Was lernen tschechische Schüler (nicht) über den Zweiten Weltkrieg?

Студенты гимназии (Фото: Дейвид Вон)
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Anlässlich des Kriegsendes vor 60 Jahren ist Silja Schultheis im "Forum Gesellschaft" der Frage nachgegangen, was tschechische Jugendliche heute eigentlich in der Schule über den Zweiten Weltkrieg erfahren.

Foto: David Vaughan
Unterrichtsbeginn am Gymnasium Na Prazacce in Prag. Noch haben die Schüler der 10. Klasse den Zweiten Weltkrieg im Unterricht nicht ausführlich durchgenommen. Doch die meisten von ihnen zögern nicht lange bei der Frage, was sie darüber gerne erfahren möchten:

"Ich weiß nicht, vielleicht das Leben in Prag während des Zweiten Weltkriegs. Ich würde gerne wissen, wie das Leben hier in dieser Zeit gelaufen ist."

"Ich weiß nicht, vielleicht das Leben im Konzentrationslager."

"Ich interessiere mich für das Leben von Hitler."

So berechtigt der Wunsch der Schüler nach Einblicken in den Lebensalltag der Menschen während des Zweiten Weltkriegs ist, so schwierig stellt es sich für die Lehrer heute dar, diese zu vermitteln. Denn die Bedingungen an tschechischen Schulen sind dafür noch denkbar ungünstig, beschreibt Helena Mandelova, Vorsitzende des tschechischen Geschichtslehrerverbandes:

"Die Lehrer haben zwar heute die Freiheit zu entscheiden, was und wie sie lehren. Aber außer Lehrbüchern und Atlanten haben sie keine Arbeitsgrundlagen: Wandkarten gibt es nur in begrenzter Anzahl, und Dokumente zum 20. Jahrhundert sind nicht für den Unterricht aufbereitet, ebensowenig Dokumentarfilme. Dabei ist für den Unterricht gerade solches Anschauungsmaterial unendlich wichtig. Das Leiden der Menschen im Krieg, die Zerstörung und Verbrennung von Dörfern - das kann man nicht in Worten wiedergeben. Erst wenn die Schüler Bilder sehen, können sie etwas begreifen und sich in die Zeit hineinversetzen."

Jaroslav Tulka, Geschichtslehrer am Gymnasium Na Prazacce sieht dies etwas anders. Er ist der Meinung, dass ein Lehrer durch das eigene Engagement die Schüler für Themen begeistern kann:

Wehrmachtstruppen in Prag
"Ich habe immer die Auffassung vertreten, dass entscheidend am Geschichtsunterricht das persönliche Interesse des Schülers an der Sache ist. Und dieses persönliche Interesse kann durch den Lehrer hervorgerufen werden, indem dieser den Schülern vermittelt, was ihn selber moralisch beschäftigt und quält."

Aus diesem Grund, so Tulka, gehe es ihm bei der Behandlung des Zweiten Weltkriegs im Unterricht auch weniger um die faktographische Betrachtung einzelner Ereignisse:

"Mir geht es insgesamt nicht so sehr um das politische Geschehen in diesem Konflikt. Die Hauptfrage, um die es mir geht, ist die, wie so etwas überhaupt möglich war. Wie ist es möglich, dass eine so reiche Kultur für eine bestimmte Zeit einem kollektiven Denken verfällt. Mich fasziniert das Phänomen des Faschismus als solches und bringt mich immer wieder von neuem aus dem Gleichgewicht. Und ich wünschte mir, dass es den Schülern ähnlich ginge."

Durch das neue Schulgesetz, das Anfang des Jahres in Kraft getreten ist, fühlt sich Jaroslav Tulka in seiner Unterrichtsmethode bestätigt. Das Gesetz erlaube ihm, sich diesen elementaren Fragen zu widmen, ohne dafür bestraft zu werden, dass er dabei einzelne Fakten vernachlässige. Es handele sich quasi um eine offizielle Absegnung dessen, was er ohnehin schon immer gemacht habe.

Dem hält Helena Mandelova vom Geschichtslehrerverband jedoch entgegen:

"Die gegenwärtigen Aufnahmeprüfungen für weiterführende Schulen und Hochschulen basieren auf Faktenwissen. Und die Lehrer stehen so vor der Verantwortung, ihre Schüler auf ihren weiteren Bildungsweg vorzubereiten. Würden sie nicht genug Fakten vermitteln, wären sie für das Scheitern der Schüler an der Hochschule verantwortlich."

"Die junge Generation steht den Ereignissen vor 60 Jahren mit einer sehr neutral-objektiven Distanz gegenüber. Das heißt man kann mit den Schülern Vorgänge, die sich zwischen 1933 und 1945 abgespielt haben, in einer sehr distanziert-abstrahierenden Atmosphäre betrachten und erst durch die Heranführung an Materialien dann eine gewisse persönliche Betroffenheit herstellen. Aber das benötigt wirklich eine gewisse Zeit."

Georg Krapp, Geschichtslehrer am Prager Gymnasium Na Prazacce. Eben die Zeit, von der Krapp spricht, ist eines der Hauptprobleme, mit denen sich die tschechischen Geschichtslehrer heute konfrontiert sehen. In der neunten Klasse, wo der Zweite Weltkrieg auf dem Lehrplan steht, wird an vielen Schulen nur eine Stunde Geschichte pro Woche unterrichtet. Jan Zajic vom deutsch-tschechischen Jugendforum hat mit einigen Kollegen aus dem Arbeitskreis Geschichte eine Umfrage an bayerischen, sächsischen, tschechischen Gymnasien zum Thema: deutsch-tschechische Beziehungen im Geschichtsunterricht gemacht. Ein Ergebnis dieser Befragung: Aus Zeitmangel werden insbesondere die Ereignisse unmittelbar nach dem Krieg - die Vertreibung der Deutschen etwa - kaum oder gar nicht behandelt:

"Es war vor allem die Zeit, die die Lehrer dafür nicht haben. In den Schulbüchern gibt es auch die Geschichte nach 1945. Aber im Unterricht schaffen die gerade noch den Zweiten Weltkrieg. Und dann ist das Schuljahr, das letzte Schuljahr, schon vorbei. Und was danach geschah, das erfahren die Schüler gar nicht. Und das waren nicht nur einzelne Schulen, sondern das war die überwiegende Mehrzahl, die uns das geschrieben hat."

Aber auch die Vorgeschichte des Krieges kommt vielfach zu kurz. Jan Zajic:

"An und für sich kann man sagen, dass die tschechischen Schulbücher, die in den 90er Jahren und auch in den letzten Jahren herausgegeben wurden, schon recht gut sind. Aber trotzdem gibt es Passagen, die man verbessern könnte. Das wäre vor allem die deutsche Minderheit in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, wo immer noch zu pessimistisch über diese Problematik geschrieben wird. Man spricht vor allem über die Probleme, die es gegeben hat und nicht so sehr über die Zusammenarbeit. So können recht viele Schüler zu der Meinung kommen, dass alle Deutschen immer gegen die Tschechoslowakische Republik gewesen sind, dass alle ins Deutsche Reich wollten. Aber dem war ja nicht immer so, es hat ja auch viele Deutsche gegeben, die die Tschechoslowakische Republik unterstützt haben und mit den Tschechen gemeinsam einiges erreichen wollten. Und das fehlt uns noch in den tschechischen Schulbüchern, das könnte man noch etwas mehr ansprechen."

Mit diesem und weiteren Plädoyers werden Zajic und seine Kollegen vom Jugendforum demnächst vor die deutsch-tschechische Schulbuch- und Historiker-Kommission treten - in der Hoffnung, auf diesem Wege zu einer Verbesserung des Geschichtsunterrichts in Tschechien beizutragen - auch und gerade in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg, seine Ursachen und Folgen.