Unaufdringlicher Jugendstil, gewaltige Glasfronten: Das Palais Koruna in Prag
Das Palais Koruna, also „Krone“, krönt seit über 100 Jahren das untere Ende des Prager Wenzelsplatzes. Früher siedelte hier unter anderem ein legendäres Selbstbedienungslokal. Und bis heute ist der Bau einer der imposantesten an der Prachtpromenade in der tschechischen Hauptstadt.
Eröffnet wurde das Palais Koruna 1914. Für die Entwürfe waren damals Antonín Pfeifer und Matěj Blecha verantwortlich. Anerkennung erhielt der Bau aber nicht nur wegen seines prächtigen Äußeren, sondern auch wegen seines Innenlebens. Schließlich handelte es sich um einen der ersten Multifunktionsbauten seiner Zeit.
Radomíra Sedláková ist Architektin und erklärt im Interview für Radio Prag International, warum diese Art von Gebäuden auf einmal nötig wurde.
„In der Innenstadt gab es nicht sonderlich viel verfügbaren Raum. Die Marktplätze und Straßen hatten bereits ihren Platz gefunden. Hinzu kam, dass die Städte mit einem Mal wesentlich mehr Funktionen erfüllen sollten. Die Gebäude, die entstanden, dienten etwa auch zu kulturellen und gesellschaftlichen Zwecken. Unter anderem entstanden neue Ladengeschäfte, die auf einen Bereich spezialisiert waren und nicht alles Mögliche anboten wie bis dahin die Krämer.“
Zudem sollten etwa Restaurants und Kneipen eingerichtet werden. Und nicht zuletzt stieg der Bedarf an Räumlichkeiten für Banken, Versicherungen oder etwa Firmensitze – also Orte, die eine administrative Funktion hatten.
„Die bestehenden Häuser wurden dem modernen Leben auf einem zentralen Platz in Prag nicht mehr gerecht. Sie waren zu klein und nicht hinreichend ausgestattet. Aber hier gab es eine freie Parzelle, und so überlegte man sich, welche Funktionen man hier unterbringen konnte.“
Büros, Restaurants und Fitnessstudio unter einem Dach
Die bisherigen Gebäude wurden abgerissen und das neue Palais errichtet, in das zahlreiche Funktionen implementiert wurden. Die bereits genannten Aspekte stellten dabei nur den Anfang dar…
„Es gab hier auch ein Wannenbad. Der Bau stammt aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg; damals gab es im Zentrum Prags kaum Wohnungen mit fließend Wasser oder gar einer Dusche. Allerdings war ein neues Bewusstsein für Körperhygiene entstanden. Und wenn man schon in die Wanne steigt, kann man ja auch gleich Sport treiben, weshalb es hier auch dafür eine entsprechende Einrichtung gab. Zu all dem kam noch ein Dampfbad hinzu.“
Und so beherbergte das Palais ein für seine Zeit sehr modernes Bäderzentrum mit einem Sportbereich, sozusagen einem Fitnessstudio. Da verwundert es fast schon, dass sich dort heutzutage keine Muckibude mehr befindet.
Großzügige Verwendung von Glas durch Stahlbetonkonstruktion
Laut Radomíra Sedláková wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit modernsten Mitteln sehr großzügige Bauten errichtet. Im Palais Koruna sei dies ganz besonders zu sehen, sagt die Architektin. Sie führt in eine große Halle, die von einer gläsernen Kuppel überspannt wird. Die Vitrinen der dortigen Geschäfte haben großformatige Scheiben.
„Es ist fast schon ein Marktplatz innerhalb des Gebäudes. Hier treffen die zwei Passagen aufeinander. Die waren nötig, da an dieser Stelle auch ein anderes Gebäude steht, ein Teppichhaus aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das nicht abgerissen werden konnte. Das Palais musste dieses Haus also umgehen.“
Die beiden Passagen sind umfangreich verziert. Dies sei durch eine bauliche Besonderheit möglich geworden, so Sedláková:
„Es handelt sich um eine Stahlbetonkonstruktion. Dadurch konnte der Bau großzügig gestaltet werden und viel Glas zum Einsatz kommen.“
Jugendstil – aber nicht überbordend
Prägendes Gestaltungsmerkmal der Innenräume sind die Verzierungen, die vor allem im Jugendstil gehalten sind.
„Es finden sich hier jedoch wenig florale Ornamente. Die hiesige Ausprägung des Jugendstils ist nicht sehr üppig. Stattdessen kommen simple geometrische Formen zum Einsatz. Die Dekoration drängt sich dem Betrachter nicht auf, vielmehr fühlt man sich durch sie beruhigt.“
Ähnlich wirke die äußere Fassade, schildert Sedláková.
„Es gibt nur sehr wenige Zierelemente – im Grunde ein paar eingefasste Erkerfenster mit Ornamenten. Unter anderem sind dort Schiffe dargestellt, was man hierzulande wohl eher nicht erwarten würde. Ganz oben wurden Statuen aufgestellt, so wie es sich für ein Palais gehört. Alles in allem sind die Verzierungen aber wirklich dezent.“
Und damit sei der Bau gestaltet wie die meisten späten Jugendstilbauten in Prag…
„Wenn man ‚Prag‘ und ‚Art nouveau‘ hört, denkt jeder an das Gemeindehaus. Der hiesige Jugendstil war eigentlich jedoch viel zurückhaltender und ruhiger.“
Die Krone des Wenzelsplatzes
Es gibt ein bauliches Merkmal am Palais Koruna, das Radomíra Sedláková besonders entzückt:
„So wie die meisten Bauten, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg entstanden, hat das Palais an einer Ecke einen Turm“, sagt die Architektin.
Sie schildert, dass auf dem Wenzelsplatz jedes Eckhaus einen entsprechenden Aussichtsturm hätte. Das Exemplar im Palais Koruna sei jedoch ganz besonders:
„Dieser Turm wird von Statuen gesäumt, für die Stanislav Sucharda verantwortlich zeichnete. Die Figuren stützen im Grunde die Krone. Diese wiederum ist mit kreisförmigen Leuchten bestückt.“
Gleich unterhalb der Kuppel gibt es eine weitere Besonderheit, die auch den Passanten von unten auffällt:
„An der Ecke befindet sich eine Terrasse, auf der eine Pergola platziert wurde. Es sieht wirklich so aus, als hätte man sie von einem Sommersitz genommen und hier im dritten Stock aufgebaut. Das Bauelement ist sehr zart und kommt auch komplett ohne Verzierungen aus. Vermutlich war diese Pergola auch nie dafür gedacht, dass sich an ihr Blumen emporranken.“
Die besten Drinks von Prag
Zum Schluss macht die Architektin noch auf einen besonderen Aspekt im Innenleben des „Palác Koruna“ aufmerksam. Denn hier befand sich einst eines der ersten Selbstbedienungsrestaurants in Europa, der Automat Koruna. Eröffnet wurde es 1931.
„Dieses Automatenrestaurant wurde im Stil des Funktionalismus entworfen, und zwar vom Architekten Ladislav Machoň. Für die damalige Zeit war das ein fortschrittlicher und sehr gut ausgestatteter Raum. In dem Lokal wurden auch mehrere tschechische Filme gedreht.“
Einer dieser Streifen war etwa der Kultfilm „Jáchyme, hoď ho do stroje“ (deutsch: „Horoskop aus dem Computer“) von Regisseur Oldřich Lipský. Da in dem Schnellrestaurant tagsüber stets großer Andrang herrschte, musste die Crew damals in der Nacht drehen. Erst fünf Uhr morgens waren die Szenen im Kasten.
Das Konzept des Lokals Automat Koruna schildert Radomíra Sedláková wie folgt:
„Man musste keinen Kellner bezahlen, nur den Koch und die Spülkraft. So waren die Gerichte hier billiger. Im Grunde begann damit ein Trend, der mittlerweile vielleicht überhandgenommen hat. Meines Wissens erhielt man damals im ‚Automat Koruna‘ die Getränke aber nicht in einem Becher zum Mitnehmen, sondern alles wurde vor Ort konsumiert.“
Das Lokal am Fuße des Wenzelsplatzes hätte sich damals vor allem in einem Punkt von der Konkurrenz abgehoben:
„Das mag heute komisch klingen, aber es wurde viel Wert auf die Hygiene gelegt. Alles bestand aus rostfreiem Metall, damit es leicht abgewischt und gereinigt werden konnte. Es gab große Vitrinen, sodass man stets wusste, was wie lange angeboten wurde.“
Nachdem zu Beginn die Speisen tatsächlich aus Automaten verkauft wurden, konnten die Kunden sie später am Tresen erwerben. 1992 wurde das Restaurant geschlossen. Zuvor sei sie aber selbst öfters Gast in dem Schnellimbiss gewesen, erinnert sich Radomíra Sedláková im Interview:
„Gleich nebenan fanden meine Tanzstunden statt. Immer nach dem Kurs haben sich alle Teilnehmer hier in der Schlange getroffen. Wir standen alle für einen Cocktail an, denn im ‚Automat Koruna‘ gab es die besten Drinks von ganz Prag. Man konnte hier zu jeder beliebigen Tageszeit aufkreuzen. Es war ganz egal, zu welcher Gesellschaftsschicht man gehörte oder welche Kleidung man trug: Dieses Restaurant war einfach ein Phänomen. Und ich bin durchaus sehr traurig, dass sich heute hier ein ganz normales Geschäft befindet.“
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