Tschechien und Slowakei: zwei Wege nach Europa?
Vor 25 Jahren haben sich Tschechien und die Slowakei getrennt. In Europa sind sie aber irgendwie wieder vereint.
„Sonderlich viel spricht man auch bei uns nicht über die Europäische Union, und wenn, dann gehen die Meinungen auseinander. Dennoch schätzt man die Union sehr wegen der vielen Vorteile, die sie den Slowaken gebracht hat. Gemeint sind damit nicht nur die finanziellen Boni, sondern vor allem auch die Freizügigkeit.“
Ein Blick auf die Ergebnisse von Eurobarometer belegt das: Von Bratislava bis Košice liegt die Zustimmung zur EU bei 52 Prozent. Doch sind die Slowaken wirklich so viel EUphorischer als die Tschechen? Vít Beneš sagt: Jein. Er ist Politologe am Prager Institut für internationale Beziehungen:„Es wäre zu einfach zu sagen, dass die Slowaken tatsächlich so Europa-begeistert sind. Die Stimmung in der Slowakei hat vielmehr mit Entscheidungen zu tun, die Bratislava in der Vergangenheit gefällt, Prag hingegen verpasst hat. Und die waren eher pragmatischer Natur, weniger aus einer Begeisterung für Europa heraus. Vor allem denke ich da an den Euro. Die Slowaken wollten die Gemeinschaftswährung, und sie haben irgendwann gemerkt, dass sie auch funktioniert.“
Historische Lehren in der Slowakei
Bei den Slowaken ist die Wirtschaft ein wichtiger Faktor, um eher positiv gegenüber Europa eingestellt zu sein. Man ist beispielsweise durch den Euro eng mit dem „Kern“ Europas verbunden, man fühlt sich sogar als dessen Teil. Doch diese Einstellung der Slowaken gegenüber Europa hat tiefere Wurzeln und ist direkt mit der Trennung der Tschechoslowakei und der unmittelbaren Zeit danach verbunden:„Die pro-europäische Einstellung der slowakischen Politik, aber auch der slowakischen Zivilgesellschaft, hat viel mit historischen Erfahrungen zu tun. Ich denke da vor allem an die Isolation in der Zeit von Premier Vladimír Mečiar. Die heutigen slowakischen Politiker sind sich bewusst, wie hart es nach dieser Zeit war, mit Tschechien gleichzuziehen. Wobei die Slowaken auch den anderen Staaten der Visgrád-Gruppe bei der europäischen Integration hinterherkommen musste.“
Man wolle in Bratislava eine ähnliche Situation wie in den 1990er Jahren möglichst vermeiden, so Beneš. Man wolle bewusst nicht isoliert sein in Europa, und das habe großen Einfluss auf die Einstellung der Slowaken zur europäischen Einheit.Dogma des Pragmatismus
Euro, klares Bekenntnis zu Kern-Europa und sogar eine im Visegrád-Vergleich offene Flüchtlingspolitik, Stichwort Flüchtlingslager Gabčikovo. Die slowakische Regierung des Sozialdemokraten Robert Fico scheint auf Europa zuzugehen, ganz im Gegensatz zu den V4-Kollegen aus Warschau und Budapest. Laut Vít Beneš ist das aber eher Pragmatismus. Und auch bei der Flüchtlingsfrage sei die Lage nicht ganz so eindeutig, so der Politikwissenschaftler:
„Ich würde nicht sagen, dass sich die slowakische Einstellung gegenüber einer europäischen Flüchtlingspolitik so von der tschechischen unterscheidet. Immerhin hat sich Bratislava der Klage Ungarns gegen die verbindlichen Umverteilungsquoten angeschlossen. Nichtsdestotrotz ist es gerade wegen der historischen Erfahrungen und der Angst vor der Isolation einfacher für die slowakische Politik, unpopuläre Entscheidungen aus Brüssel zu akzeptieren. Dazu gehört unter anderem der Beitritt zum europäischen Stabilitätspakt, auch um den Preis eines Falls der Regierung.“Von Opportunismus will Vít Beneš jedoch nicht sprechen, was die vergleichsweise pro-europäische Haltung der slowakischen Politik angeht. Vielmehr sei es Kalkül, aber davon lasse sich beispielsweise auch Bundeskanzlerin Angela Merkel leiten, merkt Beneš an.
In der Slowakei ist die extreme Rechte bei den jüngsten Regionalwahlen klar durchgefallen. Marian Kotleba, der gerne mit der Symbolik des klerikal-faschistischen unabhängigen slowakischen Staates kokettiert, und seine Slowakische Volkspartei haben deutlich verloren. Kotleba selbst wurde im Kreis Banska Bystrica vom Thron gestoßen und ist dort nicht länger Hauptmann. Ist das aber tatsächlich ein Bekenntnis der Slowaken zum europäischen Weg?„Die Niederlage Marian Kotlebas hat eher weniger mit Europa zu tun. Er und seine Partei sind den Slowaken einfach langweilig geworden. Kotleba hat die Ausstrahlung einer neuen Kraft auf der politischen Szene verloren. Außerdem ist den Wählern klar geworden, dass Kotlebas Programm nirgendwohin führt.“
Tschechien: der lahme Zaungast der EU
Was ist aber in Tschechien anders? Warum will man hier keinen Euro oder sich an europäische Abmachungen halten? Vít Beneš versucht sich mit einer Antwort:„Der tschechische Euroskeptizismus kommt vor allem von einer gewissen Lethargie, die sich hierzulande in der Frage breitgemacht hat. Lange haben sich die Tschechen als Musterschüler gesehen, was die europäische Integration angeht. Vor allem fehlte den Tschechen die abschreckende Erfahrung, die die Slowaken mit Mečiar hatten. Irgendwann kam aber der Punkt, an dem Tschechien zum euroskeptischsten Land Europas geworden ist. Wenn man sich Meinungsumfragen anschaut, ist es hier sogar schlimmer als in Großbritannien. Diese Lethargie hat aber nichts mit einer tiefen ideologischen Abneigung der Tschechen gegen die EU zu tun. Nur die wenigsten Tschechen würden nämlich den Ideen der lautesten EU-Gegner folgen, wie beispielsweise denen von Václav Klaus.“
Der Politologe nennt Tschechien den Zaungast in der EU. Das Land sitze auf seiner Hecke und beobachte lediglich, was passiert, so Beneš. Mittlerweile verharre man aber schon viel zu lange in dieser Position und habe wichtige Momente in der europäischen Integration verpasst. Zudem habe man sich vom ursprünglichen Gedanken verabschiedet, der Tschechien in die EU geführt hat, erinnert sich Beneš. Im Grunde sei das eine Generationen-Frage:„Die Generation, die den Kommunismus erlebt hat und die europäische Integration als letzten Schritt der Überwindung des Eisernen Vorhangs sieht, wird immer älter. Gerade das war das größte Versprechen, das hinter dem Beitritt Tschechiens zur EU stand – endgültig wieder zurück nach Europa zu kommen. Nun wächst eine Generation heran, die den Eisernen Vorhang nur aus den Geschichtsbüchern kennt. Für sie sind viele Vorteile der EU, beispielsweise die offenen Grenzen, eine Selbstverständlichkeit. Man verliert aber aus den Augen, dass diese Dinge nicht selbstverständlich sein müssen.“
Warnschüsse und wenig Bewegung
Vít Beneš sieht eine Gefahr in der Ablehnung Tschechiens gegenüber vielen Bereichen der europäischen Politik. Man könnte ins Abseits geraten, so der Politologe, auch im Vergleich zur Slowakei:„Es ist wichtig, an dem Tisch zu sitzen, an dem Entscheidungen getroffen werden. Also genau da seine Stimme gültig zu machen. Das ist meiner Meinung nach viel wichtiger, als ein zwar wirtschaftlich erfolgreicher, aber politisch isolierter Staat zu sein.“
Als abschreckende Beispiele nennt Beneš unter anderem die Schweiz oder Norwegen, die von einigen europaskeptischen Politikern zum Vorbild genommen werden. Die beiden Länder wollten sich zwar nicht an einer gemeinsamen Politik beteiligen, mussten aber trotzdem die EU-Legislative übernehmen und in die gemeinsamen Töpfe einzahlen.
Wie sieht aber die Zukunft Tschechiens in der EU aus? Vor allem die Medien im Westen zeichnen kein gutes Bild vom neuen Premier Andrej Babiš. Vít Beneš glaubt jedoch nicht, dass sich mit der neuen Regierung etwas ändern könnte:
„Ich würde Babišs Haltung zur EU eher mit der des ehemaligen Premiers Mirek Topolánek vergleichen. Dieser hatte damals eine viel Europa-freundlichere Haltung als der damalige Präsident Václav Klaus. Selbst bezeichnete sich Topolánek als Euro-Realist, also als gemäßigter Euroskeptiker. Das Etikett Euroskeptiker lehnte er seinerzeit klar ab.“Eine 180-Grad-Wende erwartet Beneš in Andrej Babišs Europa-Politik nicht. Vor allem, da er auch in der vergangenen Legislaturperiode an der Regierung beteiligt war. Und da waren keine Europa-feindlichen Töne aus seiner Richtung zu hören.