Unter den Fittichen der Friedenstaube – Krištof Kinteras brutalistische Häuserplastiken

Der zentrale Gebäudekomplex für Telekommunikation (ÚTB) und das Mädchen mit der Taube

Sie sind wenig beachtet, doch es gibt sie: Spuren des Brutalismus in der Prager Architektur. An den klobigen Bauten scheiden sich die Geister: Stehen lassen oder abreißen? Die Freilichtausstellung „Das Mädchen mit der Taube und Häuserplastiken“ des Prager bildenden Künstlers Krištof Kintera facht die Diskussion neu an. Seine sieben Häuserplastiken aus Beton sind in Zusammenarbeit mit der Kunsthalle Praha entstanden. Aufgestellt sind sie in einem kleinen Park auf der Kleinseite.

Bankhaus von Karel Prager im Stadtteil Smíchov | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

Die größte Wirkung entfaltet Krištof Kinteras Schau „Das Mädchen mit der Taube und Häuserplastiken“ nach Einbruch der Dunkelheit. Dann haucht ein mehrstufiges Beleuchtungsprogramm den Häuserplastiken menschliches Leben ein. Die Plastiken stehen schräg gegenüber von der Kunsthalle Praha. Sie wurden von dem bekannten Bildhauer nach Prager Bauwerken aus der Zeit von 1950 bis 1990 geschaffen. In dem Park, der so klein ist, dass er nicht einmal einen amtlichen Namen hat, stehen sie nun schon über ein Jahr. Die eingebauten Lämpchen blinken in den Häuserzwergen auf und erlöschen wieder, heben bestimmte Gebäudepartien hervor und suggerieren einen Wandel in der Zeit.

„Dieser Park hat mich von Anfang an fasziniert. Er hat ein unglaubliches Charisma. Und mir war natürlich bewusst, dass er auf der Touristenroute von der U-Bahn-Station Malostranská zur Prager Burg liegt. Es war Teil unseres Kalküls, dass wir die Skulpturen Pragbesuchern, die den Kontext der brutalistischen Architektur nicht so genau kennen, quasi in den Weg stellen. Deshalb haben wir Täfelchen mit QR-Codes angebracht. Wer neugierig wird, kann auf diese Weise leicht Näheres erfahren über die einzelnen Gebäude oder auch darüber, wer das Ehepaar Machonin und wer Karel Prager war“, so Kintera im Interview für Radio Prag International.

Kaufhaus Kotva | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

Die Infos sind auf Tschechisch und Englisch in den QR-Codes eingespeichert. Das Architekten-Ehepaar Vladimír und Věra Machonin hat um 1970 das Kaufhaus Kotva projektiert. Es war der erste Konsumpalast der kommunistischen Tschechoslowakei. Der bedeutende Architekt Karel Prager ist in der Ausstellung mit dem festungsartigen Betonbau der ehemaligen Tschechoslowakischen Staatsbank vertreten. Der achteckige Geldbunker in Prag-Smíchov, der sich nach oben pyramidenartig verjüngt, dient noch heute als Bankhaus.

Sandsteinstatue von Václav Šimek und Kintera-Skulpturen | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

Der Blickwinkel Gullivers

Was geschieht aber mit Bauwerken bei der Umwandlung in Plastiken? Kintera:

„Mit ein wenig Übertreibung ist jedes Gebäude eine Plastik – eine monumentale, riesige Skulptur. Bei der Transformation in einen anderen Maßstab wird das Bauwerk stark vereinfacht. Gleichzeitig eröffnen sich ungewohnte Blickwinkel. Die Häuserplastiken lassen sich aus der märchenhaften Perspektive eines Gulliver betrachten.“

Kaufhaus Kotva | Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

In Jonathan Swifts satirischem Roman „Gullivers Reisen“ kommt der Titelheld unter anderem ins Reich der Liliputaner. Gulliver beklagt die zeitgenössischen Missstände, thematisiert die Relativität menschlicher Werte und entwirft Bilder einer idealen Welt. Kinteras Häuserplastiken sind allesamt aus rohem Beton geformt, ein Anklang an den „béton brut“, nach dem der architektonische Brutalismus benannt ist. Seine Blütezeit erlebte er in den 1970er Jahren…

„Wir haben absichtlich Beton als Werkstoff für die Plastiken gewählt. Beton war das emblematische und typische Baumaterial der Nachkriegsära. Dadurch haben wir ein einheitliches brutalistisches Erscheinungsbild erzielt“, so der Künstler.

Der Beton ist in Kinteras Ausstellung das Markenzeichen der Architektur von 1950 bis 1990 schlechthin. Die Ausnahmebauten, die Kintera in Plastiken umgewandelt hat, wirken nach außen hin nicht so, wie man sich den klassischen Brutalismus vorstellt. Mit diesem teilen sie aber neben anderen Merkmalen auch die imposante Größe. Grund genug, um den unübersehbaren Fernsehturm einzubeziehen, einen High-Tech-Bau aus Stahl, der erst 1991 fertiggestellt wurde. Attribute des Brutalismus wie Fassaden aus unverputztem Beton oder sichtbare Konstruktionen sind bei Kinteras Vorlagen nicht stilbildend. Die Gebäude seien vor allem so ausgewählt worden, dass sie das städtische Leben mit seinen verschiedenen Aktivitäten repräsentieren würden:

Fernsehturm,   Telekommunikationszentrale | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

„Im Grunde setzt keines der Bauwerke den Beton zur Fassadengestaltung ein. Die Gebäude stellen den Beton nicht zur Schau. Das Kaufhaus Kotva zum Beispiel hat eine vorgesetzte Fassade aus Blechen. Die Kirche des Emmausklosters ist natürlich auch nicht aus Beton, sondern nur der nachträgliche Aufbau. Und das Bankhaus von Karel Prager ist mit Keramik verkleidet.“

Das fünfstöckige Kaufhaus Kotva ruht auf einem Stahlskelett und ist nach der seinerzeit beliebten Wabenstruktur gegliedert. Das Emmauskloster in der Prager Neustadt wurde unter Karl IV. gegründet. Bei einem Luftangriff der Alliierten im Februar 1945 wurde die Klosterkirche irrtümlich bombardiert. Der Architekt František Maria Černý stellte dann in den 1960er Jahren das eingestürzte Gewölbe und die zerstörten Türme wieder her – mit zwei ineinander verkeilten Stahlbeton-Hauben, deren dreieckige Spitzen an Türme erinnern. Die kühne Gewölbekrone hat auch international viel Beachtung gefunden.

Emmauskloster | Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

Die Verwundbarkeit der Architektur

Kintera zeigt nicht nur Bauwerke, die Epochen überdauern, sondern weist dialektisch ebenso auf ihre Vergänglichkeit hin:

Hotel Praha | Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

„Manche Skulpturen sind beschädigt. Das ist Absicht. Damit wollen wir deutlich machen, dass Architektur immer auch gefährdet ist. Viele Gebäude wirken, als ob sie für ewige Zeiten geschaffen wären. Doch Kriege, Naturkatastrophen und schlechte Entscheidungen beweisen, dass sie zerstörbar sind.“

Als kontroverse Entscheidung galt der Abriss des Hotels Praha im Jahr 2014. Das protzige Luxushotel entstand in den 1970er Jahren im Villenviertel Hanspaulka. Der in seiner Art einzigartige Hotelbau war vom Brutalismus beeinflusst. Mit seinen organischen, geschwungenen Formen bildete er die Geländelinien nach – und saß den schmucken Villen ringsum bullig im Nacken. Kinteras Skulptur zeigt das verschwundene Hotel symbolisch mit einer zerstörten Stelle. Andere historische Bauvorhaben wurden erst gar nicht realisiert. So Karel Pragers ambitionierter Plan einer Überbauung eines Tales im fünften Prager Bezirk mit einem futuristischen Wohnkomplex. Der Entwurf erinnert an Le Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille. Le Corbusier gilt auch als Begründer des Brutalismus. Kintera hat ein Fragment von Pragers groß angelegtem Bauvorhaben nach einem erhalten gebliebenen Modell gestaltet.

Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

Das architektonische Geschehen in der kommunistischen Tschechoslowakei war vom Verlust der schöpferischen Freiheit und einem kulturellen Schisma bestimmt. Diese Zeitverhältnisse kommen im Ausstellungskatalog zur Sprache. Wettbewerbe für Architekten wurden zwar ausgeschrieben, gewinnen konnte aber nur, wer politisch genehm war. Unbequeme Architekten wurden unterdrückt, und lang ist die Liste derer, die ihrer Heimat den Rücken kehrten. Der umfangreiche Katalog, herausgegeben von der Kunsthalle Praha, dokumentiert die Bauwerke ebenso wie die Entstehung der Ausstellung mit zahlreichen eindrücklichen Fotos. Erläutert werden sie durch Ausführungen des Kunsthistorikers Rostislav Koryčánek, persönliche Betrachtungen Krištof Kinteras und ein Gespräch mit ihm, das die Chefkuratorin der Kunsthalle Praha, Christelle Havranek, geführt hat. Kintera betont, dass die Architektur stärker von den sozio-politischen Zeitumständen abhinge als etwa Musik oder Malerei.

„Ich persönlich nehme diese Problematik im Subtext der Ausstellung wahr. Denn die Architekten mussten in der damaligen schwierigen Zeit mit dem Establishment und der Politik auskommen, die sich natürlich in einer ethischen Schieflage befand. Anderseits ist es ganz natürlich, dass sie ihre Bauprojekte verwirklichen wollten. Ich will dazu anregen, über all das nachzudenken“, so der 50-jährige Prager.

In den 1950er Jahren war die Richtung des Sozialistischen Realismus allein maßgebend, ein sonderbar historisierender Stil. Bereits ab den 1960er Jahren machten sich in der heimischen Architektur aber auch internationale Trends bemerkbar, unter anderem Anklänge an den Brutalismus. Und das trotz des dünnen Informationsflusses, der durch die Zensur und die Abschottung vom Westen gedrosselt war.

Projekt einer Talüberbauung im Prager Stadtteil Košíře | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

Reminiszenz an den Sozialistischen Realismus

Der Sozialistische Realismus, kurz „Sorela“ genannt, ist in Kinteras Ausstellung durch die Sandsteinskulptur „Das Mädchen mit der Taube“ von Václav Šimek eingebunden. Sie stand schon vorher im Park und dominiert Kinteras Häuserplastiken, als wollte sie diese unter die Fittiche der Friedenstaube nehmen, die von ihren erhobenen Händen in die Lüfte strebt. Der Künstler:

Park mit Skulpturenausstellung | Foto: Maria Hammerich-Maier,  Radio Prague International

„Das Mädchen ist die Hauptfigur der Installation. Sie war als Erste da. Ihr Geburtsjahr ist 1958, das heißt, sie wurde in eine wirklich schwierige Zeit des Marasmus hineingeboren. Und ich fand es spannend, Möglichkeiten des Dialogs und einer Symbiose zu suchen, um das Mädchen nicht ins Abseits drängen zu müssen. In der Ausstellung treffen zwei unterschiedliche Maßstäbe aufeinander. Das Mädchen erscheint in diesem Spannungsfeld als überlebensgroße Verkörperung einer utopischen Heldin, die Frieden und Wohlstand in unsere Welt bringt. Dadurch wird sie zu einer Parodie ähnlicher überlebensgroßer Denkmäler in der ehemaligen Sowjetunion, in Nordkorea oder China.“

Brutalismus im Miniaturformat im Park Holubička | Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

Ironischerweise entstand die pathetische Mädchengestalt in demselben Jahr, in dem der tschechoslowakische Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung mit dem „Goldenen Stern“ ausgezeichnet wurde. Der als Gesamtkunstwerk entworfene, elegante Pavillon wurde richtungsweisend für die tschechoslowakische Architektur im Jahrzehnt des Prager Frühlings. Das Restaurant des Pavillons, eine Stahlkonstruktion mit einer Glas-Aluminium-Fassade, steht heute im Park Letenské sady. Das Ineinandergreifen der architektonischen Welten hat Krištof Kintera fasziniert. Sein Atelier im Prager Stadtteil Bubeneč betreibt der bildende Künstler unter dem vielsagenden Firmennamen Alles ist anders, der zugleich sein persönlicher Wahlspruch ist:

„Ich finde es toll, dass mit einem einfachen Satz von drei Wörtern ein recht komplexes philosophisches Thema ausgedrückt werden kann. Denn bei allen Phänomenen, die wir erforschen, ist der eigene Blickwinkel eben nur eine Sichtweise unter vielen, und die Dinge verhalten sich in Wirklichkeit meist anders, als wir denken.“

Die frei zugängliche Open-Air-Ausstellung „Das Mädchen mit der Taube und Häuserplastiken“ von Krištof Kintera kann noch bis September besichtigt werden. Sie ist auf der Grünfläche schräg gegenüber der Kunsthalle Praha installiert.

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