Vor 75 Jahren: Hitler ruft Protektorat aus – Tschechen mit Wut und Trauer
Mitte März 1939 verschwand die Tschechoslowakei von der Landkarte Europas. Bereits ein halbes Jahr zuvor war ihr Staatsgebiet beschnitten worden, als infolge des Münchner Abkommens die Sudetengebiete an Deutschland fielen. Nun ließ Hitler den Reststaat in die formell selbständige Slowakei und das Protektorat Böhmen und Mähren teilen. In Prag marschierte die deutsche Wehrmacht ein. Was bedeutete die Besetzung des Landes aber für den Alltag der Menschen?
„Die Fotografien von damals dokumentieren, mit welchen Emotionen die Deutsche empfangen wurden: mit geballten Fäusten, Tränen in den Augen und bösen Blicken. Es schien, als ob die Natur die beklemmende Atmosphäre noch unterstrich: Damals wehte ein starker Wind, die Temperaturen lagen um den Gefrierpunkt und in Prag fiel Schneeregen. An manchen Orten mussten die Okkupanten sogar durch Schneegestöber vordringen. Es war wirklich ein tragischer Moment, der sich manchen Menschen ins Gedächtnis eingrub. Meiner Meinung nach lassen sich schon in den ersten Stunden der Okkupation die Wurzeln des Hasses gegenüber den Deutschen finden, der sich dann im Jahr 1945 zeigte.“
Gleich am 15. März kam Hitler zum ersten und auch einzigen Mal nach Prag. Er erreichte die böhmische Hauptstadt sogar früher als Emil Hácha, mit dem er noch nachts in Berlin verhandelt hatte. Der frühere Staats-, nun aber schon Protektoratspräsident soll auch erst am Nachmittag bei der Regierungssitzung von Hitlers Anwesenheit in Prag erfahren haben.Der deutsche Diktator nahm bei seinem Aufenthalt eine Militärschau auf der Prager Burg ab und begrüßte deutsche Studenten der Karlsuniversität, die ihm zujubelten. Diese Studenten standen einige Tage später noch einmal im Mittelpunkt. Am 19. März fand eine Militärparade auf dem Prager Wenzelsplatz statt. Sie wurde vom Rundfunk übertragen – abwechselnd Tschechisch und Deutsch. Im Archiv des Tschechischen Rundfunks befindet sich auch die Originalaufnahme des deutschen Teils der Reportage:
„Die Deutschen freilich, die mit leuchtenden Augen und klopfenden Herzen dastehen, sie denken nicht mehr an die überstandenen Tage des Leidens, sondern sind von einem einzigen Gefühl der Dankbarkeit unserem Führer Adolf Hitler gegenüber beseelt. Es sind vor allem die Studenten, die rechts und links auf dem Wenzelsplatz auf das Einziehen der deutschen Truppen warten, dieselben Studenten, die sich in den letzten Tagen - mit beispielloser Disziplin und vollem Einsatz für ihr Deutschtum - in Prag gehalten haben. Sie sind geschmückt mit den Hakenkreuz-Zeichen, sie werden heute Abend zu Ihnen singen und sagen, was sie hier in Prag beseelt.“
Der Reporter František Kocourek, der den tschechischen Teil der Reportage übernommen hatte, wurde später verhaftet und ins Konzentrationslager verschleppt. Angeblich soll er es gewagt haben, an mehreren Stellen die deutsche Militärparade ironisch zu kommentieren. 1942 wurde er in Auschwitz-Birkenau umgebracht.Den Deutschen war jedoch klar, dass sie sich auf feindlichem Terrain befanden. Daher versuchten sie nach der Ausrufung des Protektorats zunächst, die Loyalität der Bevölkerung zu kaufen. Am 22. März 1939 wurde zum Beispiel an ärmere Menschen Essen verteilt. In einer Reportage des Tschechoslowakischen Rundfunks hieß es damals unter anderem:
„Die Buskolonne nahm die ganze Fläche hinter dem Industriepalast ein. Zwischen den Bussen hoben sich große braune Zelte ab und die Köche an den Kesseln gaben sich alle Mühe. Jetzt befinden wir uns auf dem viereckigen Hof des Gemeindehauses in Žižkov. Alles ist an seinem Platz, überall ist es rein und ordentlich. Es spielt gerade die Kapelle der Deutschen Reichswehr und ihr Marsch hallt weit über den Hof. Menschen betreten den Hof durch ein großes Tor und bilden eine Viererreihe. Weiß gekleidete Frauen verteilen Essen an sie.“Zahlreiche solche Propaganda-Aktionen wurden damals durchgeführt. Manche Historiker glauben sogar, dass die Deutschen in einer ersten Etappe wirklich versuchten, eine Art „Modus Vivendi“ mit den Tschechen zu finden. Doch das schlug fehl. Zur öffentlichen Ausgabe von Eintopf kam vor allem die deutschsprachige Bevölkerung Prags, bei den Tschechen war das Interesse nur gering. Die Tschechen nutzten jede Gelegenheit, ihre Verachtung für die neuen Herren zu zeigen, betont Jaroslav Šebek:
„Damals erhob sich eine gewaltige Welle des Patriotismus. Zum Beispiel wurde das Denkmal des heiligen Wenzels auf dem gleichnamigen Platz in Prag mit Blumen überschüttet. Zu erwähnen ist auch das Phänomen der nationalen Wallfahrten, sie wurden zwar von der Kirche organisiert, alle verstanden sie aber als eine Äußerung des Trotzes. Die bekanntesten Feste fanden auf dem tschechischen Nationalberg Říp statt und in der Laurentius-Kirche auf einem Hügel bei Domažlice. Einen stark nationalistischen Akzent hatte auch die Verlegung des Grabes von Karel Hynek Mácha. Im Mai 1939 wurden seine Gebeine aus Litoměřice nach Prag gebracht. Litoměřice befand sich auf dem Gebiet, das die Tschechoslowakei 1938 an Deutschland abgetreten hatte. Der beliebte Dichter wurde daher unter der Teilnahme von mehreren Zehntausend Menschen auf dem Prager Friedhof Vyšehrad erneut beerdigt.“ Im einen Punkt jedoch konnten die Besatzer bei den Tschechen punkten: mit den Angebot von Arbeit im Deutschen Reich. Gegen Ende der 1930er Jahre gab es in den Böhmischen Ländern etwa 100.000 Arbeitslose, und diese waren dankbar für jede Möglichkeit eines Verdienstes. Ab März 1939 fuhren Sonderzüge mit vielen Tausend Tschechen nach Deutschland. Dort bestand vor allem Interesse an Fachkräften aller Art: Technikern, Handwerkern, Ärzten, aber auch Erntehelfern. Sie sollten jene Männer ersetzen, die zur Wehrmacht eingezogen wurden. Bei der Abfahrt eines Sonderzuges aus dem Prager Hauptbahnhof am 20. April 1939 war auch ein Rundfunkreporter zugegen, der pathetische Worte gebrauchte:„Die Waggons sind bereits voll, und auf dem Bahnsteig stehen diejenigen, die sich von ihren Nächsten verabschieden. Man sieht eine ganze Reihe von eindrucksvollen Bildern: Mütter, Ehefrauen und Geliebte, die ihre Männer zum Start der langen Fahrt begleitet haben. Manche Frauen heben demonstrativ ihre Kinder in die Höhe, damit auch die Kleinsten ihren Vätern zum Abschied winken können. Braun gekleidete Helferinnen verteilen Proviantpäckchen an die einsteigenden Männer: zwei oder drei Orangen, ein Stück Käse, Salami, Rauchfleisch und dann noch Zigaretten, Brot und Brötchen.“Die Bereitschaft zur Arbeit in Deutschland hielt jedoch nicht lange an. Mit jedem Jahr wurden die Arbeitsbedingungen schwieriger und die Löhne niedriger. Ab 1943 wurden Tschechen dann zum „Totaleinsatz“ eingezogen: Ganze Jahrgänge von Männern und Frauen wurden in Hitlers Reich deportiert, um Sklavenarbeit zu verrichten. Schätzungsweise 6000 Tschechen kehrten vom Totaleinsatz nicht mehr nach Hause zurück, mehrere Zehntausend starben infolge der Erschöpfung in den ersten Monaten nach dem Krieg.
Ähnlich entwickelte sich das Alltagsleben im Protektorat: In den ersten zwei Jahren war für alle, die nicht aus rassischen oder politischen Gründen verfolgt wurden, die Lage relativ erträglich. Mit dem Antritt des sogenannten Stellvertretenden Reichsprotektors Reinhard Heydrich im Jahr 1941 begann die Zeit harter Repressionen. Nach dem Attentat auf Heydrich im Mai 1942 gingen die Okkupanten dann zum Terror gegen die Tschechen über. Das Leben war von Angst, Not und Wut geprägt. Wohlschmeckender Eintopf wurde da schon längst nicht mehr serviert.