht und etwas tut.“

Foto:  ChemiS

Und mit diesem Ansatz hat es ChemiS auch an die Hall of Fame für Graffiti in New York gebracht – bisher als einziger Sprayer aus Tschechien. Er sei einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, kommentiert ChemiS bescheiden. Dieser Ort war Louisiana in den USA…

„Dort hatte ich ein gemeinsames Projekt mit einem Graffiti-Künstler aus New York. Er lernte mich kennen und sah sich an, wie ich arbeite und male. Daraufhin sagte er, er würde sich freuen, gemeinsam mit mir und dort ansässigen Künstlern in New York die Hauptwand der Hall of Fame zu bemalen. Das war für mich bis dahin unvorstellbar. Ich habe natürlich zugesagt, bekam aber ein wenig Angst. Denn ich war damals knapp über 20 und alle anderen schon um die 50. Sie hatten bereits Karriere gemacht und waren in der weltweiten Graffitiszene sehr berühmte Persönlichkeiten. Also hatte ich großes Lampenfieber und fühlte mich verantwortlich, dort mein Bestes zu leisten. Aufregend war auch, dass wir eben die Hauptwand bemalen durften. Mich kannte zu der Zeit noch niemand – weder in Europa und schon gar nicht in Amerika. Darum musste derjenige, der mich dorthin eingeladen hatte, dafür garantieren, dass ich auch der Richtige bin für diese Ehre, an diesem Ort mit ihm zu arbeiten.“

Weinender Masaryk

Neben großen Projekten im Ausland ist ChemiS aber auch in Tschechien aktiv. Berühmt ist etwa sein weinender Tomás Garrigue Masaryk in Olomouc / Olmütz. Mit dieser Darstellung des ersten demokratischen Präsidenten der Tschechoslowakei habe er 2018 auf die politische Entwicklung hierzulande regiert, erläutert der Sprayer.

Weinender Masaryk | Foto: ChemiS

In letzter Zeit ist es wiederum der Krieg Russlands in der Ukraine, den ChemiS in seinen Arbeiten thematisiert. Im März 2022 machte er mit einem Mural im Prager Stadtteil Nusle von sich reden. Darauf ist ein ernst schauendes Mädchen zu sehen, das seine Plüschfiguren unter einer ukrainischen Flagge zu schützen versucht. Der Autor erzählt, wie es dazu kam:

ChemiS | Foto: Olga Vasinkevič,  Radio Prague International

„Als die russische Armee in die Ukraine einfiel, gab es erst einmal diesen Schock, der nach einer Woche etwas nachließ. Alle Medien berichteten nonstop, und ich realisierte langsam, was eigentlich Schreckliches geschehen war und dass ich darauf reagieren sollte. Es gab die vielen Flüchtlinge, die nach Polen, in die Slowakei und nach Tschechien kamen. Da ich neben dem Kongresszentrum wohne, bekam ich mit, wie die Autobusse eintrafen. Ich sah, wie die Mütter mit ihren Kindern und den Taschen vor dem Gebäude übernachteten und auf die Registrierung warteten. Also wollte ich einfach ausdrücken, dass uns Menschen in Tschechien klar ist, dass das Geschehen in der Ukraine auch der Kampf für unsere Freiheit und unsere Werte ist.“

Seine Anfragen bei der Stadtteilverwaltung, eine Wand zur Verfügung zu stellen, seien erfolglos gewesen, berichtet ChemiS weiter. Also habe er den Besitzer jenes Hauses angesprochen, an dem das Bild dann auch entstanden ist. Obwohl es sich in einer Seitenstraße befindet, war die Stelle doch offensichtlich auffallend genug.

Foto:  ChemiS

„Letztlich wurde die Wand zu einem Ort, zu dem die Ukrainer hinfuhren, um sich das Bild anzuschauen und ihren Familien Fotos davon zu schicken. Ich habe das Gefühl, dass sie es teilten, weil sie wussten, dass sie in Tschechien in Sicherheit und willkommen sind. Es zeigte ihnen auch, dass der Kampf in der Ukraine einen Sinn für Europa hat.“

ChemiS selbst lässt bis heute Fotos von dem Wandbild auf A3-Format drucken und verkauft sie für einen guten Zweck. Über 200.000 Kronen (7900 Euro) sind dadurch bereits zusammengekommen. Mit der einen Hälfte wurden ein Jahr lang Graffiti-Workshops für Kinder ukrainischer Geflüchteter finanziert, die andere Hälfte ging an ein Hilfszentrum in Nusle.

Foto: ChemiS

Mehr offizielle Unterstützung fand der Künstler mit einem weiteren Werk, das auf das Geschehen in der Ukraine verwies. So war die Vorsitzende des tschechischen Abgeordnetenhauses, Markéta Pekarová Adamová (Top 09), anwesend, als vergangenes Jahr im Februar ein Mural von ChemiS auf dem Kleinseitner Platz in Prag enthüllt wurde. Diesmal zeigte es ein singendes Mädchen, das auf den Trümmern seiner Heimatstadt steht. Vorbild war die damals siebenjährige Amelia, die in vielfach geteilten Videos zu sehen ist, wie sie im Luftschutzbunker in Kiew gegen die Angst ansingt.

Besser als Werbeposter

Nun ist besonders der urbane Raum oft überfüllt von Plakaten, Werbebannern und auch Graffitis. Warum er ein Mural dennoch für eine gute Methode hält, um auf wichtige gesellschaftliche Themen aufmerksam zu machen, begründet ChemiS so:

Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

„Die Menschen verstehen, dass es sich nicht um Reklame handelt. Es wird also nicht irgendein Produkt auf einem Billboard dargestellt. Man erkennt dies allein schon daran, dass das Bild direkt auf die Wand gemalt ist und nicht auf eine Plane. Dadurch weckt es Interesse. Zudem ist es als künstlerische Malerei zu einem Thema konzipiert und nicht als Produktangebot oder Marketing. Der Zusammenhang muss aber erkennbar sein, denn die Bilder werden oft für Organisationen angefertigt, die Spendengelder brauchen. Es ist also wichtig, auf ihre Arbeit zu verweisen und den Betrachter aufzuklären.“

Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

Genau dies ist die Absicht, die ChemiS mit seinem neuesten Mural für Ärzte ohne Grenzen verfolgt. Die Darstellung des Mädchens mit den Beinprothesen soll die Betrachter möglichst animieren, die Arbeit der NGO finanziell zu unterstützen. Das Mädchen unter der ukrainischen Flagge jedenfalls hat vor zwei Jahren – neben seiner künstlerischen und emotionalen Wirkung – eine solche praktische Unterstützung bereits ermöglicht. Das mache das Bild für ihn selbst zu einer seiner wichtigsten Arbeiten, unterstreicht ChemiS:

„Es hängt auch bei mir zu Hause. Immer, wenn ich daran vorbeigehe, denke ich daran, was alles darum herum geschehen ist, wie viel Geld wir dadurch sammeln und wie vielen Menschen wir helfen konnten. Das weiß ich sehr zu schätzen.“

Autoren: Daniela Honigmann , Olga Vasinkevič
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