„Wahlen auf Probe“ für Schüler unter Beschuss
Je näher die Wahlen zum tschechischen Abgeordnetenhaus heranrücken, desto stärker versuchen die Parteien gezielt bestimmte Wählergruppen anzusprechen. Dazu gehören auch die jungen Wähler. Als jedoch die Nichtregierungsorganisation „Mensch in Not“ auf tschechischen Mittelschulen unter jenen Schülern, die in diesem Jahr noch nicht wählen dürfen, eine Probewahl durchführen lassen wollte, stieß das bei einigen Politikern auf starken Widerstand. Sie setzten durch, dass die Ergebnisse der Wahl auf Probe erst dann bekannt gegeben werden, wenn auch die Parlamentswahlen entschieden sind.
Bei jungen Menschen, die noch nicht volljährig sind, ist das Interesse an der Politik - für manche Beobachter vielleicht überraschend - groß. Das zeigt auch ein Wahlprojekt, das die Nichtregierungsorganisation „Člověk v tísni“ („Mensch in Not“), die sich schon seit längerem unter anderem mit politischer Bildungsarbeit in den Schulen befasst, im vergangenen Jahr gestartet hat. Schüler von Gymnasien und Mittelschulen aus dem ganzen Land, die älter als 15 Jahre sind, stimmen dabei probeweise über die Zusammensetzung des künftigen Parlaments ab. Für diese so genannten „Wahlen auf Probe“ meldeten sich ursprünglich 198 Schulen.
Vor einigen Wochen regte sich jedoch Kritik am ganzen Vorhaben. Der Dachverband der tschechischen Regionen, die Assoziation der tschechischen Kreise, kritisierte, dass die Ergebnisse der Probewahlen unter den Schülern die Wahlabsichten anderer tschechischer Wähler beeinflussen könnten. Sie setzten durch, dass „Mensch in Not“ die Ergebnisse erst Ende Mai veröffentlichen wird, wenn auch das Ergebnis der regulären Wahlen feststeht. Einige Schulen, die sich ursprünglich ebenfalls beteiligen wollten, zogen ihre Teilnahme zurück: Die Schulen befürchteten Sanktionen durch die Kreisregierungen, die die Schulen finanzieren. Letztlich beteiligten sich an dem Projekt insgesamt 145 Schulen im ganzen Land. Die Abstimmung fand Ende April statt.Wie sind diese „Wahlen auf Probe“ entstanden? Koordinator des Projekts ist Karel Strachota von „Mensch in Not“:
„Die Schülerwahlen sind Bestandteil unseres seit einigen Jahren laufenden Bildungsprojekts unter dem Titel: ´Wer sonst?´ Das Projekt will junge Menschen motivieren, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen und sich in die Bürgergesellschaft einzubringen. Ende 2008 haben wir eine landesweite Umfrage mit Hilfe von Fragebögen organisiert, bei der sich zeigte, dass junge Leute nicht daran glauben, tatsächlich die Politik beeinflussen zu können. Auf Grund dieser Ergebnisse haben wir eine Reihe von Projekten ins Leben gerufen, darunter eben auch die Schülerwahlen. Die Wahlen auf Probe sollten den jungen Menschen vor Augen führen, dass eine Teilnahme an den Wahlen gerade das wichtigste Instrument ist, um die Politik zu beeinflussen. Erst später haben wir erfahren, dass in einer Reihe weiterer europäischer Länder vergleichbare Projekte laufen und auch in den USA und Kanada.“
Positiv äußern sich über dieses Vorhaben auch die tschechischen Politologen, stellvertretend zum Beispiel der Politikwissenschaftler Zdeněk Zbořil von der Prager Karlsuniversität:
„Ich begrüße das natürlich, weil Ziel ist, ein Verantwortungsgefühl für Bürgerpflichten zu schaffen. Die heutige Generation junger Menschen ist natürlich eine andere, als jene zu Beginn der 90er Jahre - besonders weil die technischen Möglichkeiten damals mit jenen von heute nicht zu vergleichen sind. Die junge Generation von heute ist global vernetzt und diskutiert über globale Themen, aber es fehlt ihr an Verantwortungsbewusstsein. Alles, was zu einer Stärkung dieses Bewusstseins führt, ist daher begrüßenswert. Natürlich könnte versucht werden, die Ergebnisse dieser Wahlen auf Probe propagandistisch auszunutzen, aber was ist heute schon davor sicher? Man sollte die Ergebnisse allerdings nicht überbewerten. Zudem scheint es mir wichtig, nicht nur die Resultate festzuhalten, sondern auch den Wahlmodus zu überprüfen.“Die Kritik der Politiker an dem ganzen Projekt richtet sich insbesondere dagegen, dass die Mittelschulen und deren Schüler in den Wahlkampf hineingezogen werden könnten. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, in wie weit Schulen und auch Hochschulen generell apolitische Räume sein sollen? Dazu meint der Politikwissenschaftler Zdeněk Zbořil:
„Hochschulen zu unpolitischen Räumen zu erklären, das wäre an sich schon ein Widerspruch. Die Gründung der Prager Universität durch Karl IV. war zum Beispiel ein hochpolitischer Akt. In den folgenden Jahrhunderten blieb die Universität ein Ort, an dem Politik betrieben wurde. Auch heute kann natürlich die Politik nicht von den Hochschulen verbannt werden – es geht allerdings darum, dass die Politik den Hochschulen nicht ihre Bedingungen diktiert. Was die Mittelschüler angeht, muss man eines beachten: Im Gegensatz zu den Hochschülern haben sie in den meisten Fällen keine eigenen Einkünfte und deshalb sind sie oft auch radikaler, weil sie in geringerer sozialer Verantwortung stehen.“Erstaunlich an dem Projekt ist, dass jene Lehrer, die an den teilnehmenden Schulen die Abstimmung unter den Schülern koordiniert haben, sehr engagiert waren. Einige Lehrer haben sich laut Karel Strachota von „Mensch in Not“ auch an der Ausarbeitung von Begleitbroschüren beteiligt, die zusätzliche Informationen zum politischen System Tschechiens enthalten. Dazu Strachota:
„Ich muss sagen, dass die Reaktion von Seiten der Lehrer sehr positiv war. Die Lehrer haben das Projekt unterstützt und sahen darin mehrheitlich einen attraktiven Zugang zum Thema Politik. Die Lehrbücher enthalten zwar schon Grundinformationen über die wichtigsten Merkmale einer demokratischen Regierungsform, das politische System und so weiter. Hier können die Schüler das aber gleich praktisch anwenden. Wir haben für die Lehrer noch ein Begleitbuch zusammengestellt mit den Grundzügen des politischen Systems des Landes und auch Fragen, die sie mit den Schülern erörtern können und ihnen somit die demokratischen Grundprinzipien noch näher bringen können.“Auf eine ähnlich positive Erfahrung mit den Lehrern kann auch Politologe Zbořil verweisen. Er nimmt seit mehr als fünf Jahren an Seminaren für Lehrer teil, die in ihren Schulen Staatsbürgerkunde unterrichten. Sein Eindruck ist, dass heute an den tschechischen Schulen keine Spur mehr zu finden ist vom früheren Staatsbürgerkunde-Unterricht der kommunistischen Zeit, der bei den Schülern allgemein sehr unbeliebt war. Jeder Versuch, die politische Bildung attraktiv zu gestalten, sei laut Zbořil daher begrüßenswert:
„Alle sind überzeugt, dass es solche Fächer geben sollte. Ich habe mit Lehrern aus dem ganzen Land zu tun gehabt und glaube daher, ein umfassendes Bild erhalten zu haben. Nach der Wende, als die einstige Staatsbürgerkunde wegen ihrer früheren Rolle im Dienst der kommunistischen Ideologen umbenannt wurde, gab es jedoch noch keine offiziellen neuen Lehrbücher. Einige Lehrer versuchten sich mit geschichtlichen Erklärungsmustern zu helfen. Das traf natürlich nicht den Kern des Gegenstands. Interessant ist, was mir die Lehrer erzählt haben: dass die Kinder schon in den frühen Klassen der Grundstufe zumindest ahnen, was das Wesen einer Demokratie ausmacht, wer an der Spitze des Staates steht usw. In den vergangenen fünf Jahren, seit dem ich mich regelmäßig mit diesen Lehrern treffe, bin ich noch nie auf Ablehnung gestoßen, zum Beispiel dass diese Themen nicht in den klassischen Unterricht Einzug halten sollten.“