Pragmatischer Gedanke: Der Tschechoslowakismus und die Geschichte des gemeinsamen Staates

Über viele Jahrhunderte hinweg lebten Tschechen und Slowaken in unterschiedlichen Staatsgebilden. Zwar teilten sie dann in der Donaumonarchie ein ähnliches Schicksal, doch der gemeinsame tschechoslowakische Staat wurde 1918 aus pragmatischen Erwägungen geboren. Im Folgenden mehr dazu und zur Idee des Tschechoslowakismus.

So sehr die Geschichte der Tschechen und Slowaken in den vergangenen einhundert Jahren miteinander verknüpft war, so wenig gilt dies für die Zeit davor. Aber eine Ausnahme sollte erwähnt sein: Schon im 9. Jahrhundert führte das sogenannte Großmährische Reich die damaligen Bewohner des heutigen Tschechiens und der Slowakei in einem Staat zusammen.

Jan Rychlík | Foto: Khalil Baalbaki,  Tschechischer Rundfunk

Danach eroberten allerdings die Magyaren schrittweise die slowakischen Gebiete, und diese blieben bis 1918 ein Teil Ungarns. Im Westen entstand hingegen zunächst das Herzogtum und bis Ende des 12. Jahrhunderts das Königreich Böhmen – die heutigen Tschechen berufen sich daher auf eine lange Tradition der eigenen Staatlichkeit. Jan Rychlík ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Prager Karlsuniversität. Gegenüber Radio Prag International sagt er:

„Vor 1918, also vor Entstehung der Ersten Tschechoslowakischen Republik, war die Geschichte beider Völker asynchron. Es gab nur wenige Berührungspunkte. Denn die Slowaken lebten ab dem frühen Mittelalter im Königreich Ungarn, während die Tschechen ihren eigenen Staat hatten. Die Größen der tschechischen Geschichte haben daher für die Slowaken keine Bedeutung. Die Tschechen sehen Karl IV. als ihren bedeutendsten Herrscher an, wie Umfragen gezeigt haben. Für die Slowaken ist er jedoch genauso fremd wie vielleicht der französische König Louis XIV. Aber das trifft auch andersherum zu. Matthias Corvinus gilt in der slowakischen Überlieferung als guter König. Aus der tschechischen Sicht war er hingegen der Gegner von Jiří z Poděbrad, gegen den Krieg geführt wurde, und darum hat Corvinus hierzulande ein negatives Image.“

Michal Kopeček | Foto: Institut für das Studium totalitärer Regime

Erst in der Zeit des nationalen Erwachens im 19. Jahrhundert kam eine Richtung auf, die eine gemeinsame tschechisch-slowakische Nation als Idee hatte. Michal Kopeček ist Historiker an der tschechischen Akademie der Wissenschaften und erläutert:

„Der Tschechoslowakismus war jedoch nur eines von mehreren Konzepten. Ausgangspunkt war der Gedanke slawischer Gemeinsamkeiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die Hauptvertreter waren Jan Kollár und Pavel Josef Šafařík. Sie waren vor allem Gelehrte, aber auch nationale Agitatoren. Sie sahen Tschechen und Slowaken als Teile einer größeren slawischen Nation, die sich im Zuge der Modernisierung formen würde. Zugleich nahmen sie die linguistische und auch geographische Nähe gerade der Tschechen und Slowaken wahr. Ihre Idee tschechisch-slowakischer Gemeinsamkeit verschwand aber in den 1840er Jahren mit der slowakischen Sprachreform, die Ľudovít Štúr initiierte.“

Wegen dieser Reform entwickelten sich die tschechische und die slowakische Sprache voneinander weg.

Dennoch kam es Ende des 19. Jahrhunderts zur Wiederbelebung des tschechoslowakischen Gedankens. Im Mittelpunkt standen tschechische Slowakophile um Tomáš Garrigue Masaryk. Ihr Ansatz war laut Kopecký, dass die tschechische Nation bereits relativ weit entwickelt sei und die slowakische Nation unter dem Joch der Ungarn leide. 1896 entstand daher der Kulturverein Českoslovanská jednota (Tschechoslowakische Einheit), der zum einen Slowaken ein Studium an tschechischen Hochschulen ermöglichte, zum anderen die Tschechen mit Vorträgen über die Lage der Slowaken aufklärte. Politisch hatte dies aber kaum Konsequenzen. Dazu kam es erst im Lauf des Ersten Weltkriegs, als sich ein Ende der Habsburger Monarchie abzeichnete…

Tomáš Garrigue Masaryk | Foto: Library of Congress,  Wikimedia Commons,  public domain

„Berühmt wurde Masaryk mit seiner Initiative aus dem Exil für einen erneuerten tschechischen Staat. Er griff die Idee der kulturellen Nähe zur Slowakei auf. So mutierte die Initiative zu einem politischen Projekt, um eine eigenständige demokratische Republik zu schaffen, in der Tschechen und Slowaken die Mehrheit bilden würden“, so Kopeček.

Die Idee eines gemeinsamen Staates sei für viele slowakische Politiker damals attraktiv gewesen, führt der Historiker weiter aus:

„Dies war der Ausweg aus der slowakischen Unterordnung unter Budapest und der anhaltenden Magyarisierung. Und gemeinsam mit weiteren Völkern versprachen sie sich eine Freiheit in demokratischen Verhältnissen. Ich halte diese Entwicklung für sehr bemerkenswert. Zunächst hatte es sich bei der Idee nur um eine Alternative gehandelt, an die kaum jemand glaubte. Aber innerhalb weniger Jahre wurde sie zum Leitmotiv, aus dem ein Nachkriegsstaat hervorging, der zudem zu den eher erfolgreichen staatlichen Gebilden zählte.“

Slawischsprachige Nation als Staatsdoktrin

Foto: Verlag Langenscheidt

Was jedoch fehlte, war eine weiterführende tschechoslowakische Staatsidee – ein echter Tschechslowakismus…

„Der Gedanke einer tschechoslowakischen Nation wurde zur Staatsdoktrin und fand Eingang in die Verfassung von 1920. Doch damit begann auch das Problem. Denn die tschechoslowakische Nation ist dort definiert als aus Tschechen und Slowaken bestehend, also aus zwei slawischen Völkern. Es gab daneben nur eine vage Vorstellung, dass diese Nation mit der Zeit auch die nicht-slawischsprachigen Völker umfassen werde, also die Deutschen und Ungarn. Dies stand aber so nicht in der Verfassung und wurde auch von den tschechischen und slowakischen Politikern nicht unterstützt. Der Grund dafür lag unter anderem darin, dass die Mehrheit der deutschen und ungarischen Parteien sehr negativ zum neu gegründeten Staat stand“, so Michal Kopeček.

Das Ende Österreich-Ungarns nach den Pariser Vorortverträgen | Foto: AlphaCentauri,  Wikimedia Commons,  CC BY 3.0

Der Historiker nutzt den deutschen Begriff „Fehlkonstruktion“, um die Kritik der deutsch- und ungarischsprachigen Politiker an dem neuen Staat zu umreißen. Zugleich betont er den pragmatischen Ansatz, der bei der Definition der tschechoslowakischen Nation gewählt wurde. Und dass in den Vorstellungen von Masaryk und seiner Anhänger die nicht-slawischen Völker in den Staat hineinwachsen würden und damit eine Staatsnation entstünde. Zum Teil geschah dies auch in den 1920er Jahren, als unter den Deutschen viele sogenannte aktivistische Parteien entstanden. Aber letztlich sei die Tschechoslowakei an den widrigen Umständen gescheitert, so der Geschichtswissenschaftler:

„Die internationale Politik war geprägt von den starken revisionistischen Tendenzen besonders in Deutschland und Ungarn sowie dem Aufkommen von Faschismus und Nationalsozialismus. Das heißt, die Tschechoslowakei erhielt nicht genügend Zeit für die Weiterentwicklung. Zugleich fehlten aber Initiativen, um die Idee des Tschechoslowakismus in die einer echten politischen Nation umzuwandeln. Es blieb also bei diesem ethnisch-kulturellen Substrat, das zu einem starken Misstrauen bei den nicht-slawischsprechenden Völkern führte.“

Ein weiteres Problem: Auf slowakischer Seite wurde der Tschechoslowakismus wahrgenommen als politische und kulturelle Hegemonie der Tschechen im gemeinsamen Staat. Daher entstand unter slowakischen Politikern eine autonomistische Bewegung, vertreten vor allem von Andrej Hlinkas slowakischer Volkspartei.

Juraj Marušiak | Foto: TA3

Letztlich wurde am 14. März 1939 der erste eigenständige slowakische Staat ausgerufen. Dieser war jedoch nicht mehr demokratisch, sondern faschistisch. Mit der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg löste sich auch dieses Staatsgebilde auf. Damit wurde der autonomistische Gedanke fürs Erste begraben. Stattdessen habe man 1945 lieber an die Tschechoslowakei angeknüpft, sagt der Politologe Juraj Marušiak von der Slowakischen Akademie der Wissenschaften in Bratislava:

„In erster Linie war dies der Erfolg der Außenpolitik von Staatspräsident Edvard Beneš. Die westlichen Mächte und die Staaten der Anti-Hitler-Koalition wollten den Zerfall der Tschechoslowakei von 1938 und 1939 nicht akzeptieren. Sie hielten ihn für eine Folge von Hitlers Machtpolitik. Daher war ein selbständiger slowakischer Staat nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Niederlage von Nazi-Deutschland nicht mehr denkbar.“

Tschechoslowakei nach der Annexion des Sudetenlandes | Foto: e-Archiv des Nationalmuseums in Prag,  CC BY 4.0 DEED

Außerdem sei auch 1939 die Idee eines eigenständigen Staates nur von einer Minderheit der slowakischen Politiker vertreten worden, so Marušiak.

Verkrüppelte Föderation

Foto: Noemi Fingerlandová,  Tschechischer Rundfunk

Vereint im Kampf gegen den Faschismus fanden also beide Völker erneut zusammen. Allerdings unter veränderten Vorzeichen als noch 1918, wie der Historiker Kopeček ergänzt:

„Die wenigsten tschechischen Politiker und kein einziger slowakischer Politiker dachten mehr an die Möglichkeit, eine tschechoslowakische Nation aufzubauen. Zwar sollte die Tschechoslowakei als befreiter und demokratischer Staat erneuert werden, in dem beide Völker gleichberechtigt leben. Der slowakische Widerstand gegen den Faschismus und gegen den eigenen totalitären Staat unter Tiso beerdigte aber die Idee des Tschechoslowakismus und eines zentralisierten Staates für alle Zeiten.“

In der Nachkriegstschechoslowakei waren die Slowaken jedoch erneut das kleinere Volk mit nur etwa halb so vielen Angehörigen wie die Tschechen. Und die erste Nachkriegsverfassung von 1948 – sie entstand erst nach der kommunistischen Machtübernahme – spiegelte diese Ungleichheit. Erst mit dem Prager Frühling von 1968 wurde ein föderativer Staat zum Thema. Tatsächlich entstanden zum 1. Januar 1969 die Tschechische und die Slowakische Sozialistische Republik mit jeweils einem eigenen Parlament neben der Föderalversammlung. Die Idee von mehr Autonomie für jede der beiden Staatsnationen wurde jedoch schwer beeinträchtigt durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten am 21. August 1968 und der nachfolgenden neostalinistischen Phase bis 1989…

Foto: Archiv des Klement-Gottwald-Museums

„Zwar gab es nun die neue Föderation, aber sie war sofort verkrüppelt durch die antidemokratische und zentralisierende Umkehr in der tschechoslowakischen Politik. Die neuen föderalen Strukturen wurden also unter der Oberfläche begraben. In der Folge waren die slowakischen Politiker – ob kommunistisch oder nicht-kommunistisch – auf der einen Seite zufrieden mit der neuen föderalen Struktur und zugleich unglücklich über den Umstand, dass letztlich weiter alles in Prag entschieden wurde“, so Michal Kopeček.

Wie der slowakische Politologe Juraj Marušiak zudem betont, entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden Teilen der Tschechoslowakei im Prinzip zwei unterschiedliche Gesellschaften:

„Sie entwickelten sich beide mit einer anderen Dynamik und unterschieden sich in grundlegenden Fragen. So wurden einzelne Momente der tschechoslowakischen Geschichte verschieden bewertet. Es gelang nicht, eine gemeinsame tschechoslowakische politische Nation zu bilden.“

Samtene Revolution,  17. November 1989 | Foto: Peter Turnley,  public domain

Und in diesem Umfeld, in dem sich Tschechen und Slowaken zu großen Teilen voneinander entfernt hatten, erlebten sie den politischen und gesellschaftlichen Wandel, der im November 1989 einsetzte…

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