Tschechien und die Sudetendeutschen: Historische Problematik am Rande des Weges ins gemeinsame Europa
Im Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Union ist oft vom Verschwinden der Grenzen die Rede. Historisch verwurzeltes Misstrauen aber lässt sich bekanntlich nicht einfach aus der Welt regeln. So gilt etwa in Tschechien die Diskussion rund um die Vertreibung der "Sudetendeutschen" nach dem zweiten Weltkrieg immer noch als medialer Aufreger. Der politische Alltag aber, der sieht dann oft doch ganz anders aus. Gerald Schubert berichtet:
"Ein Aspekt, der sich in den letzten fünf oder sechs Jahren herauskristallisiert hat, ist eine gewisse Kluft zwischen dem, wie das Problem in Prag oder den politischen Zentren betrachtet wird, und dem, wie man es in der Provinz sieht. Also in jenen Teilen Böhmens, Mährens und Schlesiens, die davon wirklich unmittelbar betroffen sind, wo wirklich Leute vertrieben wurden. Genau dort gibt es mittlerweile ein relativ dichtes Netz von verschiedenen gemeinsamen Initiativen und grenzüberschreitenden Kooperationen, was aber leider von Prag und auch von Deutschland nicht ausreichend gewürdigt wird."
Dass Sudetendeutsche einst geholfen hatten, den Nationalsozialisten den Weg in die Tschechoslowakei zu ebnen, das sitzt tief im historischen Bewusstsein vieler Tschechen. Kollektive Schuldzuschreibungen aber können heutzutage immer schwieriger aufrechterhalten werden. Ein jüngst vom Prager Abgeordnetenhaus beschlossenes Gesetz stellt zwar fest, Edvard Benes, der erste tschechoslowakische Nachkriegspräsident und Verfasser der umstrittenen Benes-Dekrete, habe sich um den Staat verdient gemacht. Das diplomatische Hoch in den tschechisch-deutschen Beziehungen konnte das aber nicht wirklich trüben. Und auch der Großteil der Bevölkerung ist eher an praktischen Fragen bezüglich der Zukunft in der EU interessiert als an abstrakten Paragraphen über einen Staatsmann der Vergangenheit. Parallelen lassen sich da selbst in Zeiten der kommunistischen Herrschaft finden:
"Das Interessante an der deutschen Minderheit war ja immer, dass es sie zwar offiziell gegeben hat, dass sie aber lange Zeit totgeschwiegen wurde", meint der Politologe Robert Schuster, der selbst aus der Verbindung eines Sudetendeutschen und einer Tschechin stammt. "Im Gegensatz zur polnischen Minderheit im Norden Mährens oder der damaligen ungarischen Minderheit in der Slowakei gab es zum Beispiel keine zweisprachigen Aufschriften auf Geschäften. Und auch der allgemeine Verkehr in der Sprache der Minderheit wurde sehr stark unterbunden. Aber ich habe da eine Erinnerung aus meiner Kindheit: Ich komme aus einer Gegend, die den höchsten Anteil der deutschen Minderheit hatte. Und ich kann mich sehr gut erinnern, dass da auf der Straße ganz offen deutsch gesprochen wurde, in diesem Egerländer Dialekt, in dem sich meine Großmutter mit ihren Freundinnen unterhalten hat, und der auch im öffentlichen Leben ganz einfach gebraucht wurde."
Auch im öffentlichen Leben des heutigen Tschechien gibt es viele Beispiele für einen unbefangenen Umgang miteinander. Dass manche Medien und manche Politiker hier noch hinterherhinken, das muss man wohl als Nachwehen eines historischen Traumas interpretieren.