Wie jüdische Grabsteine ins Prager Straßenpflaster kamen
Derzeit wird das Pflaster auf dem Wenzelsplatz in Prag restauriert. Über die Arbeiten wacht auch die Jüdische Gemeinde. Denn unter anderem in der Goldenen Stadt hat das kommunistische Regime besonders ab den 1970er Jahren nicht Schwerter zu Pflugscharen, sondern jüdische Grabsteine zu Pflastersteinen gemacht. Wie konnte es aber dazu kommen?
„Sie stammen wahrscheinlich aus Gräbern aus der Gegend von Chomutov in Nordböhmen, wo jüdische Friedhöfe zerstört wurden.“
Der Tschechische Rundfunk hat sich diese Woche in seiner Podcast-Serie „Vinohradská 12“ mit dem Thema befasst. Demnach ist der Missbrauch der Grabsteine schon zu kommunistischen Zeiten ein offenes Geheimnis gewesen. Laut dem Historiker Martin Šmok wurden sie Mitte der 1980er Jahre für die Prager Fußgängerzone zu Pflastersteinen gehauen. Denn damals stand der Besuch des sowjetischen Staats- und Regierungschefs Michail Gorbatschow an. Und die tschechoslowakische Hauptstadt sollte etwas hermachen…„Die Straßen in Prag waren aufgerissen. Die Pflastersteine, die eingesetzt werden sollten, lagen offen am Rand der Fußgängerzone herum. Wer dort entlangging und ein bisschen aufmerksam war, bemerkte, dass auf einer Seite vieler Steine anderssprachige Aufschriften waren. So konnte man erkennen, dass es sich nicht nur um Material von Grabsteinen handelte, sondern auch dass es jüdischer Herkunft war“, so Šmok, der die US Shoah Foundation berät.
Die ČSSR und der Zionismus
Doch warum kam es überhaupt dazu? Das hat mehrere Gründe. Einer liegt im Kampf des kommunistischen Regimes gegen das, was es selbst als Zionismus bezeichnete. Diese Bewegung, die auf einen jüdischen Nationalstaat in Palästina zielt, galt als Feind des Sozialismus. Und in der Tschechoslowakei gewann die Kampagne gegen den Zionismus während der sogenannten Normalisierung wieder an Stärke, also nach der Niederschlagung der Reformbewegung „Prager Frühling“ durch die Sowjets im Jahr 1968. Martin Šmok:„Während der Normalisierung wurde der Prager Frühling von der sowjetischen Propaganda – und zum Teil auch von Kommunisten hierzulande – als weitere zionistische Verschwörung bezeichnet. Dabei hatte sich das Regime ab Mitte der 1950er Jahre nicht mehr so sehr auf den Kampf gegen den Zionismus konzentriert. Die allgemeine Zerstörung von Kulturdenkmälern trifft aber besonders die jüdischen. Denn es gab nur sehr wenige Überlebende, die sich noch um diese hätten kümmern können. Und sie konnten wegen der antizionistischen Stimmung auch keine neue Generation heranziehen. Vor dem Krieg gab es hierzulande etwa 600 jüdische Friedhöfe. Ende der 1980er Jahre waren es nur noch 334.“
Ab dem Sommer 1972 startet ein Ausverkauf. Denn der tschechoslowakische Staat fordert von den jüdischen Gemeinden, ihre Friedhöfe selbst zu pflegen. Da diese aber nicht wissen, aus welchen Quellen sie die nötigen Finanzen dazu bekommen können, entsteht ein sogenannter Zentraler Friedhofsfonds.„Die Idee war, die am stärksten zerstörten Friedhöfe aufzulösen. Diese waren entweder während der nationalsozialistischen Besatzung oder auch später zu Schaden gekommen. Jedenfalls sollten alle Grabsteine verkauft werden, und aus dem Erlös sollte die Rettung wenigstens eines jüdischen Friedhofs je Region finanziert werden“, so Martin Šmok.
Dass zahlreiche jüdische Gemeinden dieses bittere Spiel mitmachen, hat damit zu tun, dass sie schon längst nicht mehr selbstverwaltet sind. Dazu der Historiker:
„In den 1970er Jahren entschieden bereits die staatlichen Organe, wer an der Spitze der jüdischen Gemeinden stand. Und diese waren wie alle anderen Glaubensgemeinschaften der staatlichen Aufsicht unterstellt.“Bis 1974 kommt es zu einer großen Säuberungswelle, und danach sind laut Martin Šmok alle Vertreter der jüdischen Gemeinden auch inoffizielle Mitarbeiter der tschechoslowakischen Staatssicherheit. Dennoch versuchen einige der Gemeinden, ihre Integrität zu wahren:
„Sie bemühten sich, die Angehörigen jedes Beerdigten ausfindig zu machen, ihnen die Grabsteine zu übergeben und die Gräber umzusetzen. Das war beispielsweise in Ostrau so. Doch in Westböhmen, in den ehemaligen Sudetengebieten, wurde so brutal vorgegangen, dass die Angehörigen sogar Strafanzeigen erstatteten wegen des Raubes der Grabsteine.“
In dem Geschäft mit den Grabsteinen mischt auch die Staatssicherheit mit. Ihr Ziel sei unter anderem gewesen, dadurch Menschen kompromittieren zu können, sagt der Historiker. Auch da habe der selbsterklärte „Kampf gegen den Zionismus“ eine Rolle gespielt. Zugleich sind kriminelle Gruppen beteiligt, wie Šmok weiter erläutert:
„Der Verkauf der teuren Steine, die von den jüdischen Friedhöfen geklaut wurden, war so lukrativ, dass auch die kriminelle Unterwelt darauf aufmerksam wurde. Es ging um viel Geld, Valuta und den Handel mit dem Ausland.“Fehlende Aufarbeitung der Geschichte
Doch zurück zum Fall der Pflastersteine in der Prager Innenstadt. Warum werden sie erst jetzt an die jüdische Gemeinde zurückgegeben?
„Soweit mir bekannt ist, hat die Stadt Prag zwar immer die Verarbeitung der Grabsteine bedauert, aber zugleich einen absoluten Unwillen an den Tag gelegt, wenn es um eine Wiedergutmachung ging. Jetzt wird jedoch erstmals nach langen Jahren das Kopfsteinpflaster im Zentrum erneuert. Das heißt, dass die Steine mit Fragmenten tschechischer, hebräischer und deutscher Inschriften nicht nur deswegen freigelegt werden müssen, weil jüdische Vertreter protestieren, sondern weil das ohnehin geschieht“, sagt der Fachmann von der Shoah Foundation.
Dass sich die Stadt so lange geweigert hat und auch nur wenig öffentlicher Druck bestand, schreibt der Historiker Šmok aber vor allem dem Umgang der Tschechen mit der eigenen Geschichte zu. Allenthalben werde sich zwar auf die demokratische Erste Republik berufen, doch die Entwicklung ab Oktober 1938 und ihre Folgen würden komplett ausgeblendet:„Leider hat unsere Gesellschaft nie offen die damalige Ablehnung von allem Jüdischen aufgearbeitet. Das bezieht sich nicht nur auf die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung, sondern auch schon auf die sogenannte ‚Zweite Republik‘. Damals wurde bereits Jagd auf Juden gemacht, bevor ein einziger deutscher Soldat einmarschiert war. Und unser Land hat sich auch nie damit beschäftigt, wie die Vorurteile gegenüber Juden unter dem kommunistischen Regime ab Ende der 1940er Jahre und während der Normalisierung wiederbelebt wurden. Ich denke, das alles gehört zu einer allgemeinen Nicht-Aufarbeitung der eigenen Geschichte hierzulande.“