Thomas und Heinrich Mann – Warum die deutschen Schriftsteller Tschechoslowaken wurden
Thomas und Heinrich Mann nahmen nach Hitlers Machtergreifung, Mitte der 1930er Jahre, die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft an. Dieses Thema hat der Journalist Peter Lange aufgegriffen. Er hat sich mit der Beziehung der berühmten deutschen Schriftstellerfamilie Mann zu den Tschechen beschäftigt und im März 2021 dazu ein Buch herausgegeben. Lange arbeitet als ARD-Korrespondent in Prag. Im Interview spricht er über seine Recherche, den Ort Proseč und das Erbe der Manns in Tschechien.
Herr Lange, Anfang des Jahres 2021 ist ihr Buch „Prag empfing uns als Verwandte – Die Familie Mann und die Tschechen“ erschienen. Wie ist die Idee zu dieser Veröffentlichung entstanden?
„Ich befasse mich schon seit 25 Jahren mit dem Thema ‚Exil nach 1933‘. Als sich im Frühjahr 2016 herausstellte, dass ich als Korrespondent nach Prag gehen werde, habe ich meine Bücher durchgestöbert, um herauszufinden, wer von den Emigranten in Prag war. Die Stadt hat als erste Exilstation nach 1933 eine wichtige Rolle gespielt. Bei den Recherchen bin ich dann auf die Familie Mann gestoßen. Ich habe entdeckt, dass sie zeitweilig tschechische Pässe hatten. Ich bin dem für Recherchen zu einem Radio-Feature für den Sender Deutschlandradio Kultur nachgegangen. Durch die Fülle an Material zu diesem Thema habe ich mich dazu entschieden, die Geschichte der Beziehung zwischen der Familie Mann und der Tschechoslowakei weiter zu erforschen. Man findet in Briefen und Biografien Hinweise dazu, aber sie sind alle sehr zerstreut. Ich wollte eine Gesamtdarstellung liefern.“
Wie entstand die Verbindung der berühmten deutschen Schriftsteller zur Tschechoslowakei?
„Schon zur Zeit des Habsburger Reiches waren Heinrich und Thomas Mann zu Lesungen in Prag. In den 1920er Jahren war Heinrich Mann dann öfter in Prag, weil er familiäre Verbindungen hatte. Seine erste Frau war Tschechin. Er hat auch an der Uraufführung eines Theaterstücks mitgewirkt, das er selbst geschrieben hatte. Bei dieser Gelegenheit führte er auch ein Gespräch mit Tomáš Masaryk, dem Gründungspräsidenten der Tschechoslowakei. Alles Weitere basierte auf diesen ersten Kontakten im Land. Auch später hatten die Manns noch Verbindungen zum Präsidenten, der dann aber Edvard Beneš hieß, und zur Kulturszene. Während der Zeit der Emigration waren zudem Familienmitglieder in Prag. Klaus Mann, der älteste Sohn von Thomas Mann, hatte Kontakte zur Exilszene. Erika Mann war mit ihrem Kabarett ‚Pfeffermühle‘ auf drei Tourneereisen hier, und Golo Mann hat sogar ein Semester in der Tschechoslowakei studiert.“
Warum ist so wenig bekannt über die Verbindung zwischen der Familie Mann und der Tschechoslowakei?
„Man muss sich das Thema schon genauer anschauen, um zu erkennen, welche Bedeutung es wirklich hat.“
„Ob wenig darüber bekannt ist, weiß ich nicht. Es gibt in Tschechien einen Stapel mit Literatur und Studierende, die sich in Abschlussarbeiten mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Außerdem ist schon in den 1960er Jahren eine Publikation dazu erschienen. Aus meiner Sicht ist das Thema eher in Deutschland unbekannt. In den Biografien tauscht nur wenig dazu auf, und es ist eben auch nur eine kleine Episode in dem reichhaltigen Leben von Thomas und Heinrich Mann. Man muss sich das Thema schon genauer anschauen, um zu erkennen, welche Bedeutung es wirklich hat.“
Die Staatsbürgerschaft wurde den Beiden im Ort Proseč verliehen. Wieso wurde dieser Ort gewählt?
„Nicht Heinrich und Thomas Mann haben den Ort gewählt, sondern der Ort hat sie ausgewählt. Rudolf Fleischmann, aus Proseč und begeisterter Mann-Leser setzte sich dafür ein, dass Heinrich Mann die Staatsbürgerschaft bekam und durch diesen auch Thomas. Die Staatsangehörigkeit in der Tschechoslowakei konnte man nur bekommen, wenn man vorher eine Stadt fand, die einem das Heimatrecht verlieh. Dafür verantwortlich war der Stadt- oder Gemeinderat. Rudolf Fleischmann gehörte dem Stadtrat von Proseč an und sorgte dafür, dass dieser der Verleihung des Heimatrechtes zustimmt. Damit war die Voraussetzung für die Erteilung der Staatsbürgerschaft gegeben.“
Der Titel ihres Buches „Prag empfing uns als Verwandte“ sagt bereits viel über das Verhältnis zu den Tschechen aus. Wie reagierte die Öffentlichkeit der Tschechoslowakei auf die beiden deutschen Schriftsteller?
ZUM THEMA
„Ein Teil der Öffentlichkeit in der Tschechoslowakei war davon sehr angetan, denn sie hatten erstmals einen Literaturnobelpreisträger in ihren Reihen und waren geschmeichelt. Rudolf Fleischmann hätte gern gesehen, dass sich Thomas Mann dauerhaft in Prag niederlässt. Die politische Rechte war eher zurückhaltend. Sie hatten Angst, dass das Konsequenzen nach sich ziehen würde, weil das in Nazideutschland schlecht ankam. Nachdem Heinrich Mann eingebürgert wurde, gab es das, was man heute einen Shitstorm nennen würde. Sämtliche deutsche Zeitungen berichteten negativ darüber. Es gibt auch Angaben von Rudolf Fleischmann, dass Leute auf ihn angesetzt worden seien, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen.“
Wie haben Thomas und Heinrich Mann ihre Erlebnisse in der Tschechoslowakei geschildert?
„Sie haben sie nicht geschildert. Aufzeichnungen tauchen nur in den Tagebüchern und Briefen auf. Das Titelzitat stammt aus dem Erinnerungsband von Heinrich Mann. Als er das aufschrieb, war er jedoch schon in Amerika. Heinrich Mann ist als Staatsbürger der Tschechoslowakei nie wieder in das Land zurückgekehrt. Er emigrierte über Frankreich und Spanien nach New York. Aber er behielt seinen Pass, der auch noch einmal verlängert wurde. Eigentlich ist Heinrich Mann als Tschechoslowake gestorben. Sein Bruder reiste im Januar 1937 noch einmal in die Tschechoslowakei und war in Proseč, um sich bei Rudolf Fleischmann für dessen Unterstützung zu bedanken. Er war ihm immer sehr verbunden, und der Kontakt hielt bis in die 1940er Jahre. Thomas Mann hat das aber in keiner weise literarisch verarbeitet, weder in Essays noch in anderen Schriften.“
Es gibt also keine Werke, die von der Tschechoslowakei inspiriert waren?
„Heinrich Mann schrieb den Roman ‚Lidice‘, nachdem er in den USA vom Massaker im gleichnamigen Ort erfahren hatte.“
„Bei Thomas Mann nicht, aber bei Heinrich Mann. Er hat den Roman ‚Lidice‘ geschrieben, nachdem er in den USA vom Massaker im gleichnamigen Ort erfahren hatte. Es ist ein Dialogroman, der mit den realen Abläufen in diesem Ort nichts zu tun hat. Er wollte damit den Charakter der Nazis zeigen. Die Tschechoslowaken im Exil haben nicht verstanden, was er mit dem Werk ausdrücken wollte. Heinrich Mann legte deswegen auch keinen Wert darauf, dass der Roman weiterverbreitet wurde. In Westdeutschland ist er erst in den 1980er Jahren erschienen.“
Wie lange haben Sie für Ihr Buch recherchiert?
„Das ist schwer zu sagen, weil es neben meiner Arbeit als Korrespondent passierte und immer wieder unterbrochen wurde. Die ganze Geschichte beschäftigt mich seit Frühjahr 2016. Im März 2021 ist das Buch dann erschienen. Die Pandemie lag also auch noch dazwischen. Insgesamt, denke ich, waren es vier Jahre, in denen ich recherchiert und geschrieben habe.“
Welche Quellen haben Sie genutzt, und wie sind Sie an diese gekommen?
„Die Quellen zu finden war nicht schwer, weil diese in den vorhandenen Veröffentlichungen angegeben sind. In den Tagebüchern und Briefbänden lassen sich viele Informationen finden. Von Thomas Manns Briefen gibt es ein dreibändiges Werk, das schon seit einigen Jahren existiert. Das musste man also nur zusammentragen. Wenn man weiß, auf welche Namen man im Register achten muss, kommt man schnell an die Fundstellen und kann die einzelnen Puzzleteile zusammensetzen. Außerdem hatte ich das Glück, dass eine Kollegin von mir auf der Prager Burg war und im Präsidentenarchiv zu einem anderen Thema recherchiert hat. Sie ist dabei auf zwei Kästen mit der Aufschrift „Heinrich und Thomas Mann“ gestoßen. Darin war die gesamte Korrespondenz der Brüder mit den Präsidenten erhalten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte niemand diese Informationen verarbeitet.“
Findet man heute noch Spuren der Familie Mann in Prag?
„Ganz sicher findet man die. Der Enkel von Heinrich Mann, Jindřich Mann, lebt in Prag und hat das Vorwort für das Buch geschrieben. Es gibt natürlich auch die Orte, an denen sich die Manns aufgehalten haben, zum Beispiel das Café Louvre oder das Gebäude, in dem Erika Mann mit ihrem Kabarett aufgetreten ist. Auch die Bürger von Proseč setzen sich mit diesem Kapitel auseinander. Der Bürgermeister hat gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe recherchiert. Sie wollen die Geschichte, die ihren Ort betrifft, sichtbar machen und zeigen, dass die Stadt etwas vorzuweisen hat. Zu kommunistischen Zeiten war dieses Kapitel verschüttet und vergessen. Am ehemaligen Rathaus, in dem Thomas Mann den Bürgerbrief bekam, hängt seit letztem Jahr eine Plakette, die daran erinnert. Der Grabstein von Rudolf Fleischmann hat die Aufschrift: ‚Das ist der Mann, der dafür gesorgt hat, dass die Gebrüder Mann zu Tschechen wurden.‘ Wenn man genau hinschaut, sieht man die Spuren, aber es sind nicht allzu viele.“
Nehmen wir an, Sie hätten die Möglichkeit, heute mit Thomas Mann zu sprechen, was würden Sie ihn fragen?
„Das ist eine schwere Frage. Ich würde ihn fragen, ob er damals wirklich ein schlechtes Gewissen hatte, als er 1938 mit dem tschechischen Pass nach Amerika übergesiedelt ist. Man bekommt aus den Tagebüchern und den Briefen an Präsident Beneš den Eindruck, dass ihm das auf der Seele lag. Ich glaube, ihn hat damals schwer beschäftigt, dass er nach zwei Jahren den Eindruck erweckte, er habe den Pass nur haben wollen, um auswandern zu können.“
Gehen Ihre Recherchen weiter?
„In diesem Feld erstmal nicht. Das ist eine abgeschlossene Geschichte. Ich wüsste auch nicht, was Neues dazukommen könnte. Es gibt den Aspekt, dass Golo Mann in den 1960er Jahren mit einem Begleiter in Prag war und für sein Wallensteinbuch recherchiert hat. Dieser Begleiter hat sich nach der Veröffentlichung meines Buches gemeldet und mir seine Geschichte erzählt. Wenn es also eine Neuauflage geben sollte, wüsste ich, an welcher Stelle etwas hinzukommt.“
Peter Lange: „Prag empfing uns als Verwandte – Die Familie Mann und die Tschechen“, 384 Seiten, Vitalis-Verlag 2020, ISBN 978-3-89919-703-7