Vor 30 Jahren: Internationale Rockstars geben sich auf Prager Burg die Klinke in die Hand
1990 war das erste Jahr, das die Tschechoslowakei im neu eingeführten demokratischen System und mit ihrem Präsidenten Václav Havel verbrachte. Auch auf kulturellem Gebiet tat sich dank der geöffneten Grenzen viel. Namhafte Musiker und Rockstars kamen gleich im Jahr eins nach der Samtenen Revolution in die Hauptstadt. Und das nicht nur, um hier Konzerte zu geben. Viele von ihnen besuchten Havel in seinem Amtssitz auf der Prager Burg.
So ein Jahr wie 1990 haben die Musikfans in Tschechien wohl nie wieder erlebt. Das geflügelte Wort von der „Zweiten Revolution“ machte die Runde. Diese verdankten sie diesmal den internationalen Rockstars, die in den Monaten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die ersten großen Konzerte im Land gaben. Ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist der Auftritt der Rolling Stones, zu dem am 18. August 1990 über 100.000 Menschen ins Stadion Strahov pilgerten. Zuvor waren die Musiker auf die Prager Burg eingeladen. Der Architekt Zdeněk Lukeš führte Mick Jagger und Co damals durch den Amtssitz des tschechischen Präsidenten. In den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks erzählte er:
„Als die Stones auf der Burg eintrafen, haben wir uns nett unterhalten. Die Ereignisse in Prag haben sie sehr interessiert. Sie wollten wissen, wie die Samtene Revolution hier abgelaufen war. Wir haben ihnen die einzelnen Salons gezeigt. Draußen hatten sich viele Fans versammelt, also hat Václav Havel vorgeschlagen, sich auf dem Präsidenten-Balkon zu zeigen. Der hatte vorher zum Beispiel Besuchen von Adolf Hitler oder Leonid Breschnew dienen müssen, und Havel wollte seinen Ruf mit den Stones ausbessern.“
Es zeigte sich aber, dass der Balkon seit den Zeiten von Gustáv Husák nicht mehr genutzt worden war und es darum keinen Schlüssel zu seiner Tür gab. Havel und die Musiker ließen sich davon nicht entmutigen und wussten sich zu helfen. Jemand habe dann vorgeschlagen, durch das Fenster auf den Balkon zu klettern, lacht Lukeš:
„Also sind wir einer nach dem anderen durch das Fenster gestiegen. Das war ein tolles Erlebnis, die Menschen haben gejohlt und geklatscht. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung.“
Auch die Besuche anderer Rockstars wurden von jubelnden Menschenmassen begleitet. Schon zu Jahresbeginn, genauer am 20. Januar, war Frank Zappa auf dem Prager Flughafen in Ruzyně gelandet. Empfangen wurde er von der US-amerikanischen Botschafterin Shirley Temple Black, die allerdings zugab, nie einen Song des Musikers gehört zu haben. Anders als die 2500 Fans, die ihn ebenfalls vor Ort begrüßten. Reporter des Tschechischen Fernsehens holten damals Stimmen ein wie diese:
„Ich bin hergekommen, um den größten aller Fürsten zu sehen, Frank Zappa. Ich freu mich riesig auf ihn.“
Zappa, ein Enfant terrible der damaligen Rockmusik und gleichzeitig gesellschaftlich sehr engagiert, war der erste Star überhaupt, der die Tschechoslowakei besuchte. Als Freidenker und Provokateur hatte er im Land schon vor der Samtenen Revolution eine feste Fangemeinde, die für seine Platten auf dem Schwarzmarkt hohe Summen zu zahlen bereit war. Michal Kocáb, Mitbegründer der Band Pražský výběr und späterer Politiker, war mit Zappa befreundet. Im Tschechischen Fernsehen erinnert er sich an ihn:
„Zappa war ein Homo Politicus. Er hat sofort den Vorteil unserer Lage erkannt, den wir für die Rockmusik ausnutzen konnten. Er trug uns auf, gegen etwas zu protestieren.“
Obwohl Frank Zappa kurz darauf selbst seine Kandidatur zum US-Staatsoberhaupt vorbereitete, war Václav Havel nach seinen Aussagen der erste Präsident, den der Musiker persönlich traf. Berühmt sind die Bilder, die beide rauchend ins Gespräch vertieft zeigen. Der Musiker, dessen Lieder wegen vulgärer Ausdrücke aus manchen Radio-Programmen verbannt wurden, war sogar als Kultur-Gesandter der Tschechoslowakei in den USA im Gespräch. Darauf wollte sich aber die politische Führung in Washington nicht einlassen. Zappa kehrte 1991 noch einmal nach Prag zurück und nahm gemeinsam mit Pražský výběr an einem Konzert teil, das den Abzug der sowjetischen Truppen feierte.
Begleitmusik zum Abzug der russischen Truppen
Auch das besagte Konzert der Rolling Stones wurde als Begleitmusik der abziehenden Sowjets aufgefasst. Ihr Besuch 1990 in Prag wurde flankiert vom Motto: „tanky se valí ven, Stony se valí sem“ – „Die Panzer rollen ab, die Stones rollen ein“. Die Briten hatten Václav Havel ihren Auftritt selbst angeboten, der sich mit einer Einladung auf die Burg revanchierte. Der neue Präsident war für internationale Musikstars geradezu ein Magnet. Auch in westlichen Ländern war es damals nicht üblich, dass Staatspräsidenten mit Rockmusikern befreundet waren, ihre Konzerte besuchten und sie schließlich auch noch in den Präsidentenpalast einluden. Havel war diesbezüglich eine Ausnahme. Berühmte Künstler gaben sich auf der Burg die Klinke in die Hand, so Zdeněk Lukeš:
„Lou Reed war zum Beispiel da. Oder auch Joan Baez. Sie hat in jedem Saal der Burg gesungen, um die Akustik auszutesten.“
Für die größte Ansammlung an verzückten Bewunderern auf dem Burghof sorgte, wenig überraschend, Michael Jackson. Auch er wurde von Lukeš über das Burgareal geführt. Als beide vom Veitsdom zum Königspalast hinübergehen wollten, trafen sie auf eine undurchdringliche Masse weiblicher Fans:
„Sie hatten eigentlich ihr Lager auf der Letná-Höhe aufgeschlagen, aber von dort den Autokorso zur Burg fahren sehen. Also kamen sie hinterher. Als wir nun aus dem Dom traten, staunten selbst die Leibwächter von Michael Jackson nicht schlecht. Dort waren Tausende von Mädchen, die hysterisch kreischten. Durch diese Menge sollten wir uns nun den Weg auf den nächsten Burghof bahnen. Das schien fast unmöglich zu sein.“
Kreischende Fanmassen
Mit Hilfe der erfahrenen, zwei Meter großen Leibwächter kamen Lukeš und Michael Jackson dann tatsächlich im Harfen-Salon an. Die Fangemeinde harrte draußen weiter aus. In ihrer Verzückung verpassten die Jackson-Verehrerinnen jedoch eine Möglichkeit, ihr Idol noch einmal zu sehen:
„Michael Jackson öffnete auf einmal ein Fenster zum Hof. Dort stand er dann, in seiner Uniform. Die Mädchen schauten aber alle gebannt auf den Präsidentenbalkon. Wie bei den Stones erwarteten sie, dass sich der Sänger dort mit Václav Havel zeigen würde. Er stand jedoch eine ganze Minute an dem Fenster, dann schloss er es wieder und kehrte zu uns zurück.“
Vor 30 Jahren stattete auch Bruce Springsteen der tschechischen Hauptstadt einen Besuch ab. Nicht nur Václav Havel war ein Fan des Rocksängers. Architekt Lukeš erinnert sich an Springsteen als einen bescheidenen und freundlichen Mann:
„Ich habe ihn ebenfalls bewundert. Auf dem Burghof wurde er natürlich von den Leuten erkannt. Sie wussten ja, dass er ein Konzert in Prag gab. Springsteen hat sich ganz normal mit ihnen unterhalten. Interessant war auch, dass er von dem Laden im Goldenen Gässchen gehört hatte, den die Stiftung von Olga Havlová betrieb. Er ließ sich von mir dort hinführen und kaufte eine ganze Reihe der Produkte aus den Behindertenwerkstätten. Das war wirklich eine schöne Geste.“
Sowohl der „Boss“ als auch die Rolling Stones gaben in den folgenden Jahren noch weitere Konzerte in Prag. 30 Jahre später sind große Konzerte namhafter Bands und Musik-Festivals hierzulande bereits Normalität geworden. Diese ist aber, wie so vieles im zu Ende gehenden Jahr 2020, durch die Corona-Krise unterbrochen worden. Konzertbesucher sind nach langer Zeit wieder zur Abstinenz gezwungen, und zahlreiche Auftritte wurden ins kommende Jahr verschoben. Obwohl damit die Vorfreude aber auch wieder steigt, wird wohl eine Atmosphäre wie 1990, als alles noch neu und ungewohnt war, nicht wieder aufkommen.