Von Kuzvart bis Telicka: Das tschechische EU-Kommissar-Debakel
Auch diesen Freitag begrüßen wir Sie wieder, liebe Hörerinnen und Hörer, im Spiegel der Medien. Dieses Mal jedoch nicht - wie üblich - mit zwei Themen aus Tschechiens Medienlandschaft, sondern nur mit einem: Denn dieses beschäftigt seit nun genau einer Woche die Kommentatoren des politischen Geschehens: Der unerwartete Rückzieher des nominierten tschechischen EU-Kommissars Milos Kuzvart am vergangenen Freitag. Und: Die prompte Ernennung seines Nachfolgers für den EU-Posten: Pavel Telicka. Mehr dazu von Daniel Satra und Jitka Mládková.
Zu Beginn des Debakels, am vergangenen Freitag, haben Politiker und Journalisten nicht schlecht gestaunt: Milos Kuzvart tritt von seiner Anwärterschaft als Tschechiens EU-Kommissar zurück - unerwartet. Bevor jedoch diese Meldung die Titelseiten der Samstagsausgaben tschechischer Tageszeitungen stürmen konnte, herrschte erst einmal allgemeine Verunsicherung und Ratlosigkeit. Nicht zuletzt, weil Tschechiens Premierminister die Absage seines sozialdemokratischen Parteifreundes Kuzvart mit einem Schwächeanfall quittierte und zusammenbrach. Bohumil Pecinka fasst die turbulenten Ereignisse am vergangenen Freitag zusammen - der Kommentator der Wochenzeitschrift Týden war an vorderster politischer Front, im Abgeordnetenhaus:
"Es war interessant zu sehen, wie am vergangenen Freitag im Abgeordnetenhaus die Regierungsmacht am Boden lag. Zu allererst lag dort der erschöpfte Premier Spidla im Raum für Staatsakte am Boden. Und anstatt sichtbar seine Position einzunehmen und die Öffentlichkeit zu beruhigen, entwand sich sein erster Stellvertreter Stanislav Gross den Fragen der Journalisten und entschwand durch den Hinterausgang. Ihm folgte auch der Abgeordnete Kuzvart, der dann die nächsten sechs Stunden darüber nachdachte, ob er Kommissar der EU-Kommission sein will oder nicht. In der herrschenden Konfusion war keines der Regierungsmitglieder in der Lage der Öffentlichkeit zu erklären, was geschehen war, und die Fragen der Journalisten wurden nur mit einem Schulterzucken beantwortet."
Nach dem ersten Schock über Milos Kuzvarts unerwarteten Rückzieher vom anstehenden Posten des tschechischen EU-Kommissars, überstürzten sich dann auch die Abgesänge auf den Meinungsseiten der tschechischen Presse. Jana Bendová schreibt in der Mlada fronta Dnes zum Beispiel:
"Er sollte 'der erste Tscheche in Europa' sein. Nun ist er der namhafte Exporteur unserer Blamage geworden. Milos Kuzvart hat seine Brüssler Koffer gepackt, noch bevor er sie ausgepackt hat. Und das mit voller Wucht - er schadet mit seinen unschönen Reden über Minister Svoboda seinem eigenen Namen, und damit dem Namen des ganzen Landes. Soll doch Brüssel die ganze Wahrheit hören - wir Tschechen schlagen uns hier gegenseitig die Köpfe ein. Wir sind ganz schöne Dilettanten. Wir schicken unseren ersten Kommissar in die europäische 'Regierung' - einen Politiker, der noch nicht einmal von der ganzen Regierungskoalition getragen wird, geschweige denn von der Opposition."
Jedoch nicht Kuzvart allein sei Schuld an der Blamage, vor allem Ministerpräsident Vladimír Spidla trifft Bendovás Kritik: Denn schließlich habe er Kuzvart "so zusagen gegen den Willen aller durchgesetzt", so ihre Beobachtung. Zu dem gleichen Ergebnis gelangt auch Pavel Verner in der linksliberalen Tageszeitung Právo. In der Konsequenz gleich, jedoch mit weniger harten Worten geht Verner mit Kuzvart und Spidla ins Gericht: Kuzvarts offizielle Begründung, Außenminister Cyril Svoboda habe ihn nicht ausreichend unterstützt, sei unglaubwürdig. Vielmehr habe Kuzvart bei seinen Vorstellungsbesuchen in Brüssel gemerkt, dass er dem Euroformat nicht gewachsen sei - ihm fehle einfach das Zeug für eine Brüssler Karriere, so Verner.Nach der durchgängig schonungslosen Kritik, die neben Kuzvart vor allem auch Spidla einkassieren musste, haben die kritischen Stimmen im Wochenverlauf nicht nachgelassen. Denn bereits Dienstag war so gut wie entschieden, was am Mittwoch feststand: Unter Zeitdruck - denn Romano Prodis Kommission hatte um Eile gebeten - wurde Pavel Telicka für den Posten des EU-Kommissars nominiert. Auch für Telicka, der tschechische Ex-Chefunterhändler für die Beitrittsverhandlungen mit der EU und jetzige Botschafter in Brüssel, hatte sich kein Kommentator Samthandschuhe übergestreift. Durch die Bank wurde der neue Kandidat einem Vergleich mit Milos Kuzvart unterzogen. Und siehe da, er hielt stand. Das kleinere Übel Telicka ist zumindest besser als sein Vorgänger, schreibt Martin Komárek für die Mlada fronta Dnes:
"Pavel Telicka ist genau um die Hälfte besser als Milos Kuzvart. Kuzvart war sowohl zu Hause als auch in Brüssel ein Problem. Mit Telicka hingegen gibt es nur zu Hause Probleme. Der Mann, der von sich selbst immer gesagt hat, er sei kein Politiker, sondern Beamter beherrscht 'Brüsselisch' und die Fähigkeit so lange am Tisch zu sitzen, bis alle am Ende sind und seine Anliegen abnicken. Er weiß, dass die wichtigsten Absprachen bei einer Schüssel Müsli oder auf dem Sportplatz geschlossen werden. Sowohl dort als auch dort ist er zuhause, kurz ein gemachter Brüssler."
Komárek merkt an, dass sich die oppositionellen Bürgerdemokraten von der ODS gegen Telicka stellen. Nicht weil der 39-Jährige noch einige Jahre vor der politischen Wende von 1989 in die Kommunistische Partei eingetreten ist, nein, die ODS wirft Telicka vor, er habe bei den EU-Beitrittsverhandlungen keine ausreichend guten Konditionen für Tschechien ausgehandelt.Auch eine Partei aus den eigenen Reihen der Regierungskoalition stellte sich gegen den neuen Kandidaten: Die Christdemokraten von der KDU-CSL erhoben den Kommunismus-Vorwurf. Miroslav Kalousek, der christdemokratische Anwärter auf den Posten des EU-Kommissars, nannte die Wahl Telickas gar vehement "eine moralische Ohrfeige", Telicka sei eine Unperson mit schwachem Charakter. Petr Novacek, Mitarbeiter des Tschechischen Rundfunks, vertritt in der Tageszeitung Lidové Noviny eine ganz andere Meinung. Als Mitglied der KDU-CSL solle sich Kalousek an seine eigene Nase fassen, denn:
"Die Mitverantwortung zumindest der Parteispitzen der Christdemokraten hatte 41 Jahre nach dem Februarregime Josef Lux als neuer Kopf der Partei zugegeben, aber nicht einmal er hat sich getraut dieses Geschichtskapitel im Licht der Öffentlichkeit auszubreiten. Auch deshalb ist es wohl kaum frech, am Tag 56 Jahre nach der kommunistischen Februarrevolution (...) der KDU-CSL angesichts ihrer Aussprüche ein bisschen mehr Demut zu empfehlen."
Petr Zavadil, stellvertretender Chefredakteur der Lidové Noviny und Autor der wöchentlichen Rubrik "Eurozone", hat uns in einem Gespräch seine Sicht auf das tschechische EU-Kommissar-Debakel mitgeteilt:
"Der Sache wurde nicht die erforderliche Wichtigkeit beigemessenen, die die Funktion des EU-Kommissars innehat. Am 1. Mai tritt Tschechien der Europäischen Union bei, und ein Vorteil dieser dann neuen Situation ist, das auch ein Vertreter der Tschechischen Republik Teil der EU-Kommission sein wird, und diese ist ein mächtiges Organ in der EU. Tschechien hat diesen Vertreter auf der Grundlage befremdlicher innerparteilicher und innenpolitischer Spielchen ausgewählt, anstatt einen guten Mann nach Europa zu schicken, der die Funktion sinnvoll ausfüllen kann. Besonders beschämend ist die Sache auch dadurch, dass Tschechien einer der Staaten war, die bei dem Entwurf einer Europäischen Verfassung - auch, wenn diese noch nicht verabschiedet ist - vehement das Anrecht jedes Staates auf einen EU-Kommissar vertreten hat."
Außerdem, so Zavadil, habe die Tschechische Republik ein falsches Bild von der Aufgabe eines EU-Kommissars. Das habe der Fall Kuzvart deutlich gezeigt:
"Bei Milos Kuzvart kam es mir so vor, als würde Tschechien so eine Art Botschafter nach Europa aussenden. Aber so ist das eben nicht. Wir hatten die Aufgabe einen Politiker anzubieten, der in der Lage ist einen Teil der EU-Kommission zu leiten, der dort Entscheidungen fällen kann. Aber hierzulande heißt es dann immer: 'Wir brauchen einen Politiker, der gut Englisch spricht, damit er uns auch ja gut repräsentiert'."
Und Telicka? Der EU-Joker, den der neue Kandidat und alte Kenner der EU auf Grund seiner vorangegangen Tätigkeiten in Brüssel im Blatt hat, wird ihm in den Pressekommentaren angerechnet, wie zum Beispiel von Pavel Tomásek in der Wirtschaftszeitung Hospodarské Noviny. Dennoch: Telicka hin, Kuzvart her, die Kernaussagen im tschechischen EU-Kommissar-Fiasko bleiben: Tomásek bringt sie auf den Punkt:
"Die komplexe Situation der EU-Erweiterung erfordert von einem Staat in der Größe Tschechiens das Einsetzen exzellenter Leute. Während Milos Kuzvart auch in heimischen Gefilden einen schwachen Durchschnitt darstellt, nähert sich Pavel Telicka wenigstens an die genannte Kategorie an."
Wirkliche Exzellenz in EU-Maßstäben scheint hierzulande jedoch nach wie vor zu fehlen.