"Weihnukka": Was machen eigentlich Prager Juden an Weihnachten?

Weihnachten ist kein jüdisches Fest, so viel steht fest. Dem Vorweihnachtsrummel können aber auch tschechische Juden nicht entgehen. Sie alle haben außerdem nichtjüdische Freunde oder gar Verwandte. Ebenfalls in den Dezember fällt Chanukka, das jüdische Lichterfest. Und manche Familien feiern gleich beide Feste. Über den Spagat zwischen jüdischen Traditionen und tschechisch-säkularisierter Weihnacht erzählen Mitglieder der Prager jüdischen Gemeinde.

„Der Schauspieler Arnošt Goldflam hat mir erzählt, wie er als Kind einmal zu seinem Vater sagte: ‚Papa, jetzt ist doch Chanukka, dann kriege ich auch Geschenke, oder?’ Und sein Vater antwortete: ‚Bis du verrückt! Die anderen Kinder haben kein Chanukka und wenn du Geschenke kriegst, provozieren wir Antisemitismus! Du kriegst die Geschenke an Weihnachten, wie alle anderen auch.’ Vierzehn Tage später kam er wieder zu seinem Vater: ‚Papa, kriege ich jetzt die Geschenke?‘ Und der Vater sagte: ‚Arnošt, bist du verrückt! Du bist Jude, da kannst du wohl an Weihnachten keine Geschenke kriegen!‘“

Diese Geschichte erzählt mir Rut Sidonová, Ehefrau des Oberrabiners, Sozialarbeiterin in der Gemeinde und orthodoxe Jüdin. Wir sitzen im alterehrwürdigen Versammlungssaal des jüdischen Rathauses in der Maiselgasse, aus dem Fenster schaut man auf die Altneu-Synagoge. Frau Sidonová feiert natürlich nicht Weihnachten – aber manch tschechischer Weihnachtsbrauch ist für Juden zumindest nicht verboten, wie sie erklärt:

„Karpfen ist koscher. Er hat ja Schuppen und ist ein Fisch, also kann man ihn als Jude ruhig essen. Aber mir kommt es schon sehr seltsam vor, wenn eine jüdische Familie am 24. Dezember Karpfen mit Kartoffelsalat isst.“

Ihre Kollegin in der Sozialabteilung, die Psychologin und Schriftstellerin Zuzana Peterová, hat gleich nebenan ihr winziges Büro. An der Wand hängen Kinderbilder: eine Chanukkiah, der Kerzenleuchter, in dem die Chanukkakerzen angezündet werden. Ihre vier Kinder hat sie gemeinsam mit ihrem nichtjüdischen Mann in einem traditionellen, koscherem Haushalt großgezogen. In ihrem Buch „Mein Hundetagebuch“ beschreibt sie aus der Sicht des Haushundes das tschechisch-jüdische Familienleben mit all seinen Absurditäten:

"Freitag, 23. Dezember

'Heute müsst ihr mir alle helfen', plante die Dame des Hauses und klapperte mit den Backblechen im Ofen. 'Ich werde vier Barchesbrote backen, dann ein paar Vanillekipferl und Bärentatzen. Und auf dem unteren Blech den Weihnachtsstollen,' ertönte ihre Stimme aus dem Inneren des Ofens. 'Jetzt muss ich nur alles vorbereiten und dann ab damit aufs Blech', fügte sie hinzu und klapperte so laut, dass die Babys aufwachten.[...] 'Mama, du machst ja wohl keinen Weihnachtsstollen?' erschauderte David, der älteste und schob sein jüdisches Käppchen, von ihnen Kippa genannt, weiter nach hinten. 'Ich backe Barches, wie jeden Schabbes,' antwortete sie. 'Und was ist mit den Plätzchenformen? Und Kipferl?!' rief David. [...] 'Wir werden womöglich noch einen Baum aufstellen!'"

Und diese Szene hat tatsächlich stattgefunden, erzählt Zuzana Peterová:

„Das war damals eine sehr dramatische Situation. In meiner Familie wollte mein Mann gerne die tschechischen Traditionen einhalten, also Karpfen, Weihnachtsstollen, Baum. Unser ältester Sohn war damals ziemlich pubertär und außerdem sehr orthodox. Er sagte: ‚Das darf auf gar keinen Fall sein!’ In meinem Buch habe ich das mit einer gehörigen Prise Humor beschrieben. Denn es schreibt ja mein Hund, der das ganze beobachtet hat. Also hat er das so erlebt und nicht ich.“

Im Buch kommt dem ältesten Sohn der Hund Lili zu Hilfe: Lili frisst den Stollenteig auf, wirft den Baum um und macht damit Weihnachten unmöglich. Und was denkt Zuzana Peterová über Weihnachten?

„Weihnukka – das ist dieser schöne deutsch-jüdische Ausdruck. Weihnukka, das heißt, Juden feiern Weihnachten und Chanukka zusammen. Die beiden Feiertage liegen nicht sehr weit voneinander entfernt und so werden sie einfach zusammengezogen. Man kann ja auch nicht so tun, als würde man Weihnachten gar nicht bemerken. Ich mag Weihnachten auf eine gewisse Weise, und zwar deshalb, weil ich sehe, wie die Menschen um mich herum für eine Weile innehalten. Ich finde es einfach angenehm, um mich herum zufriedene Gesichter zu sehen.“

Daniel Putík ist 24 Jahre alt und Historiker. Unter seiner Baseballkappe trägt er eine Kippa.

„Viele Leute, die Mitglieder der jüdischen Gemeinde sind, feiern sowohl Weihnachten als auch Chanukka und zwar wie die meisten Leute hier in einer nichtreligiösen Form. Das ist ein Erbe des Kommunismus. Schon in den 50er Jahren haben die Kommunisten diese „säkularen Weihnachten“ eingeführt. Heute kommt noch die Kommerzialisierung hinzu. Von der spirituellen Seite ist in diesem Land kaum etwas geblieben. Tschechien ist atheistisch. Und ich gehöre merkwürdigerweise zu einer religiösen Gruppe, die aber auch nicht Weihnachten feiert.“

In der Schule fanden es seine Mitschüler exotisch, dass Daniels Familie nicht Weihnachten gefeiert hat. Gestört hat es niemanden. So wie er sich nicht vom Vorweihnachtstrubel aus der Ruhe bringen lässt:

„Diesen Stress bekomme ich natürlich auch mit, das kann gar nicht anders sein, ich wohne ja hier. Wir haben nie Weihnachten gefeiert, sondern Chanukka. Da bekommen wir auch Geschenke, aber es ist alles ein bißchen ruhiger und weniger stressig als bei den anderen Leuten.“

Geschmückter Weihnachtsbaum - eine typische christliche Weihnachtstradition
In einem Café in der Prager Altstadt treffe ich David Kraus, 22 Jahre alt. Eigentlich hat er gar keine Zeit, weil er mitten in den Vorbereitungen für die große Chanukka-Party steckt, die die Union junger Juden organisiert.

Anders als sein Freund Daniel Putík ist David Kraus dazu gezwungen, sich sogar zuhause mit Weihnachten auseinanderzusetzen. Weihnachten und Chanukka unter einem Dach zu erleben, ist für ihn Normalität. Als Kind hat er mit seinen jüdischen Eltern in der Wohnung der nichtjüdischen Großeltern gelebt:

„Es entstand die paradoxe Situation, dass in einem Zimmer Weihnachten und im anderen Chanukka gefeiert wurde. Wenn ich darüber nachdenke, ist es heute nicht viel anders. Ich wohne mit meiner Freundin zusammen bei ihrer Mutter. Wir wohnen in einem Zimmer, im anderen wohnt ihre Mutter und im dritten ihre Schwester mit ihrem Mann, der bolivianischer Katholik ist. Sie haben also einen Weihnachtsbaum und wir die Chanukkiah im Fenster. Es gibt viele Anspielungen auf diese Koexistenz von Weihnachten und Chanukka. Den Begriff ‚Weihnukka’ kennst du bestimmt. Wir wünschen uns zum Beispiel „Bohatého Možiška“, also anstatt Ježišek, dem Christkind, kommt zu uns „Možišek“, der kleine Moses.“

David Kraus findet es nicht gerade angenehm, in seiner Wohung auf Weihnachtsbaum und Krippe zu stoßen. Aber diese etwas absurde Situation beschreibt für ihn das Dilemma tschechischer Juden.

„Die tschechischen Juden sind traditionell sehr assimiliert. Ein Beispiel dafür findet sich in der Ausstellung von Kinderbildern in Theresienstadt. Es gibt dort ein Bild, das ein kleines Mädchen gemalt hat. Sie hat sich an ihr Zuhause erinnert und gemalt, wie ihre Familie Chanukka feiert, mit der Chanukkiah und Geschenken. Gleich daneben hängt fast genau das gleiche Bild, nur dass sie da statt der Chanukkiah einen Weihnachtsbaum haben.“

Zuzana Peterová
In einer kleinen Plattenbauwohnung in Prag-Kobylisy besuche ich Věra Schimmerlingová. Die alte Dame und Soziologin bezeichnet sich selbst als assimilierte Jüdin. Gläubig ist sie nicht. Ich frage sie, ob sie trotzdem Weihnachten oder Chanukka feiert:

„Wir feiern Weihnachten, aber erst jetzt. Früher, vor dem Krieg, haben wir es nicht gefeiert, weil mein Vater ein religiöser Jude war. Deshalb durften wir das nicht. Ich erinnere mich, dass wir damals ein Dienstmädchen hatten, das war in bürgerlichen Familien so üblich. Dieses Dienstmädchen feierte Weihnachten. Sie hatte ein kleines Bäumchen und hat es geschmückt. Und ich wollte das auch so gerne. Ich fand es so schade, dass wir keinen Weihnachtsbaum hatten. Wir waren die einzige Familie im Haus, die keinen hatte. Deshalb hab ich mir gesagt: Wenn ich heirate, müssen meine Kinder einen Weihnachtsbaum haben, einen normalen, schönen, hohen. Das haben wir dann auch jahrelang gehabt.“

Und die anderen, die keinen Tannenbaum im Wohnzimmer haben und nur die jüdischen Feiertage feiern? Was machen sie an den Feiertagen? Zuzana Peterová hat das Weihnachtsproblem in ihrer Familie mittlerweile gelöst: Baum und Stollen gibt es nicht mehr. Arbeiten muss sie allerdings auch nicht – an staatlichen Feiertagen bleibt die jüdische Gemeinde geschlossen:

„Wir haben diesen Brauch, über Weihnachten immer in unser Ferienhaus zu fahren. Dort liegt dann Schnee und es hat seinen ganz eigenen Zauber, auch ohne Weihnachtsbaum.“

Die jüngeren Juden haben ihre eigenen „Traditionen“ für die Weihnachtstage, wenn die meisten Freunde unterm Tannenbaum sitzen, erzählt mir Daniel Putík:

„Jedes Jahr am 24. Dezember wird im Kino Aero in Prag-Žižkov der Film ‚Life of Brian‘ von Monty Python gezeigt. Viele junge Juden schauen sich den Film an, also diejenigen, die eben nicht Weihnachten feiern.“

Und Rut Sidonová? Mit ihren Eltern, die sehr assimiliert lebten, hat sie früher Weihnachten gefeiert. Jetzt verbringt sie mit ihrem Mann, dem Rabbiner, die freien Tage auf recht profane Weise:

„Mein Mann und ich gucken Weihnachten meistens Fernsehen.“

David Kraus besucht seine nichtjüdische Großmutter, das heißt aber nicht, dass er Weihnachten feiert, beteuert er. Für ihn ist es eher eine moralische Verpflichtung. Und nach dem Festmahl verschwindet er so schnell wie möglich:

„Ich treffe mich meistens mit Freunden, jüdischen und nichtjüdischen. Am 24. Dezember gehen wir ins Kino oder in die Kneipe. Einige haben auch den Brauch von amerikanischen Juden übernommen, Chinesisch essen zu gehen.“

Für Daniel Putík hat Weihnachten noch eine positive Seite:

„Wenn ich am 24. Dezember, was für mich ein ganz normaler Arbeitstag ist, als Touristenführer im jüdischen Museum arbeite, kommen immer ganz viele Familien – aber ohne die Mutter. Die Mütter jagen den Rest der Familie aus dem Haus, damit sie aufräumen können, ohne dass ihre Männer und Kinder sie stören. Und die besuchen dann oft das jüdische Museum, was mir sehr gefällt.“


Das Buch von Zuzana Peterová „Můj psí deník – aneb Jak přežít v rodině“ („Mein Hundetagebuch – oder: Wie man in einer Familie überlebt“) ist 2007 im Verlag MarieTum erschienen.