Theorie der Unbildung? 10 Jahre Bologna-Prozess in Tschechien und Europa
Vor 200 Jahren wurde in Berlin die Humboldt-Universität gegründet, vor 175 Jahren starb ihr Mitbegründer und Namensgeber, der Gelehrte und Staatsmann Wilhelm von Humboldt. Das Humboldt-Jahr 2010 sei ein äußerst passender Zeitpunkt für eine Bildungsdebatte, wie sie derzeit in Europa mit zunehmender Leidenschaft geführt wird. Das findet der Wiener Philosoph und Essayist Konrad Paul Liessmann, der vergangene Woche in Prag zu Gast war.
„Sich mit Humboldt auseinander zu setzen bedeutet ja schon, genau diese Frage zu stellen, was wir aus der Tradition der vergangenen Jahrhunderte weglassen können und was wir lieber nicht weglassen dürfen“, so Konrad Paul Liessmann in der bis auf den letzten Platz gefüllten großen Aula der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität.
Gerne beschwöre man heute das Zeitalter der Wissensgesellschaft und sehe in ihr die Zukunft des rohstoffarmen Europa, das sich nach Ansicht vieler Politiker und Ökonomen am Wendepunkt weg von der industriellen Arbeit, hin zu den so genannten „wissensbasierten Tätigkeiten“ befinde, so der österreichische Philosoph und Essayist.„Auf den ersten Blick könnte es erscheinen, als ob der alte Traum der Aufklärung vom umfassend gebildeten Menschen in einer informierten Gesellschaft endlich Realität gewinnt. Der zweite Blick allerdings ist höchst ernüchternd. Denn vieles von dem, was unter dem Titel Wissensgesellschaft gegenwärtig propagiert und proklamiert wird, erweist sich beim genaueren Hinsehen oft - nicht immer, aber oft - als eine rhetorische Geste, die weniger einer Idee von Bildung als handfesten politischen und ökonomischen Interessen geschuldet ist. Weder ist die Wissensgesellschaft nämlich ein Novum, noch löst sie die Industriegesellschaft ab. Eher noch lässt sich diagnostizieren, dass die zahlreichen Reformen des Bildungswesens auf eine Industrialisierung und Ökonomisierung des Wissens abzielen, womit die Vorstellungen klassischer Bildungstheorien geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden.“
Die alles entscheidende Frage sei, ob das Wissen noch die zentrale Existenzgrundlage der Universitäten und sonstigen wissenschaftlichen Einrichtungen sei, meint der Präsident der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, Jiří Drahoš:
„Diese Frage stelle ich mir in der jüngsten Zeit immer häufiger. Wir alle sehen die Bestrebungen zur Industrialisierung der Bildung, des Denkens. Die Welt reduziert sich immer mehr auf ein Fließband. Die Wissenschaftler werden so zu Akkordarbeitern der Forschung. Am Ende des Bandes fallen dann die Produkte unserer Tätigkeit herunter. Unser geniales System zur Evaluierung von Forschung und Entwicklung wird sie genau beschreiben, bewerten und verpacken, um sie dann irgendwo hinzuschicken.“Konrad Paul Liessmann ergänzt:
„Es geht um Produktionsstätten eines Wissens, das möglichst rasch in Technologien und damit in die Zone der ökonomischen Verwertbarkeit transferiert werden soll. Wer von Universitäten als Unternehmen spricht, die, geführt nicht mehr von Rektoren, sondern von Wissensmanagern, Wissensbilanzen legen und daran gemessen werden, ob das darin offenbar gewordene Verhältnis von Input und Output rentabel erscheint, wer so von Universitäten spricht, muss all jene industriellen Verfahren und die ihnen zugrunde liegenden betriebswirtschaftlichen Parameter auf das Wissen selbst anwenden können, wenn das Ganze einen Sinn ergeben soll. Vieles, was gegenwärtig unter dem Titel der Effizienzsteigerung zur Reform des Bildungswesens unternommen wird, gehorcht schlicht dem Prinzip der Industrialisierung.“
Die viel gerühmte Modularisierung von Studienprogrammen sei etwa Ausdruck dieser Industrialisierung von Bildung, die europaweit einheitlichen ECTS-Punkte zur Beurteilung der Studienleistung die Industrienorm des modernen europäischen Wissenschaftssystems.
Der Rektor der Prager Karlsuniversität, Václav Hampl, weist auf ein weiteres Problem der aktuellen Bildungsdebatte hin, die in Tschechien ebenso leidenschaftlich geführt wird, wie in anderen Ländern:
„Wir Wissenschaftler sind in den vergangenen Jahren wiederholt dazu aufgefordert worden darzustellen, wie die Hochschullandschaft hierzulande aussehen soll, wie wir uns die Zukunft von Wissenschaft und Bildung vorstellen, wie wir das alles reformieren wollen. Auch in den Hörsälen unserer Universität ist viel über die Reformpläne, über diese Weißbücher zur Bildungspolitik diskutiert worden. Die Thesen von Konrad Paul Liessmann decken sich in vielen Punkten mit dem, was die Karlsuniversität in die tschechische Bildungsdebatte eingebracht hat. Besonders freut mich, dass Professor Liessmann die ständige Reformdebatte ausführlich und sehr kritisch analysiert. Ich denke, dass wir nach der Reform der Reform der Reform jetzt einmal für eine zeitlang mit dem Reformieren aufhören sollten, damit wir wieder Zeit für unsere eigentliche Arbeit haben.“
Lange Zeit zeigten sich die Politiker unbeeindruckt von den Einwänden vieler Wissenschaftler und drängten auf immer neue Reformen, um dem Ziel von noch mehr Effizienz und sofortiger praktischer Anwendbarkeit näher zu kommen. Dabei standen vor allem geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Studien unter starkem Erfolgsdruck. Das Gespenst der teuren, nutzlosen Orchideenfächer beherrschte die Bildungsdebatte.In Tschechien, in Deutschland, in Österreich:
„Wir hatten einen sehr jungen, dynamischen, marktorientierten Finanzminister, dessen Ideal das Nullbudget war. Kein Defizit des Staatshaushaltes, deshalb musste eingespart werden. Und natürlich kann auch an der Bildung eingespart werden und natürlich kann dort eingespart werden, wo Bildung nutzlos ist. Und dieser junge, dynamische, selbst nicht besonders gebildete Finanzminister kam auf die Idee, man könnte sich doch Fächer, wie zum Beispiel Orientalistik, die niemand braucht und die niemanden interessieren, ersparen. Kaum hat er diesen Vorschlag gemacht, gab es das tragische Attentat in New York. Und plötzlich suchte nicht nur das FBI - sie werden es nicht glauben - Orientalisten“, so Liessmann.
Doch mittlerweile sei bei einigen Politikern ein zaghaftes Umdenken zu bemerken. Mitte März in Wien und Budapest, auf der Konferenz zum zehnjährigen Jubiläum des so genannten Bologna-Prozesses, hätten die EU-Bildungsminister erstmals eingestanden, dass der angestrebte Europäische Hochschulraum zu wenig auf die umfassende Bildung im humanistischen Sinn Rücksicht nehme. Er sei überrascht gewesen, wie offen manche Politiker ihre Kritik geäußert hätten, so Liessmann. Erst kürzlich habe er außerdem bei einer Diskussion erfahren, "dass die deutsche Bildungsministerin, Frau Schavan, dieses Problem erkannt hat und per Verordnung festlegen möchte, dass 15 Prozent eines Studiums der wahren Bildung gewidmet sein müssen. Sie spüren die Ironie. Sie hat das richtige Problem erkannt, will es aber mit genau der falschen Methode lösen, die überhaupt erst zu diesem Problem geführt hat: alles beziffern, alles quantifizieren.“Philosoph Liessmann betont, er habe nichts gegen praxisorientierte Ausbildungen in technischen oder naturwissenschaftlichen Fächern. Und zur Ausbildung ihrer künftigen Mitarbeiter müsse und solle die Privatwirtschaft ihren Beitrag leisten. Doch an den Universitäten als Stätte der integrierten Lehre und Forschung sei jede Marktorientierung völlig fehl am Platz. Wissenschaftliche Neugier und Kreativität sei nicht plan- oder steuerbar, sie brauche maximale Freiheit. So wie es Wilhelm von Humboldt vor 200 Jahren gefordert hat:
„Unter dieser Perspektive umschreibt Bildung - für Humboldt zumindest - schlechthin das Programm der Menschwerdung durch die geistige Arbeit an sich selbst - Selbsterkenntnis - und an der Welt - Welterkenntnis. Das allerdings bedeutet natürlich auch die Aneignung von Wissen über sich und die Welt sowie die sinnvolle Auseinandersetzung mit diesem Wissen. Auch wenn Wissen nicht identisch ist mit Bildung, gibt es keine Bildung ohne Wissen. Die Idee der Wissenschaft als die geistige Durchdringung der Welt um der Erkenntnis willen ist von der Idee der Bildung nicht zu trennen.“
Ein Grundsatz, der in den vergangenen Jahren bei so manchem europäischen Politiker wenn nicht in Vergessenheit geraten, dann zumindest in den Schatten von Wirtschaftlichkeitsrechnungen und Marktanalysen getreten sein dürfte. Die Erkenntnisse der jüngsten Bologna-Jubiläumskonferenz würde aber ebenso zaghaften Anlass zur Hoffnung auf eine Trendwende geben, wie es die europaweiten Studentenproteste vom vergangenen Herbst getan hätten, meint Konrad Paul Liessmann.Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Zsolnay 2006