An der Schwelle zum Wahljahr: Eine Zwischenbilanz

Tschechischer EU-Kommissar Vladimir Spidla

Das alte Jahr geht zu Ende, vor der Tür steht das neue - ein Wahljahr in der Tschechischen Republik. Das Land ist politisch stabil, die meisten wirtschaftlichen Parameter zeigen nach oben, und dennoch wird ein harter Richtungswahlkampf erwartet: Ein Richtungswahlkampf zwischen sozialer Sicherheit und unternehmerfreundlicher Steuersenkung, zwischen EU-Integration und EU-Skepsis. Denn die Stimmung im Land, die orientiert sich bekanntlich nicht immer an der Statistik. Gerald Schubert zieht eine Zwischenbilanz zum Jahreswechsel.

Die Eckdaten stimmen: Die Arbeitslosigkeit in der Tschechischen Republik ist rückläufig, die Armutsgefährdung ist laut Eurostat die niedrigste in der ganzen EU, und beim Wirtschaftswachstum liegt Tschechien im europäischen Spitzenfeld. Diese stabile ökonomische Entwicklung wird zu einem guten Teil auch der Mitgliedschaft in der Europäischen Union zugeschrieben, und nach der Einigung auf einen EU-Finanzrahmen für die Jahre 2007 bis 2013 winken nun zusätzliche Millionen aus den Brüsseler Finanztöpfen. Alles in bester Ordnung, könnte man meinen. Und dennoch sehen die Tschechinnen und Tschechen die EU immer noch mit gemischten Gefühlen, sagt der Soziologe und Meinungsforscher Jan Hartl:

"Die Europäische Union wird auf der allgemeinen Ebene, auf der Ebene von prinzipiellen Wertvorstellungen, als positiver Faktor der politischen Entwicklung gesehen. Aber im Alltagsbewusstsein, auf der Ebene des real gelebten alltäglichen Lebens, dort sehen wir die Skepsis."

Die größten Sorgen, die im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt im Mai 2004 laut geworden waren, wie etwa die Angst vor einem ruckartigen Anstieg der Preise, haben sich nicht bewahrheitet. Angesichts der guten Wirtschaftsdaten mag daher gerade die Skepsis im alltäglichen Bereich verwundern. Allerdings: Die Tschechen sind auch für ihr generelles Misstrauen gegenüber politischen Instanzen bekannt. Ihr oft beschworener EU-Pessimismus erweist sich in diversen Untersuchungen eher als Ausdruck dieser allgemeinen Zurückhaltung.

Dass sich die Menschen im Land gerade im Hinblick auf die schlechten Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in der EU gut aufgehoben fühlen, davon ist auch der tschechische EU-Kommissar Vladimir Spidla überzeugt, der in Brüssel für Arbeit und Soziales zuständig ist:

"Mich stimmt optimistisch, dass die Meinungsumfragen immer wieder sagen: Die Menschen in der Tschechischen Republik wollen mehr europäische Integration, und sie wollen auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Also, ich glaube, die Ansichten der Menschen unterscheiden sich von denen der Repräsentanten einiger Parteien."

Damit meint Spidla vor allem die tschechischen Oppositionsparteien, also die Kommunisten und die konservativen Bürgerdemokraten. Voraussichtlich im Juni 2006 wird in Tschechien ein neues Parlament gewählt, der Wahlkampf hat bereits begonnen. Die Parteien der sozialliberalen Regierungskoalition werden hinsichtlich der EU bei ihrer integrationsfreundlichen Linie bleiben, die Opposition wird auf die genannte Skepsis der Bürger bauen. Die Tschechinnen und Tschechen werden also 2006 viel Gutes und viel Schlechtes über ihr Land hören.