Wie voll ist das Boot? Tschechien diskutiert über EU-Flüchtlingspolitik
Die Flüchtlingskrise, sie soll am Donnerstag und Freitag im Mittelpunkt des EU-Gipfels stehen. Einige Staaten wie Italien verlangen mehr Solidarität, andere wie Frankreich, Österreich oder Ungarn machen die Grenzen dicht. Auch in Tschechien sind die Politiker alarmiert. Verbindliche Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen lehnen sie ab. Was aber schlagen sie stattdessen vor?
„Den steigenden Zustrom an Flüchtlingen haben wir bereits Ende vergangenen Jahres registriert, Anfang dieses Jahres hat die Fremdenpolizei darauf reagiert und die Kontrollen verschärft. Das Ergebnis ist, dass in den ersten fünf Monaten dieses Jahres auf tschechischem Gebiet insgesamt 2500 illegale Migranten festgehalten wurden. Das sind 42 Prozent mehr als im entsprechenden Zeitraum des vergangenen Jahres.“
Vergangene Woche legte Innenminister Milan Chovanec noch einmal nach. Bei einer Sondersitzung des Abgeordnetenhauses zur Flüchtlingskrise verkündete Chovanec, dass die Kontrollen weiter intensiviert würden. Tomáš Haišman leitet den Bereich Asyl- und Immigrationspolitik beim Innenministerium. Er betont, dass die Kontrollen aber nicht gegen die Abmachungen von Schengen verstoßen würden:„Die Kontrollen finden nicht an den Grenzen statt. Es handelt sich nicht um einen Schutz der Grenzen, sondern um die Kontrolle illegalen Aufenthalts auf tschechischem Boden. Das heißt, alle Kontrollen finden im Landesinneren statt.“
Unter besonderer Beobachtung stehen die internationalen Züge, besonders aus Budapest und Wien in Richtung Berlin. Die Flüchtlinge, die dort aufgegriffen werden, kommen vorwiegend aus dem Kosovo, zuletzt aber zunehmend aus Syrien und Afghanistan. Viele der Flüchtlinge aus Asien waren laut Auskunft der Polizei zuvor schon in Griechenland und Italien und haben dort um Asyl ersucht. Aufgrund des Abkommens von Dublin werden sie in der Regel nach einigen Wochen dorthin zurückgeschickt.Flüchtlingsaufnahme nur freiwillig
Doch in Griechenland und Italien sind die Flüchtlingslager dramatisch überfüllt. Ständig kommen neue Flüchtlingsboote an – in diesem Jahr haben bereits über 100.000 Menschen das Mittelmeer überquert. Die Politiker in Athen und Rom appellieren an die Solidarität. Alle EU-Länder sollten Flüchtlinge aufnehmen, am besten per Quote – wie sie von der Europäischen Kommission vorgeschlagen wurde und wie sie zum Beispiel von Deutschland gefordert wird. Demnach würden 40.000 Menschen besonders aus Syrien und Eritrea aufgeteilt. Gerade Flüchtlinge aus diesen beiden Bürgerkriegsregionen haben die höchsten Chancen, mindestens ein vorübergehendes Bleiberecht zu erhalten. Aber es scheint, dass dies in der EU nicht mehrheitsfähig ist. Das zeigte sich vergangene Woche, als sich die Innenminister in Luxemburg trafen. Zu den vielen Ländern, die gegen die Quote sind, gehört auch Tschechien. Die Politiker des Landes nutzen jede Gelegenheit dazu, um dies kundzutun. Bei einer Sondersitzung des tschechischen Abgeordnetenhauses am Donnerstag vergangener Woche betonte Premier Bohuslav Sobotka erneut:„Der Standpunkt meiner Regierung ist: Tschechien schließt sich dem Vorschlag zu einer Verteilung der Flüchtlinge nur dann an, wenn dies auf freiwilliger Basis geschieht. Bei verbindlichen Quoten kann Tschechien den Vorschlag der Europäischen Union nicht unterstützen.“
Die erwähnte Parlamentsdebatte war von der tschechischen Opposition mehr oder minder erzwungen worden – aber nicht etwa deswegen, weil sie die Quote wollte. Im Gegenteil, es herrscht ein seltener Konsens in der Politik hierzulande: Alle Parteien lehnen eine Zuteilung ab.
Sind 1000 Flüchtlinge zu viel?
Die Meinungen prallen jedoch in anderen Fragen aufeinander, und das sogar innerhalb der Regierungskoalition. So hat die Europäische Kommission nach ihrem System errechnet, dass Tschechien insgesamt fast 1900 Flüchtlinge aufnehmen sollte – etwa 1300 aus Lagern in Italien und Griechenland sowie rund 600 aus den Camps in und um Syrien. Innenminister Milan Chovanec schrie danach auf, dies sei zu viel, es würde die Kapazitäten hierzulande übersteigen. Das erstaunt, wenn man weiß, dass Tschechien in der 1990er Jahren vielen Tausend Bosniern Asyl bot. Seitdem wurden die meisten Flüchtlingsunterkünfte aber geschlossen, und Prag betreibt eine vergleichsweise restriktive Asylpolitik. Im vergangenen Jahr erlaubten die tschechischen Behörden nur rund 400 Flüchtlingen den Aufenthalt hierzulande. Vizepremier Pavel Bělobrádek von den Christdemokraten glaubt aber, dass das Land durchaus 1000 Flüchtlinge aufnehmen könnte, wenn man sie selbst aussuchen dürfe.„Wir müssen uns nicht vor jenen Flüchtlingen fürchten, die aus christlichen Familien zu uns kommen und zwar, weil sie verfolgt werden und ihnen die Milizen des Islamischen Staates die Köpfe abschneiden. Sie muss man deutlich unterscheiden von den Wirtschaftsflüchtlingen“, so Bělobrádek.An diesem Mittwoch will nun die Regierungskoalition darüber abstimmen, wie viele Flüchtlinge aus Italien und Griechenland man freiwillig aufnehmen würde.
Einige Oppositionsparteien lehnen dies allerdings ab. Miroslava Němcová von den konservativen Bürgerdemokraten (ODS) sagte bei der Sondersitzung des Abgeordnetenhauses in der vergangenen Woche:
„Wenn die Regierung heimlich sich sagt, man wolle zwar die Quotenregelung ablehnen, aber werde die Flüchtlingszahlen, die die Kommission Tschechien zugeteilt hat, ungefähr akzeptieren, dann wäre das Betrug an uns allen. Und das will ich nicht zulassen.“Erstaunt über die Debatte zeigte sich hingegen Ex-Außenminister Karel Schwarzenberg, Vorsitzender der liberal-konservativen Partei Top 09. Man bekäme den Eindruck, dass Hunderttausende Flüchtlinge bereits in Tschechien eingefallen seien und auf der österreichischen Seite die Milizen des Islamischen Staates lauern würden.
„Ich mache auf eine Sache aufmerksam, und das aus eigener Erfahrung: Angst ist der schlechteste Ratgeber. Das gilt für jede Situation, auch wenn ich zugeben muss, dass im gegebenen Fall die Lage ernst ist. Angst vor den Flüchtlingen, Angst vor Asylbewerbern, Angst vor Fremden – ich bitte alle sehr, in der zugegebenermaßen ernsten Lage nüchterne Erwägungen anzustellen.“
Innenminister hat Verständnis für Ungarn
Neben dem Streit über die Zahlen bestehen weitere Reibungspunkte, auch innerhalb der Regierungskoalition. Einer betrifft den Schutz der EU-Außengrenzen. Alle sind sich zwar einig, dass Italien und Griechenland mehr geholfen werden müsste. Am ungarischen Vorgehen aber scheiden sich die Geister. Budapest lässt gerade einen vier Meter hohen Zaun errichten, um die Grenze zu Serbien abzuschotten. Innenminister Chovanec zeigt Verständnis.„Über Ungarn sind im vergangenen Jahr 55.000 Flüchtlinge in die EU gekommen. Sie stammten meist aus dem Kosovo, aber mittlerweile sind es auch Menschen aus Syrien und aus Afghanistan. Die ungarische Maßnahme ermöglicht, die Flüchtlinge zu registrieren, so dass diese nicht weiter in die EU gelangen“, sagte der Chef des Innenressorts.
Für Außenminister Lubomír Zaorálek, wie Chovanec ein Sozialdemokrat, ist das jedoch keine Lösung:
„Dies ist das verzweifelte Bemühen, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Es wäre besser, wenn die Länder zusammenarbeiten und nicht Zäune errichten würden.“Auch Premier Sobotka scheint wenig angetan zu sein vom ungarischen Weg. Vor den Abgeordneten merkte er an:
„Die derzeitige Migrationskrise erfordert eine sehr enge Zusammenarbeit der EU-Länder. Diese Krise kann kein Staat allein lösen.“
Premier Sobotka will Aufnahmezentren in Afrika
Selbst wenn sich beim EU-Gipfel alle EU-Staaten bereit erklären, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, wird der Strom neuer Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten nicht verebben. Darüber unterhielt sich Premier Sobotka am Freitag in Bratislava mit dem britischen Premierminister David Cameron. Dies geschah am Rande eines Treffens der sogenannten Visegrád-Vier, die alle wie auch Großbritannien die Quotenregelung ablehnen. Danach berichtete der tschechische Regierungschef den Journalisten:
„Wir haben uns geeinigt, dass eine Lösung ist, die Lage in Libyen zu stabilisieren. Zudem braucht es mit den afrikanischen Staaten eine Übereinkunft. Mit ihnen muss ein System gefunden werden, dass jene Flüchtlinge, die nach Europa gelangt sind und dort aber kein Asyl erhalten, wieder in ihre Heimatländer zurückgebracht werden können.“Am Montag beschlossen die europäischen Außenminister, dass die EU mit einem Militäreinsatz gegen Flüchtlingsschleuser kämpfen soll. Denn 80 Prozent des Menschenschmuggels im Mittelmeer laufen über Libyen. Doch es wird noch Jahre dauern, bis die Maßnahmen greifen könnten. Schon jetzt aber erodiert die europäische Migrationspolitik. Am Dienstag kündigte die ungarische Regierung die europäische Zusammenarbeit in Asylfragen auf.