Ein Virus, das zuerst in China auftritt, sich dann in der Welt verbreitet und ältere Menschen gefährdet. Dieser Bühnenstoff erinnert an aktuelle Schlagzeilen, die Seuche steht aber vor allem für den Krieg und den Faschismus. Die Rede ist vom Theaterstück „Die weiße Krankheit“ von Karel Čapek von 1937.
„Eine Pandemie. Eine Seuche, die lawinenartig die ganze Welt erfasst. In China, mein Herr, taucht jedes Jahr eine neue interessante Krankheit auf – das macht das Elend; aber keine hatte bislang einen solchen Erfolg wie die Tsheng-Krankheit. Das ist schlechthin die Krankheit des Tages. Heute sind ihr bereits fünf Millionen erlegen, einige Dutzend Millionen sind akut betroffen, und mindestens dreimal soviel laufen durch die Welt und wissen es gar nicht…“
Man könnte durchaus meinen, dass diese Zeilen im Jahr 2020 geschrieben wurden. In Wirklichkeit aber entstammen sie einem Gespräch aus dem Drama „Bílá nemoc“ (Die weiße Krankheit) des tschechischen Autors und Journalisten Karel Čapek. Das Bühnenstück erlebte im Januar 1937 seine Premiere.
Unter welchen Umständen ist das Drama aber entstanden? Zdeněk Vacek leitet das Karel-Čapek-Museum in der ehemaligen Sommervilla des Schriftstellers in Strž nahe Dobříš in Mittelböhmen. Für Radio Prag International hat Vacek den Hintergrund erklärt.
„Karel Čapek erlangte Anfang der 1920er Jahre mit Stücken wie R.U.R. und Krakatit den Weltruf als Dramatiker. Danach aber schwieg er 15 Jahre lang als Theaterautor. Das ist eine sehr lange Zeit. ‚Die Weiße Krankheit‘, geschrieben 1936 und uraufgeführt 1937, war das erste Drama nach dieser Pause, danach folgte noch ‚Die Mutter‘. Čapek schrieb das Stück im Alter von 46 Jahren. Die Tschechoslowakei war damals einerseits von dem sich ausbreitenden Nationalsozialismus bedroht. Auf der anderen Seit wurde ein weiteres totalitäres Regime immer stärker: die Sowjetunion. Dort liefen zu der Zeit gerade die wahnsinnigen politischen Prozesse an. Ihre Brutalität war genauso offensichtlich wie die Deutschlands.“
Gefahr totalitärer Macht und ihrer Kriegsabsichten
In einem namenlosen Land, an dessen Spitze ein Diktator, der „Marschall“ steht, laufen die Vorbereitungen für einen Krieg. Gleichzeitig breitet sich eine unheilbare Krankheit im Land aus, von der ausschließlich Menschen ab 45 Jahren betroffen sind. Sie ähnelt der Lepra, zersetzt menschliches Gewebe, die Erkrankten haben starke Schmerzen und verbreiten einen unangenehmen Körpergeruch. Die Krankheit beginnt mit ersten weißen Flecken, die sich kalt und taub anfühlen, und diese Flecken breiten sich weiter aus. Für die Befallenen besteht die Gewissheit: Sie werden früher oder später sterben. Laut Zdeněk Vacek hat Čapek mit Absicht eine Krankheit ähnlich der Lepra beschrieben:
„In mehreren Kommentaren betonte er später, dass er auch eine andere Krankheit hätte wählen können – wie etwa Krebs. Aber die Lepra ist symbolisch gewählt, sie zersetzt den Körper, die Kranken sind abstoßend für ihre Umgebung. In Čapeks Stück wird sich bemüht, die Befallenen zu isolieren, um sie nicht vor Augen zu haben und sich selbst zu schützen. Dazu sollen Konzentrationslager errichtet werden. Wir müssen hier in Betracht ziehen, dass Karel Čapek Sohn eines Arztes war, das hat ihn stark beeinflusst. Sein Vater hat Menschen in einem Kurbad betreut, aber gleichzeitig auch arme Menschen versorgt, Bergleute. Das hat eine große Rolle bei der Wahl des Motivs gespielt.“
Selbst die beste Klinik im Land kann den Patienten kaum mehr als ein Placebo gegen die sogenannte „weiße Krankheit“ verabreichen. Die Lage ändert sich erst, als der Armenarzt Doktor Galén ein Wundermittel entdeckt. Wie es hergestellt wird, will er jedoch erst verraten, wenn eine bestimmte Bedingung erfüllt ist. Doktor Galén wünscht sich das Ende aller Kriege. Er will sein Medikament keinem Staat geben, der nicht dauerhaften Frieden schließt. Galén sagt daher: Nur, wenn sich alle Regierungen bereit erklärten, keinen Krieg mehr zu führen, wenn abgerüstet werde, dann gebe er sein Geheimnis preis. Sein Angebot wird zunächst abgelehnt. Erst als die Mächtigen erkennen, dass auch sie selbst von der „weißen Krankheit“ befallen werden können, ändern sie ihre Meinung. Doch ihre Einsicht kommt zu spät…
In seinem Drama verweist Karel Čapek auf die aufkommende Gefahr totalitärer Macht und ihrer Kriegsabsichten. Der „Marschall“, und damit ist eindeutig Hitler gemeint, wird dort mit folgenden Worten zitiert: „So eine kleine Nation hat gar kein Recht auf Leben.“ Die Anspielung auf die Tschechoslowakei ist offensichtlich.
In einer Zeit, in der die Militarisierung im benachbarten Deutschland immer deutlicher hervortrat, war der pazifistische Ton von Čapek brandaktuell. Das Stück erhielt ein großes Echo nicht nur in der Tschechoslowakei, sondern auch im Ausland:
„Das Theater hatte damals eine viel größere Bedeutung und einen stärkeren Einfluss als heute. Kein Wunder daher, dass die Deutsche Botschaft in Prag beim Außenministerium protestierte. Berlin erzwang eine Namensänderung bei der Figur von Baron Krüg, weil sie an das deutsche Wort Krieg erinnerte. Die Zensur erlaubte die Aufführung in der Tschechoslowakei erst, nachdem der Baron in Olaf Krog umbenannt wurde. Auch die Figur des Marschalls gefiel den Deutschen selbstverständlich nicht, da auch dort eine Parallele zu Deutschland gesehen wurde. In diesem Sinne wurde der Protest formuliert. Es war aber nichts Ungewöhnliches. Einige Jahre zuvor hatten die USA gegen ein Theaterstück von Voskovec und Werich protestiert – angeblich habe man darin den amerikanischen Nationalhelden Grant als Säufer parodiert. Solche Proteste waren also üblich.“
Großes Echo im In- und Ausland
Das Stück wurde kurz nach der Premiere in mehreren Ländern gespielt. Zdeněk Vacek erwähnt eine umstrittene Aufführung in Großbritannien:
„Dort wurde das Stück auf so kontroverse Weise inszeniert, dass sich Čapek scharf dagegen verwahrte. Die wichtigste Szene ist seiner Meinung nach der extrem angespannte Moment, in dem sich die beiden Hauptfiguren, Doktor Galén und der Marschall, gegenüberstehen. In der britischen Inszenierung wurden beide Figuren von einem Schauspieler verkörpert und die Szene als ein Telefongespräch dargestellt. Karel Čapek protestierte in der britischen Presse in dem Sinne, dass er fürchte, dadurch könne der Hauptsinn des Stücks verloren gehen.“
Und wie wurde „Die weiße Krankheit“ in der Tschechoslowakei aufgenommen?
„Es war ein starkes, provokantes Stück, das in einer unglaublich angespannten gesellschaftlichen Atmosphäre auf die Bühne kam. Die Angst vor einem Krieg war groß, zudem war die Spanische Grippe noch in frischer Erinnerung, der waren damals mehrere Zehntausend Menschen auch in der Tschechoslowakei erlegen. Das trug dazu bei, dass das Drama stark reflektiert wurde. Viele sahen darin die Darstellung autoritärer Regimes und von Diktatoren wie Mussolini und Hitler. Gleichzeitig klang die Kritik gegenüber jenen Menschen an, die den Faschismus toleriert haben. Das wirkte nach. Die Meinung war, dass Čapek dies sehr überzeugend dargestellt hat und dass die Demokratie und das kleine Volk, das in dem Stück auftaucht, für die vom mächtigen Nachbarn bedrohte Tschechoslowakei stehen.“
Es habe viele positive Reaktionen, aber auch viele Kritiker gegeben, sagt Vacek. Unter anderem unter den Ärzten:
„Sie warfen Čapek vor, den Ärztestand und die gesamte Medizinwissenschaft zu entehren. Und zwar indem er einen einfachen Arzt, den Doktor Galén, gegen die klinische Forschung, gegen Institutionen und Kliniken stellte, die als staatliche Einrichtungen loyal gegenüber dem Staat sein mussten. Das stieß auf großen Widerstand. Čapek wehrte sich aber dagegen und musste sich erklären.“
Der Autor schrieb ein Vorwort zum Stück. In diesem erläuterte er, dass es um einen Konflikt gehe zwischen den Idealen der Humanität und Demokratie und den unbeschränkten, ehrgeizigen Diktaturen. Sein Stück biete ein unerlässliches tragisches Ende und keine Lösung, so der Autor:
„Das ist überraschend bei Čapek. In seinen früheren Werken hat er immer das Positive, die Hoffnung betont. Aber auch in der ‚Weißen Krankheit‘ findet man doch einen kleinen Funken Hoffnung: in dem Paar, das die Tochter des Marschalls und der Neffe von Baron Krug, dem Industriellen und Besitzer eines Waffenkonzerns, bilden. Angesichts der Schrecken der Erkrankung, die ihre Familien betroffen hat, bedrängen sie den Marschall, Frieden herzustellen – nicht nur seinetwegen, sondern wegen seines Volkes und aller Kranken. Dennoch endet das Stück trostlos. Kurz nach der Aufführung wurde aber ein Film gedreht, an dem sich Čapek maßgeblich beteiligt hat. Er arbeitete am Drehbuch mit. Sein naher Freund Hugo Haas führte die Regie und spielte in der Hauptrolle. Dort wurde das Ende abgeändert. Und Čapek hat nie gesagt, dass dies ihn gestört hätte. Der Film endet hoffnungsvoll: Doktor Galén übergibt seine Formel, sein Medikament an Doktor Martin aus einem kleinen, angefallenen Staat. So keimt Hoffnung auf bei der Seite, die im Kriegskonflikt auf der Seite des Rechts steht.“
Schreckliche Erkrankung aus China
Soweit also die Umstände des Jahres 1937. Eine Parallele zur heutigen Zeit und der aktuellen Corona-Pandemie liege auf der Hand, sagt Vacek:
„Čapek schreibt in dem Stück, dass die Erkrankung aus China gekommen sei und dass von dort jedes Jahr eine schreckliche Krankheit komme. Er begründet dies damit, dass dort Not, Hunger und mangelnde Hygiene herrschten. Čapek spricht ausdrücklich von einer Pandemie. Eine weitere Parallele ist, dass die Erkrankung vor allem ältere Menschen befällt. Das sind vor allem diejenigen, die die Zügel der Macht in der Hand halten. Čapek betont, dass die Jungen optimistisch sind, die Krankheit nicht ernst nehmen und zynisch darin ihren eigenen Vorteil sehen. Hier ist also die Solidarität zwischen den Generationen so erschüttert wie heute auch, wobei sich die Jungen allzu eingeschränkt fühlen. Das sind alles Parallelen zur heutigen Zeit.“
„Die Weiße Krankheit“ feierte am 29. Januar 1937 im Prager Ständetheater ihre Premiere. Der tschechische Schriftsteller und Visionär hatte damals nicht einmal mehr zwei Jahre zu leben. Karel Čapek starb am Weihnachtstag 1938 an den Folgen einer Lungenentzündung. Nur wenige Wochen später besetzten die Nationalsozialisten den übriggebliebenen Teil der Tschechoslowakei.