Vergessene Helden, verschwundenes Sudetenland: Reflexionen aus Tschechien
Sie sind 64 Jahre alt und doch gerade wieder einmal brandaktuell: die so genannten Beneš-Dekrete, konkret die rechtliche Grundlage für die Enteignung und Aussiedlung von drei Millionen Deutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Streit um die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon hat der tschechische Präsident Václav Klaus bei den EU-Partnern erst kürzlich durchgesetzt, dass die EU-Grundrechtecharta für Tschechien keine Gültigkeit haben soll. Angeblicher Grund: Das dort verankerte Recht auf Eigentum könnte die Beneš-Dekrete aushebeln. Doch längst setzen sich auch viele Tschechen kritisch mit der Nachkriegsvergangenheit im eigenen Land auseinander.
In der österreichischen Hauptstadt Wien beschäftigen sich seit vergangener Woche zwei Wanderausstellungen mit der Geschichte des Sudetenlandes: Die Ausstellung „Vergessene Helden“ in der Wiener Universitätsbibliothek zeigt die Schicksale deutscher Antifaschisten in der ehemaligen Tschechoslowakei. Ein paar Schritte weiter, im Tschechischen Zentrum in der Wiener Herrengasse, läuft die Ausstellung „Das verschwundene Sudetenland“, zusammengestellt von der tschechischen Initiative Antikomplex. Sie zeigt die „sichtbaren Narben im Gesicht der Landschaft“, die die Aussiedlung der Deutschen hinterlassen habe, erklärt der Leiter von Antikomplex Ondřej Matějka. Ziel sei dabei keinesfalls die Vertretung so genannter deutscher oder tschechischer Standpunkte, sondern die Vernetzung der kritischen Diskurse in den jeweiligen Ländern. Radio Prag hat Ondřej Matějka am Donnerstag in Wien getroffen:
Anlass für unser Gespräch ist die Eröffnung der Ausstellung „Verschwundenes Sudetenland“ im Tschechischen Zentrum Wien. Du bist einer ihrer Initiatoren. Worum geht es bei der Ausstellung?
„Die Grundidee der Ausstellung und auch des Buches, das an die Ausstellung anknüpft, ist sehr einfach: Wir haben alte Bilder aus dem Sudetenland gesammelt und die gleichen Stellen heute aus der gleichen Perspektive fotografiert. So ist ein Vergleich entstanden, der die Veränderungen im Sudetenland während der letzten 60, 70 Jahre zeigt. Damit haben wir eigentlich nur das sichtbar gemacht, was jeder selbst erleben kann: dass vieles kaputt gegangen ist, dass vieles verloren gegangen ist, dass vieles an kulturellem und wirtschaftlichem Reichtum im Sudentenland heute nicht mehr vorhanden ist. Sehr gut zu sehen ist das an der Wirtschaft. Die Maschinen und Fabriken sind geblieben, aber die Menschen, die wissen, wie man damit produziert, sind gegangen. Man hat natürlich weiterhin das gleiche hergestellt, aber ohne beispielsweise die Kontakte für den Außenhandel oder die Technologien für die weitere Entwicklung zu haben. Man sieht also, dass es nicht nur darauf ankommt, was man für ein Haus hat, sondern auch darauf, wie man es nutzt. Und das ist eine Frage der Kultur, eine geistige Frage, eine Frage des kulturellen Erbes, das ja am meisten gelitten hat.“
Das Ende des Zweiten Weltkriegs, die so genannten Beneš-Dekrete und die Aussiedlung vieler Deutscher liegen 64 Jahre zurück. Wenn man heute auf das Sudetenland blickt: Kann man diese Spuren, diese Narben immer noch erkennen?„Auf jeden Fall. Man kann sie erkennen, weil man es bis heute nicht so weit gebracht hat, dass das Sudetenland wieder so dicht besiedelt ist, wie es vor dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Das sieht man an vielen Dingen. Es gibt verschwundene Ortschaften, wo man Überreste von Häusern sieht, verödete Friedhöfe oder Überreste von Friedhöfen. Das ist eine recht sichtbare Narbe im Gesicht der Landschaft. Gerade die Landschaft ist ein guter Zeuge der Vergangenheit, weil in ihr Spuren hinterlassen werden, die man nur schwer beseitigen kann. Es ist aufwändig, die Überreste von Häusern wegzutragen. Felder werden nicht beackert, Wiesen wachsen zu. Vor zwei Wochen bin ich zum Beispiel über den Grenzübergang Philippsreut im Böhmerwald gefahren. In dem Tal, in dem sich der Grenzübergang befindet, erkennt man auf den ersten Blick, wo die böhmische Seite der Grenze beginnt. Denn dort gibt es nach wie vor eine Wiese, aber hie und da wächst auf ihr eine kleine Fichte, weil die Wiese nicht mehr landwirtschaftlich genutzt wird. Das sind Spuren, die man oft recht eindeutig erkennen kann, wenn man gelernt hat, sie zu lesen.“
Du bist Mitglied der Initiative Antikomplex. Das ist eine tschechische Initiative, die auch diese Ausstellung gestaltet hat. Es geht euch darum, das Erbe oder das Echo, das die Vertreibung der Deutschen aus den böhmischen Ländern hinterlassen hat, aus tschechischer Sicht zu reflektieren. Wie ist denn da momentan der Status quo in der tschechischen Sichtweise?„Es ist eben kein Status quo, sondern ein ständiger Prozess, der im Moment sehr stark in den Regionen abläuft. Das ist sehr wichtig, denn dort passiert die eigentliche Aufarbeitung. In den letzten Jahren verzeichnen wir viele Fälle, wo sich einzelne Ortschaften und Gemeinden entschieden haben, zum Beispiel ein Denkmal für getötete Deutsche zu errichten. Das jüngste Beispiel ist noch ganz frisch: Am Mittwoch wurde im Gemeinderat von Postoloprty, früher Postelberg, entschieden, dass ein Denkmal für die zirka 800 toten Deutschen gebaut wird. Das ist ein Beispiel für lokale Demokratie: Über das Denkmal wurde abgestimmt. Das heißt, da musste man eine Mehrheit dafür schaffen, dass dieses Denkmal entsteht. Und das ist nur ein kleines Beispiel dafür, was man im Allgemeinen im Sudetenland erfahren kann.“
In den letzten Wochen haben ja die so genannten Beneš-Dekrete und alles, was mit ihnen zusammenhängt, wieder ein lautstarkes Echo erfahren – auch in anderen europäischen Ländern. Es geht dabei um die Diskussion rund um die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon. Als Präsident Václav Klaus durchgesetzt hat, dass man die Tschechische Republik von der Grundrechtecharta ausnimmt, mit dem Argument, dass man ansonsten mit Eigentumsforderungen von Sudetendeutschen rechnen müsste, da konnte man in Tschechien – zumindest wenn man nicht genau hingehört hat – den Eindruck gewinnen, dass das Volk hinter Václav Klaus steht. Wurde das aber vielleicht nur von den Medien schlecht reflektiert? Denn wenn man Dir so zuhört, dann könnte man doch glauben, dass es viele Initiativen gibt, die sich mit der Vergangenheit sehr offen auseinandersetzen.
„Einerseits zeigen die Umfragen: Václav Klaus konnte mit der Karte der Beneš-Dekrete die Unterstützung der Öffentlichkeit gewinnen. In den letzten Monaten ist er nach und nach in Isolation geraten, weil er sich geweigert hat, den Lissabonner Vertrag endlich zu ratifizieren, und wir wurden zu den Störenfrieden in der EU. Das war den Leuten nicht angenehm, und Klaus hat in diesem Punkt auch an Unterstützung verloren. Deswegen hat er diese Karte gespielt, weil das praktisch mit Sicherheit Unterstützung bringt. Doch auch wenn es relativ schwierig zu erklären ist, würde ich sagen: Das hat letztlich doch wenig damit zu tun, wie die Tschechen auf die Nachkriegsvergangenheit zurückblicken. Dieser Aufarbeitungsprozess ist relativ unabhängig von diesem symbolischen Thema, das man einfach unangetastet haben will.“Die Ausstellung „Das verschwundene Sudetenland“ im Tschechischen Zentrum Wien läuft noch bis 26. November, die Ausstellung „Vergessene Helden“ in der Wiener Universitätsbibliothek ist noch bis 17. Dezember zu sehen.