Tschechisch-Deutsches Auf und Ab - Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts (Teil 6)
Die Geschichte von drei Generationen einer mitteleuropäischen Familie, die in drei unterschiedlichen Zeitepochen lebten. Ihr Nachkomme, der 71jährige Milan Uhde, Dramatiker, Schriftsteller und ehemalige Spitzenpolitiker, erzählte sie auf den diesjährigen tschechisch-deutschen "Iglauer Gesprächen". Wie vor zwei Wochen versprochen, bringen wir noch eine weitere Folge der Lebensgeschichte der Brünner Familie Uhde. Das Motto seines Diskussionsbeitrags auf der erwähnten Konferenz hat Uhde einem fast vergessenen tschechischen Song entnommen.
"Das Erbe ist etwas, das keine Fragen stellt, ist einfach deins und gehört zu dir, wie einen schweren Kopf trägst du es auf dem Hals, einen tief gebeugten Himmel."
Mit diesen Worten hat Milan Uhde zweifelsohne kein materielles, sondern das politische Erbe gemeint, das allen Bewohnern eines Landes gehört, ungeachtet dessen, ob es bei ihnen gut ankommt oder nicht. Gerade das wollte er am Schicksal seiner Familienangehörigen demonstrieren. Uhdes Erzählung haben wir vor zwei Wochen zum Zeitpunkt der großen Dilemmata unterbrochen, vor die der Krieg seine tschechisch-deutsch-jüdische Familie gestellt hatte. Aber auch nach dem Krieg war es in diesem Sinne nicht viel anders:
"Als der Krieg zu Ende war, stand meiner Familie ein neues Drama bevor. Die Schwester meines Vaters und ihr deutscher Ehemann wurden zu Opfern der so genannten "wilden Vertreibung". Der Pöbel, der sich als Revolutionsgarde bezeichnete, fiel in ihr Familienhaus ein, beschuldigte den Mann meiner Schwester, er sei während des Krieges als Gefängniswachmann tätig gewesen und habe Häftlinge gefoltert. Man verprügelte ihn bis zur Bewußtlosigkeit und besetzte das Haus. Dabei wurde er nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg zum Vollinvaliden erklärt und galt auch während des Zweiten Weltkriegs als arbeitsunfähig."
Nach dem brutalen Überfall der Gardisten verlor Uhdes Onkel den Verstand und wurde für seine Frau zu einer großen Belastung - während der Vertreibung und noch mehr danach. Wie haben sich damals seine Eltern in dieser Situation verhalten? Milan Uhde erzählt sehr offen:
"Meine Mutter und mein Vater lehnten es ab, diese Belastung mitzutragen. Ich habe gehört, wie sie das befürworteten, was auf Tschechisch als ´odsun´ bezeichnet wurde, in Wirklichkeit aber die Vertreibung war. Ich kann mich auch daran erinnern, dass meine Eltern es ablehnten, ein Bestätigungspapier für unsere Nachbarin zu unterschreiben, dass sie sich während der Kriegszeit seriös benommen habe, nie ihre Stellung als Deutsche beim Einkaufen auf Kosten der tschechischen Bevölkerung mißbraucht habe und dabei immer tschechisch geredet habe. Damit setzten sich die Unterzeichner dafür ein, dass diese Frau ihre Heimatstadt nicht verlassen musste. Das Verhalten eines Teils der Brünner Deutschen während der Okkupation war, das muss man sagen, oft unerträglich. Ich selbst konnte mit eigenen Augen sehen, dass einer von ihnen einen Verkäufer blutig prügelte, nur weil er aus Versehen die Frau dieses Mannes nicht vor allen anderen bedient hatte. Nichtsdestotrotz engagierten sich viele Tschechen aus unserer Umgebung nach dem Krieg ungeachtet der gesellschaftlichen Atmosphäre für ihre deutsche Mitbürgerin."Diese Menschen haben nach Uhdes Meinung mehr Weitblick bewiesen als jene Politiker, die damals darum wetteiferten, wer von ihnen die nationalistische und panslawische Saite lauter zum Klingen bringen könne. Seine Eltern, gebrochen von der Angst vor dem Vernichtungslager während der Okkupationszeit, so Milan Uhde wörtlich, hätten zu diesem Zeitpunkt ihre Widerstandskraft definitiv ausgeschöpft. Auf der Suche nach der Sicherheit, nie mehr als Bürger zweiter Klasse angesehen zu werden, seien sie während des politischen Unwetters der Nachkriegsumbrüche zu Gefangenen geworden, sagt der Sohn Uhde über seine Eltern und erläutert:
"Nach langen Überlegungen haben sie die sozialdemokratische Partei für sich gewählt. Meine Eltern ahnten, dass die kommunistische Partei der einflussreichste und sicherste Hort der Nachkriegszeit sein würde. Doch als Anwälte, die ihren Werdegang in in einer Zeit erlebten, in der das Privateigentum respektiert wurde, konnten sie sich mit den Zielen dieser Partei nicht identifizieren. Nach dem Februar 1948 traten sie trotzdem in die kommunistische Partei ein, noch bevor ihr die Sozialdemokratische Partei zwangsweise einverleibt wurde. Das Amt, in dem mein Vater arbeitete, beschäftigte etwa 20 Rechtsanwälte. Sie waren alle, mit Ausnahme meines Vaters, nationale Sozialisten und Christdemokraten. Meinen Vater hat man zum Amtschef gemacht und anschließend unter Druck gesetzt, seinen Kollegen, zu denen er bis dahin freundschaftliche Beziehungen pflegte, zu kündigen. So hat sich der Kreis geschlossen und mein Vater wusste es."
Milan Uhde sagt, er sei sich der Analogie bewusst zwischen dem, wie einst sein Großvater von den Vorgesetzten behandelt wurde, und dem, was nun sein Vater ein paar Jahrzehnte später den ehemaligen Kollegen antat:
"1968 schrieb er eine Zusammenfassung seines Lebens. Es war nicht bekannt, für wen sie bestimmt war. Vielleicht für das eigene Gewissen oder für Fragesteller, die ein Unrecht erlitten haben und die sich dann im Rahmen des so genannten Prager Frühlings zu Wort meldeten. Nach der Besatzung des Landes durch die Sowjets wurde mein Vater aus der kommunistischen Partei mit der Begründung ausgeschlossen, er habe schlecht seinen Schriftstellersohn erzogen, der sich gegen den Sozialismus gewandt habe. Es ging um meine Person."
An dieser Stelle endet Uhdes Erzählung über das Schicksal seiner Familie. Einmalig und doch keine seltene Lebensgeschichte einer mitteleuropäischen Familie des 20. Jahrhunderts, die in drei unterschiedlichen Staatsformen lebte. Ihr Nachkomme Milan Uhde hat sich über alle drei Zeitepochen ein klares Bild gemacht:
"Als Bewunderer der Kunst von Jaroslav Hasek und seiner ´Abenteuer des braven Soldaten Schwejk´wehrte ich mich gegen Haseks Begeisterung über den Zerfall von Österreich - Ungarn. Die Begeisterung hing einerseits damit zusammen, wie Hasek sein Tschechentum erlebte, aber auch mit seinem Hang zum Anarchismus und der dadaistischen Vorliebe für den Marasmus. Mich persönlich hat aber die Geschichte gelehrt, dass Österreich -Ungarn trotz aller sprachlichen und machtpolitischen Druckausübung, der das tschechische Element ausgesetzt war, ein verhältnismäßig günstiges Milieu für die politische, wirtschaftliche und kulturelle Emanzipation der Tschechen darstellte. Die Geschichte bewies aber auch, dass das österreichisch-ungarische Staatsgebilde nicht mehr zu retten war. Sein Ende war unabwendbar."
Mit der Gründung der Tschechoslowakei 1918 sind viele alte Probleme geblieben und neue kamen hinzu:
"In der Tschechoslowakei kam es zu einem Wechsel der Verhältnisse. Die deutschsprachige Bevölkerung verlor ihre privilegierte Position. Viele Deutsche waren gegen die Entstehung des neuen Staates und nahmen sogar am bewaffneten Widerstand teil. In der Masaryk-Republik beschäftigte man sich aber mit den zahlreichen Problemen der Nationalitäten nicht. Wären sie allerdings unter den Umständen der zunehmenden Druckausübung von Seiten der Diktatur des Nachbarlandes überhaupt lösbar gewesen? Henlein missbrauchte sie und Hitler und seine Parteigenossen kamen mit ihrem Lösungsentwurf - dem Genozid."
Nach dem Krieg wurden die Erfahrungen und Erlebnisse aus der Zeit der deutschen Okkupation für viele zum prägenden mentalen Erbe:"Ich habe immer noch meinen Gymnasiallehrer vor Augen, der uns Schülern im Jahr 1946 die tschechische Sicht auf die internationale Politik beibrachte: ´Vergesst nicht, wer auf Seite Deutschlands ist, der ist unser Feind.´ Der Lehrer hatte am Unterarm eine tätowierte Nummer. Kurz zuvor war er aus einem KZ zurückgekehrt und war für mich glaubwürdig. Ähnliche antideutsche Äußerungen waren aber auch viele Jahre später bei der Debatte zur tschechisch-deutschen Deklaration im Abgeordnetenhaus des Parlaments der Tschechischen Republik zu hören. Von jungen Abgeordneten!"
Stichwort "Vergangenheitsbewältigung": Da haben die Deutschen einen bedeutenden Vorsprung vor den Tschechen, meint Milan Uhde und verweist auf die Generation deutscher Schriftsteller wie Böll und Grass, die sich schon vor Jahrzehnten dem Thema zuwandten. In Tschechien sieht er zwei polarisierte Lager: Die einen rufen nach einem Verbot der kommunistischen Partei, für die anderen war der Kommunismus wiederum nicht so schlimm. Jeden institutionellen Eingriff, der den natürlichen Prozess einer Umwandlung des im totalitären Regime geprägten Lagers in eine offene demokratische Gesellschaft ersetzen soll, lehnt Uhde kategorisch ab. Abschließend fügt er hinzu:
"In den postkommunistischen Ländern haben viele Menschen immer noch nicht begriffen, dass sie in demselben Maße die Mitschuld für das stalinistische Regime tragen wie die Deutschen für das Hitlerregime."