Weder Herr der Schöpfung noch Rädchen einer Maschine – Philosoph Erazim Kohák
Ob Privatmann oder Philosoph: Erazim Kohák fühlt sich als Patriot. Ein Anachronismus in der heutigen Zeit, wie der 1933 geborene Prager gleich hinzufügt. Lange hatte der Patriotismus für Kohák einen nostalgischen Beiklang. Denn Koháks Eltern, aktive Sozialdemokraten, waren 1948 in den Westen ausgewandert, mit ihnen auch der Sohn. Im amerikanischen Exil hatte Kohák stets ein Ziel vor Augen: die Rückkehr. Zu der kam es erst 1990. Danach lehrte der Phänomenologe an der Karlsuniversität – und engagierte sich: als Umweltschützer, Sozialdemokrat und Christ.
„Zu Hause war ich immer in der Tschechoslowakei, obwohl ich in den USA lebte. Ich lebte mit dem Gefühl, dass ich ein Tscheche bin, der nur eine Zeitlang im Ausland wohnt. Ich war erst 15 Jahre alt, als wir weggingen, und ich hatte sehr wenige Erinnerungen. Ich wusste nicht, was mich nach der Rückkehr erwarten würde. Und ein bisschen war ich auch in Wien zu Hause. Dort habe ich viele Freunde. Leider sprechen sie alle Tschechisch oder Englisch. Aber Wien war für mich so etwas wie ein Ersatz für Prag während der kommunistischen Jahre“, so Kohák.
Als junger werktätiger Emigrant ging Erazim Kohák in den USA an die Universität. Er wählte die Fächer Theologie und Philosophie. Diese Entscheidung war gründlich überlegt: Als der angehende Philosoph und Theologe sie traf, hatte er die ersehnte Rückkehr in die Heimat im Auge. Er vermutete, dass diese Fächer nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft zu Hause gebraucht würden. Zur Rückkehr kam es allerdings erst Jahrzehnte später, und zwischen Amerika und dem neuen-alten Zuhause in Prag lagen Welten. Dennoch ist Kohák, der einige Jahre an der Karlsuniversität lehrte, davon überzeugt, dass seine Philosophie bei den Studenten hier gut ankam:
„Ich muss sagen, dass ich nie ein Emigrant war. Ich war im Exil - ein Tscheche, oder Tschechoslowake damals, der im Ausland lebt, aber nicht freiwillig. Also dachte ich immer, dass ich eines Tages zurückkehren würde. Und als ich zurückkam nach 42 Jahren, war alles ganz neu. Ich musste alles neu lernen. Ich war 60 Jahre alt, aber ich wusste nicht, wie man Geld mit der Post schickt. Denn das war in den USA ganz anders. Alles war neu. Und für meine Studenten war meine Philosophie ganz neu. Das war ein großer Erfolg.“
Schon in den USA hatte Erazim Kohák nicht nur gelehrt, sondern auch publiziert: philosophische Studien, aber auch Schriften zu aktuellen Zeitfragen. Sein Werk umfasst zwei Dutzend Bücher. Eines der Bücher trägt den Titel „Leitfaden der Demokratie“. Wie viel oder wie wenig können die Tschechen heute vom amerikanischen Modell der Demokratie lernen?
„Viel weniger, als die Amerikaner denken. Aber etwas Wichtiges doch: etwas wie „zivile Gleichheit“, Gleichheit der Bürger, ein Gefühl der Gleichheit, dass wir nicht Herren und Untertanen sind. Und dann: Partizipation. Demokratie, das bedeutet aktive Bürgerbeteiligung“, sagt der 75-jährige Philosoph.
Ein anderes Buch von Kohák handelt von der „Nation in uns“. Der Philosoph brachte es 1978 in Toronto heraus. Inwieweit bestimmt das Nationalbewusstsein das Handeln des ehemaligen Exilanten und Rückkehrers? Ist er auch im amerikanischen Exil Tscheche geblieben?
„Ja. In dieser Hinsicht bin ich ein Anachronismus aus dem 18. Jahrhundert: ein Patriot. Ich bin kein Nationalist. Der Unterschied besteht für mich darin, dass ich meine Heimat liebe, die Tradition meines Volkes, meine Nation, aber ohne Hass auf die anderen Nationen. Die deutsche Tradition Böhmens oder die österreichische, das ist auch Teil meines Nationalbewusstseins. Ich wollte immer ein Tscheche bleiben. Und als sich meine Eltern entscheiden mussten, als das Jahr 1938 kam: Entweder kämpfen und riskieren oder wohl leben, da haben sie sich für den Widerstandskampf entschieden. Und ich bin ihr Sohn.“
Für Erazim Kohák spielt sich Philosophie nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft ab. Er ist stolz darauf, nicht nur Philosoph, sondern auch ein engagierter Zeitgenosse zu sein. Kohák ist aktiver Sozialdemokrat und setzt sich besonders für den Umweltschutz ein. Wie passt der Beruf des Philosophen mit einem so breit gestreuten öffentlichen Engagement zusammen?
„Wie könnte man es trennen? Politische Aktivität im Sinne von Teilnehmen an der Polis, an der Gesellschaft - das ist der Zweck der Philosophie. Der Zweck der Philosophie, das ist die Änderung oder Verbesserung der Welt“, entgegnet Kohák.
Eine der aktuellen Fragen, zu denen sich der Philosoph in der Tradition von Edmund Husserl und Emanuel Rádl wiederholt geäußert hat, ist das Thema der kulturellen Identität - der Tschechen und auch der Europäer. Was glaubt Erazim Kohák: Kann die europäische Einigung über den gemeinsamen Wirtschaftsraum hinausgelangen? Haben die Europäer dafür genug Gemeinsamkeiten?„Ich glaube schon. Es kann sich jedoch nicht um eine Gleichschaltung handeln, sondern um eine symbiotische Kultur in der Verschiedenheit. Und ich glaube: Erst wenn Sie irgendwo draußen leben, außerhalb von Europa, dann verstehen Sie, was es heißt, ein Europäer zu sein. Als ich nach Amerika kam, waren die Deutschen und auch die Ungarn plötzlich nicht mehr meine Feinde, sondern wie ich Europäer. Und die Österreicher waren immer Teil unserer Familie.“
Einmal hat Erazim Kohák gesagt: „Das moderne Zeitalter ist dadurch geprägt, dass der Mensch sich als unumschränkter Herrscher über die Welt fühlt, gleichzeitig aber auch als unwichtiges Rädchen in einer Maschine.“ Welche Schlüsse zieht der Philosoph aus diesem offenkundigen Widerspruch? Was ergeben sich daraus für Folgen?
„Wir müssen erkennen, und nicht nur erkennen, sondern erfahren, dass wir weder Herren, noch Rädchen in einer Maschine sind. Wir sind vielmehr Mitbürger, Mitmenschen von allem Seienden, sogar auch von Tieren und Bäumen“, glaubt der Philosoph.
Auch auf die Gefahr einer zu großen Abhängigkeit des heutigen Menschen vom Konsum hat Erazim Kohák immer wieder hingewiesen. Nun hat Europa und die Welt eine schwere Wirtschaftskrise ereilt. Erblickt der Philosoph in der Krise auch eine Chance, dass die Menschen Abstand vom Konsumdenken gewinnen?
„Jede Krise ist auch eine Chance, auch diese Krise. Was wir aber daraus lernen werden, weiß ich nicht. Ich glaube, zuerst müssen wir den Egoismus der letzten 20 Jahre überwinden, dann erst können wir Solidarität lernen.“
Erazim Kohák gehört der protestantischen Böhmischen Brüdergemeinde an, und er ist Umweltschützer. Führt für ihn eine Brücke von dem einen zum andern oder anders ausgedrückt: Kann das Christentum Impulse für eine verantwortungsvolle Haltung zur Umwelt geben?
„Leider muss ich sagen, dass das Christentum in der Geschichte sehr wenige Impulse gegeben hat. Aber ich glaube, dass die individuellen Christen, die Gläubigen, die die Bibel wirklich lesen, helfen und vielleicht auch Impulse geben können. Das hoffe ich.“