Vom Verein in Asch bis zur Seliger-Gemeinde – die sudetendeutschen Sozialdemokraten
Die Seliger-Gemeinde ist eine Gesinnungsgemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten, die 1951 in München gegründet wurde. Benannt wurde sie nach dem ersten Vorsitzenden der Deutschen Sozialdemokraten Arbeiterpartei, Josef Seliger. Auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Sudetendeutschen Büros in Prag hat der heutige Vorsitzende der Seliger-Gemeinde, Helmut Eikam, die tschechische Hauptstadt besucht. Im Haus der Minderheiten hielt er einen Vortrag über die Geschichte der deutschen Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei.
„Der erste sozialdemokratische Verein ist schon 1863 in Asch gegründet worden. Im selben Jahr entstand auch der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein in Leipzig. Der sozialdemokratische Verein war zahlmäßig sehr stark im Vergleich mit anderen Ortsvereinen.“
Wie hat sich die sozialdemokratische Bewegung nach der Entstehung des tschechoslowakischen Staates weiterentwickelt?
„Die deutschen Sozialdemokraten wollten am Anfang mit den österreichischen Sozialdemokraten zusammenbleiben. Später haben die deutschen Sozialdemokraten beschlossen, eine neue Partei zu gründen und sich von den österreichischen Sozialdemokraten abzuspalten. Die neue Partei hieß ‚Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik‘. Sie entstand 1919. Die deutschen Sozialdemokraten haben sich relativ schnell als eine staatsbejahende Partei betätigt.“
Wie stark war damals die Partei, wie viele Mitglieder hatte sie zu der Zeit?„Ich kenne nur Zahlen aus den 1930er Jahren. Da hatte sie rund 100.000 Mitglieder.“
Sie haben im Vortrag die Seliger-Gemeinde erwähnt. Benannt wurde sie nach dem ersten Vorsitzenden der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Aus welchen Kreisen stammte er?
„Josef Seliger wurde beim Gründungsparteitag 1919 in Teplitz zum Parteivorsitzenden gewählt. Er stammte aus einer kleinbäuerlichen Familie aus einem kleinen Dorf bei Reichenberg (tschechisch Liberec, Anm. d. Red.). Sein Tod kurz nach dem zweiten Parteitag 1920 bedeutete einen großen Verlust für die Sozialdemokraten.“
Gab es innerhalb der DSAP damals Bemühungen, sich mehr nach links zu orientieren?
„Die tschechoslowakische und die sudetendeutsche Sozialdemokratische Partei sind eine gemeinsame Regierungskoalition eingegangen.“
„Ja, es gab schon eine linke sozialdemokratische Strömung, vor allem in Südmähren. Die Brünner waren Austromarxisten, die diese Linksposition eingenommen haben. Später gab es die Reichenberger Gruppe unter der Leitung von Karl Kreibich, der sich als Kommunist abgespalten hat.“
Kann man die 1920er Jahre als einen Höhepunkt der politischen Tätigkeit der DSAP bezeichnen, als einen Aufschwung noch vor der Weltwirtschaftskrise?
„Ja schon, die Jahre bis 1929 stellten einen Höhepunkt der Sozialdemokratie in der Tschechoslowakei dar. Es war ein Zeitraum, in dem die zwei sozialdemokratischen Parteien, die tschechoslowakische und die deutsche, gut zusammengearbeitet haben und eine gemeinsame Regierungskoalition eingegangen sind.“
Wurde nicht versucht, die beiden sozialdemokratischen Parteien zusammenzuschließen? War die Sprache ein Hindernis?„Der Unterschied zwischen den beiden Parteien bestand in der Sprache und auch in einem gewissen nationalen Bewusstsein auf den beiden Seiten, das schwer in Einklang zu bringen war. Beim Parteitag 1928 im Prager Stadtteil Smíchov gab es Bestrebungen einzelner Personen, die Parteien zusammenzuschließen. Aber die Schnittmenge der Gemeinsamkeiten war doch nicht groß genug. Im sozialen Bereich war es das zwar, aber nicht auf dem nationalen Sektor.“
Konnten bestimme Forderungen im nationalen Bereich nicht durchgesetzt werden, oder worin bestand das Problem?
„Die Vorstellung der Sudetendeutschen war, dass die deutschsprachigen Gebiete eine gewisse territoriale Eigenverwaltung haben sollten.“
„Im nationalen Sektor war das so, dass sich die Deutschen vorstellten, dass die deutschsprachigen Gebiete eine gewisse territoriale Eigenverwaltung haben sollten. Dies ist von den tschechischen Politikern nie akzeptiert worden. Der zweite Streitpunkt war die Sprachenregelung. Es gab viele Deutsche, die einfach nicht Tschechisch konnten, weil sie nur deutsche Schulen besucht haben. In Südtirol gibt es heute beispielsweise einen nationalen Proporz: Nach der Zahl der Bevölkerung werden auch die Beamten bestellt. Gemäß dem Sprachgesetz, das in der Tschechoslowakei zusammen mit der Verfassung eingeführt wurde, musste jeder, der im öffentlichen Dienst arbeiten wollte, Tschechisch können. Es gab damals auch Entlassungen. Man hätte meiner Meinung nach einen zahlenmäßigen Proporz nach der Bevölkerungszahl machen müssen. Das wäre angemessen gewesen. Zudem war das Beherrschen der tschechischen Sprache in manchen Gebieten der Tschechoslowakei gar nicht notwendig, weil die Leute alle Deutsch konnten, selbst die tschechischen Bürger. Ich hatte selbst einen tschechischen Onkel – Josef Petrželka –, mit dem ich mich im Egerländer Dialekt unterhalten habe. Er hat genauso gut gesprochen wie ich.“
Wie hat sich die Situation der Sozialdemokraten nach der Wirtschaftskrise verändert?„Die Sozialdemokraten haben auch weiterhin versucht, den Staat aufrechtzuerhalten, an der Regierung beteiligt zu bleiben – trotz den Anfeindungen gegen sie. Ludwig Czech, der Arbeits- und Sozialminister war, hat durch die sogenannte ,Czechkarte‘ (Lebensmittelmarken für gewerkschaftlich nicht gebundene Arbeitslose, Anm. d. Red.) viel getan. Das war aber keine Behebung der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit, was man ihm persönlich angekreidet hat – er konnte jedoch nichts dafür.“
Sie haben das Jahr 1935 als das Jahr der „Erdrutschwahl“ bezeichnet. Wie entstand diese Bezeichnung?
„Das haben die Sozialdemokraten selbst so genannt. Auch in der historischen Literatur wird es so bezeichnet, weil die Sozialdemokraten bei den Wahlen 1935 mehr als die Hälfte ihrer Mandate verloren haben. Henlein mit seiner Sudetendeutschen Partei ist damals glanzvoll aufgestiegen.“
Die sudentendeutschen Sozialdemokraten haben sich aber trotzdem zum tschechoslowakischen Staat bekannt und sind loyal geblieben, auch wenn sie ahnten, dass sie dafür mit ihrem Leben zahlen könnten. Parteichef Wenzel Jaksch hat die Mitbürger in einem Memorandum beinahe prophetisch vor der weiteren Entwicklung gewarnt. Was sagte er damals?„Er hat in seinem letzten Aufruf etwa Folgendes erklärt: ,Liebe Mitbürger, bekennt euch zur Demokratie, bekennt euch zu diesem freiheitlichen Staat und nicht zu einer Kriegstreiber-Politik des Deutschen Reiches. Denn die Sudetendeutschen werden das erste Opfer einer solchen Politik sein. Es wird sich wieder wie im Ersten Weltkrieg die ganze Welt gegen die Deutschen wenden, und das wird dazu führen, dass zuallererst die Sudetendeutschen ihre Heimat verlieren werden.‘ Dies ist dann auch wirklich passiert.“
„Wir wollen, dass die Jugendorganisationen der Sozialdemokraten miteinander Kontakte aufbauen.“
Wenn wir in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg springen, nach der Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei: Hatte die Seliger-Gemeinde während der kommunistischen Zeit Kontakte zu tschechoslowakischen Regimegegnern?
„Ja, es gab Dissidenten, die nach Deutschland geflüchtet sind. Mit ihnen bestanden Kontakte.“
Mit wem arbeitet die Seliger-Gemeinde heute in Tschechien zusammen?„Wir haben Kontakte zu den Sozialdemokraten, vor allem auf der Ebene der Abgeordneten – beispielsweise zu Libor Rouček, der Europaabgeordneter war, oder zu Michaela Marksová, der Arbeits- und Sozialministerin. Wir sind gerade dabei, dass die Jugendorganisationen der Sozialdemokraten miteinander Kontakte aufbauen können. Die ersten Gespräche haben wir schon geführt –unsere Jugendlichen sind mit den jungen tschechischen Sozialdemokraten aus der Region von Eger (tschechisch Cheb, Anm. d. Red.) zusammengetroffen. Ich komme selbst von dort.“
Haben Sie noch Verwandte in Egerland? Haben Sie auch während des Kommunismus ihre Heimat besucht?
„Ja. Meine Tante war mit einem Tschechen verheiratet. Mit ihnen war ich immer in Kontakt. Ich bin schon 1963 zu Besuch gekommen. Ich hatte auch Verwandte, die Deutsche waren und 1946 nicht vertrieben wurden, weil einer Steiger im Braunkohlebergwerk war. Diese Leute wurden für die Aufrechterhaltung des Bergbaus gebraucht. Ich komme bis heute ins Egerland zu Besuch. Jetzt war ich in Maria Kulm (tschechisch Chlum Svaté Maří, Anm. d. Red.), um mit dem dortigen Propst zu sprechen, weil wir jedes Jahr in dem Wallfahrtsort den sogenannten ,Egerländer Gebetstag‘ veranstalten. Er findet immer am 15. August statt, zu Mariä Himmelfahrt, oder am Sonntag danach. Voriges Jahr hat der ehemalige Bischof von Pilsen František Radkovský den Gottesdienst zelebriert, zuvor war dort Kardinal Dominik Duka. In diesem Jahr möchten wir einen Gottesdienst für Jugendliche veranstalten, dies habe ich mit dem dortigen Propst vereinbart. Nach Maria Kulm fahre ich aus dem Grund, weil meine Mutter aus einer Mühle im Leibitschtal stammte. Die Mühle gehörte zur Pfarrei Maria Kulm. Meine Mutter wurde dort getauft und gefirmt und hat dort geheiratet. Voriges Jahr ist mir ein Buch in Hand gefallen, das in Bayern erschienen ist, es hieß ,Ankunft in der neuen Heimat‘. Ich habe es durchgeblättert, und in einem der Kapitel bin ich auf den Namen Katharina Eikam gestoßen. Das war meine Mutter. Sie schriebt dort: ,Am Pfingstsonntag 1946 wallfahrteten wir noch einmal nach Maria Kulm und beteten dafür, dass die Familie wieder zusammen kommt. Ganz besonders baten wir aber Mutter Gottes um eine erträgliche Zukunft, weil am nächsten Tag wurden wir ins Auffanglager in Falkenau gebracht.‘ Ich habe aus diesem Büchlein in meiner Einführungsrede in Maria Kulm gelesen.“