Wahlkampfschlager Meinungsforschung: Tschechische EU-Skepsis nicht mehr als ein Gerücht?

Der Termin für die Wahl zum Abgeordnetenhaus steht fest, am 2. und 3. Juni werden die Tschechinnen und Tschechen zu den Urnen gerufen. Es ist die erste Wahl dieser Art seit dem EU-Beitritt des Landes im Mai 2004. In der Zwischenzeit gab es lediglich Regional- bzw. Senatswahlen. Und die fielen für die regierenden Sozialdemokraten, die sich als Partei der europäischen Integration sehen, in der Regel schlecht aus. Glaubt man jedoch den neuesten Umfragen, so holen nicht nur die Sozialdemokraten auf, sondern es steigt auch die Zufriedenheit der Bürger mit ihrem Leben in der EU. Was prompt ein gutes Wahlkampfthema abgibt.

Foto: Europäische Kommission
Prager Burgplatz, 14. Juni 2003. Das Referendum über den Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union ist geschlagen. Hoch über der abendlichen Stadtkulisse jubelt der damalige Premierminister Vladimir Spidla über das Ergebnis: Mehr als 77 Prozent Zustimmung. Eine Sternstunde für den Sozialdemokraten, der sich vehement für den EU-Beitritt seines Landes eingesetzt hatte:

"Es ist schön, Menschen zu sehen, die Mut haben, und ich muss sagen, dass ich stolz auf euch bin! Denn wir haben uns den Weg in die Zukunft geöffnet, und wir müssen uns vor ihr nicht fürchten."

Und mehr als zweieinhalb Jahre später? Wie hat sich die Haltung der Tschechinnen und Tschechen gegenüber der Europäischen Union entwickelt? Welche Hoffnungen wurden enttäuscht, welche Ängste gelindert? Spidlas Nachfolger und Parteikollege Jiri Paroubek verfolgt die Stimmung unter seinen Landsleuten ganz genau. Im Gegensatz zu den meisten Politikern im In- und Ausland behauptet er erst gar nicht, dass ihn Umfragen nicht interessieren würden. Und vorige Woche, da saß er in einem Pressesaal des Abgeordnetenhauses sogar mitten unter den führenden Meinungsforschern des Landes und präsentierte höchstpersönlich die Ergebnisse des so genannten Eurobarometers sowie die von mehreren Untersuchungen heimischer Agenturen:

"Wir sehen eine große Zufriedenheit der Tschechen mit ihrer individuellen Lebenssituation. Wenn Sie das mit anderen Ländern vergleichen, dann ist diese Zufriedenheit sogar überraschend hoch: 81 Prozent sind mit ihrer Lebenssituation zufrieden - der Durchschnitt in der EU liegt bei 35 Prozent. Dabei glaubt ein Drittel der Tschechen sogar noch an eine weitere Verbesserung ihrer Lebensumstände", so der Regierungschef nicht ohne Stolz.

Der Zusammenhang dieses Ergebnisses mit der EU liegt für Paroubek auf der Hand:

"Die Zustimmung zur Mitgliedschaft Tschechiens in der Europäischen Union ist stabil und liegt bei etwa 60 Prozent. Es wächst also allgemein das Gefühl von Sicherheit und ökonomischer Stabilität."

Präsident Vaclav Klaus
Sogar die politische Integration der EU, die vor allem von der oppositionellen Demokratischen Bürgerpartei (ODS) und von Präsident Vaclav Klaus heftig kritisiert wird, stößt bei den Tschechen auf Zustimmung, stellt der Premierminister fest - und kann sich einen Seitenhieb auf seinen politischen Lieblingsfeind Klaus nicht verkneifen:

"Trotz der Bemühungen eines Teils der Opposition und - verzeihen Sie - auch des Präsidenten der Republik, überwiegen die Befürworter einer politischen Union eindeutig gegenüber ihren Gegnern. Und zwar in einem Verhältnis von zwei zu eins. Ich denke, diese Tatsache ist sehr ermutigend."

Die auffälligste Schattenseite für Paroubek: Nur ein Drittel der Menschen hat eine Vorstellung davon, wie die Europäische Union und ihre Institutionen funktionieren. Wenn man das mit anderen Staaten vergleicht, so liegt Tschechien hier etwas unter dem Durchschnitt. Eine Mehrheit von 89 Prozent der Befragten ist zudem der Ansicht, dass die Abläufe in der Europäischen Union übersichtlicher und für die Menschen verständlicher gestaltet werden sollten. Dies bestätigt offenbar die Einschätzung von Jan Hartl, dem Direktor des Meinungsforschungsinstitutes STEM:

"Die Europäische Union ist ein Thema, das die Menschen sehr wohl interessiert. Im Unterschied zu dem Klischee, das immer wieder in den Medien verbreitet wird, ist das überhaupt kein langweiliges Randthema. Man muss lediglich einen Weg finden, verständlich und klar darüber zu sprechen."


Premierminister Jiri Paroubek
Ein anderer jener Meinungsforscher, die die Ergebnisse der jüngsten Untersuchungen gemeinsam mit Paroubek präsentiert haben, ist Jan Herzmann, Chef der Agentur Factum Invenio. Für Radio Prag fasst er die wichtigsten Ergebnisse zusammen:

"Die Daten, die wir gesammelt haben, zeigen, dass die Tschechen eindeutig für die Europäische Union sind. Sie sind mit der diesbezüglichen Entwicklung ziemlich zufrieden, und auch die Erwartungen sind positiv - wenngleich nicht ganz optimistisch. Denn die linksorientierten Wählerinnen und Wähler sind in dieser Richtung eher skeptisch."

Wer die Standpunkte der tschechischen Parteien kennt, der mag von dieser Einschätzung zunächst überrascht sein. Denn während die regierenden Sozialdemokraten (CSSD) sich als Partei der europäischen Integration präsentieren, machen die oppositionellen Bürgerdemokraten (ODS) immer wieder durch eine betont EU-kritische Rhetorik von sich reden. Letztere stehen damit allerdings in oft recht krassem Gegensatz zur eigenen, überwiegend wirtschaftliberal orientierten Parteibasis.

"Sie sind sich dessen schon seit längerer Zeit bewusst. Meiner Meinung nach spiegelt sich das teilweise auch bereits in der Rhetorik der rechten Politiker wider. Sie sind nicht mehr pauschal gegen die Union oder ihre politische Dimension, sondern benutzen jetzt Slogans, die eher einigen Details und bestimmten Politikfeldern kritisch gegenüberstehen. Man kann also auch bei diesen Politiker eine gewisse Reflexion erkennen."

Einzig bei den ebenfalls oppositionellen Kommunisten herrscht zwischen Stammwählern und Parteispitze EU-skeptische Einigkeit.


Geben wir abschließend das Wort noch einmal an Jan Hartl, den Chef des Meinungsforschungsinstituts STEM. Er ortet allgemein, im Bezug auf das Potential der Tschechischen Republik und auf die Zukunft der kommenden Generationen, einen beachtlichen Optimismus. Dieser stehe aber in Gegensatz zur Skepsis gegenüber der unmittelbaren, allernächsten Zukunft. Hartl glaubt zu wissen, woher dieser Widerspruch kommt: Nämlich aus der Spannung zwischen den Möglichkeiten, die dem Land nun offen stehen, und dem Vertrauen in die Fähigkeit, diese Chancen auch zu nutzen. Jan Hartl gibt ein Beispiel:

"Im Januar haben wir die Bürger gefragt, ob sie glauben, dass Premierminister Paroubek bei den Debatten über das EU-Budget ein gutes Verhandlungsgeschick an den Tag gelegt hat. 79 Prozent der Menschen haben das bejaht. Dem gegenüber steht jedoch eine viel skeptischere Meinung. Die entsprechende Frage lautete: 'Unser Land kann aus den Fonds der Europäischen Union jährlich bis zu 93 Milliarden Kronen beziehen. Glauben Sie, dass unsere Republik in der Lage sein wird, diese Möglichkeiten zu nutzen, entsprechende Projekte vorzubereiten und die nötigen Kofinanzierungen aufzutreiben?' Diese Frage bejahten nicht einmal 50 Prozent der Befragten. Also auf der einen Seite eröffnen sich für uns neue Chancen, auf der anderen Seite suchen wir erst nach Möglichkeiten, wie wir diese Chancen nützen können. Das bringt natürlich eine gewisse Unsicherheit mit sich, und hier liegt eine sehr wichtige Aufgabe für die Politik."

Wie hatte Vladimir Spidla, der ehemalige Premierminister, im Juni 2003 gesagt? Wir haben uns den Weg in die Zukunft geöffnet, und wir müssen uns vor ihr nicht fürchten. Heute könnte man dazusagen: Und wir müssen lernen, diesen Weg auch zu gehen. Von einem angeblich legendären Pessimismus der Tschechen, die der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen einmal "Weltmeister in der Skepsis" genannt hat, kann den aktuellen Daten nach zu schließen jedoch keine Rede sein.