Wikipedia Tschechien feiert 20-jähriges Bestehen: Ein Blick hinter die Kulissen
Anfang Mai beging Wikipedia Tschechien seinen 20. Geburtstag. Ein Grund, mal hinter die Kulissen der digitalen Enzyklopädie zu schauen.
Wikipedia-Gründer Jimmy Wales beschrieb einmal die Philosophie der Seite mit folgenden Worten:
„Stell dir eine Welt vor, in der jeder Mensch auf der Erde freien Zugang zum gesamten menschlichen Wissen hat. Das ist, was wir machen.“
Jimmy Wales
18 Jahre sind seitdem vergangen, und viel hat sich auf der Plattform verändert. Heute wird sie von der Wikimedia Foundation betrieben. Klára Joklová leitet den tschechischen Ableger, Wikimedia Česká Republika. Gegenüber Radio Prag International erläutert sie, wie sich Wikipedia und Wikimedia auseinanderhalten lassen:
„Wikipedia und weitere Wikimedia-Projekte existieren nur online. Es gibt keine Struktur wie bei einer Organisation mit Angestellten und auch keine Hierarchie. Es handelt sich nur um die Website. Wikimedia andererseits hat ein Team und konkrete Projekte. Mit einem festen Budget, das sich aus Spendengeldern speist, finanziert Wikimedia seine Projekte. Außerdem betreut Wikimedia alle Wikimedia-Projekte in Fragen der Systemadministration, der Entwicklung und der Strategie. Sowie natürlich durch das Sammeln von Spendengeldern.“
Das heißt im Konkreten: Wikipedia ist ein Projekt ohne Führung. Wikimedia hingegen hat die Struktur einer gemeinnützigen Organisation. Sie ist die Betreiberin der Enzyklopädie. Das sei wichtig, um als Ansprechpartner für andere Institutionen zu fungieren, so Klára Joklová weiter:
„Wikimedia Česká Republika ist eine tschechische NGO. Unser Hauptziel ist das Wachstum der tschechischen Wikipedia-Community. Aber wir fungieren auch als Partner für Büchereien, Archive, Museen und weitere tschechische Institutionen. Denn sie besitzen Wissen, das wir in Wikipedia aufnehmen können.“
Wikimedia kümmert sich auch um weitere Projekte wie Wikidata oder Wikimedia Commons. Der tschechische Ableger ist an die Wikimedia Foundation in den USA gebunden. Lokal – also in Tschechien – ist die Filiale jedoch sehr frei in ihren Entscheidungen.
„Unser Aufgabenbereich umfasst drei Gebiete. Zuerst das Bildungsprogramm. Hier versuchen wir, neue Lektoren und Fotografen für die tschechische Community zu gewinnen. Der Fokus liegt auf unterschiedliche Alters- und Gender-Gruppen. Zum Beispiel haben wir das Programm ‚Senioren schreiben für Wikipedia‘ entwickelt, eine Erfindung von uns. Wir veranstalten mehrere kostenlose Kurse pro Jahr. Dort bringen wir älteren Menschen bei, Artikel für Wikipedia zu verfassen. Darüber hinaus fokussieren wir uns auch auf die Jüngeren in der Gesellschaft, also Schüler und Studierende“, sagt die Leiterin.
Neben den zahlreichen Bildungsprogrammen gibt es noch das Wikitech-Programm mit technischem Fokus sowie das Wikipedia-Community-Programm mit Fokus auf die Gemeinschaft. Ein Aspekt liegt Klára Joklová dabei ganz besonders am Herzen, nämlich die Diversität:
„Wir müssen wirklich die Diversität in unserer Community unterstützen. Denn die meisten Wikipedianer sind jung, weiß und männlich. Das hat natürlich auch Einfluss auf den Inhalt der Website. Darum versuchen wir, vor allem Frauen unter die Arme zu greifen. Wir organisieren jedes Jahr im März das Projekt ‚Wiki-Gap‘, um Frauen zu zeigen, dass auch sie Einträge schreiben können.“
Mangel an Diversität auf der Plattform
Dabei ist Diversität nicht nur für die Gleichberechtigung unglaublich wichtig, sondern auch für die Qualität. Wikipedia basiert auf dem Prinzip der kollektiven Intelligenz. Viele Bearbeitungen sorgen für sehr unterschiedliche Perspektiven, Aspekte und Inhalte.
Leider sieht die Realität etwas anders aus. Laut einer internen Studie von 2018 sind gerade einmal neun Prozent der aktiven User weiblich, und über 80 Prozent stammen aus dem globalen Norden. Leonhard Dobusch ist Universitätsprofessor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Innsbruck und Experte für Wikipedia. Er kennt dieses Phänomen.
„Man könnte sagen, wir haben es hier mit einer Pfadabhängigkeit zu tun. Das soll heißen: Wenn sich einmal eine sehr männliche Community-Kultur herausgebildet hat, dann führt das dazu, dass sich dort nur sehr wenige Frauen wohlfühlen. Diese Kultur wirkt selbstreproduzierend, sodass es mit der Zeit immer schwerer wird, diese Tendenz noch zu ändern. Denn dafür wären viele Frauen in der Community notwendig. Aber genau wegen dieser Kultur treten weniger Frauen der Plattform bei oder bleiben zumindest nicht lange. Um das zu ändern wären ein viel härteres Eingreifen und schärfere organisatorische Maßnahmen notwendig, als man derzeit von Seiten der Wikimedia Foundation, der Trägerorganisation hinter der Wikipedia, bereit ist aufzubringen“, so Dobusch.
Außerdem haben kleinere Sprachengemeinschaften weniger Autoren, was wiederum in einer kleineren Menge von Artikeln mündet. Das tschechische Wikipedia verfügt nur über etwa 500.000 Artikel und damit deutlich weniger als das deutschsprachige oder gar das englische Pendant. Wer nur Tschechisch spricht, ist also klar im Nachteil. Das ist nicht demokratisch.
Liest man den Wikipedia-Artikel über den Krieg in der Ukraine, so überrascht die relative Objektivität. In den verschiedenen Sprachen sind die Inhalte sehr ähnlich, selbst in der russischen und ukrainischen Version. Das liegt auch daran, dass Wikipedia strikt an Fakten und Quellen gebunden ist. Meinungen werden sofort gelöscht. Dennoch scheint es unglaublich, dass das System so gut funktioniert. Wieso ist Wikipedia nicht gestopft mit Falschinformationen und Propaganda? Dafür gibt es mehrere Gründe. Ganz ohne Hierarchie geht es nämlich doch nicht. Es gebe Ämter wie Administratoren oder die sogenannte Patrouille, die tiefergreifende Veränderungen vornehmen könnten, wie beispielsweise Accounts sperren oder Artikel löschen, erläutert Joklová. Darüber hinaus betont Professor Dobusch die radikale Offenheit der Website:
„Prinzipiell muss man sagen, dass eine Plattform, die offen für Änderungen von Jedermann und Jederfrau ist, natürlich auch Manipulationsversuchen von allen Seiten zum Opfer fallen kann. Gleichzeitig dient die radikale Offenheit von Wikipedia, wo jede Änderung nachvollziehbar ist, als ein Instrument, mit dem man Manipulationsversuchen auf die Schliche kommen kann.“
Damit meint Dobusch, dass Wikipedia zu jedem Beitrag ein Protokoll führt. In diesem werden alle Änderung festgehalten. Da alle User das Protokoll frei einsehen können, kann die Community die entsprechenden Änderung überprüfen und eventuell korrigieren. Andererseits betont der Professor auch einen Kritikpunkt an dieser Offenheit:
„Das bedeutet natürlich nicht, dass das immer gelingt. Das heißt, wenn jemand viel Geld und Ausdauer hat, dann ist auch die Möglichkeit durchaus groß, Einfluss auf die eigene Wikipedia-Seite zu nehmen. Wobei meiner Meinung nach das auch nicht schlimmer ist, als bei allen anderen Medien, bei denen Menschen mit viel Ausdauer und viel Geld durch Lobbyismus die Berichterstattung manipulieren. Jedoch ist diese Manipulation teilweise noch viel schwieriger nachzuvollziehen, als das bei Wikipedia der Fall ist.“
Und tatsächlich kommen immer wieder Skandale an die Öffentlichkeit, in denen Politiker oder Privatunternehmen PR-Agenturen für das Frisieren von Wikipedia-Beiträgen bezahlt haben.
Algorithmen gegen Autorenschwund
Ein weiteres Problem ist der konstante Rückgang aktiver Autoren, während die Menge der neuen Einträge stetig zunimmt. In Deutschland halbierte sich die Anzahl der aktiven Wikipedianer von 2007 bis 2021, während sich die Zahl der Einträge vervierfachte. Dazu Dobusch:
„Es ist auf jeden Fall so, dass ein stetiges Ansteigen der Artikelzahl – bei gleichzeitigem Rückgang der Autoren und Autorinnen – auf Dauer ein Problem für Wikipedia ist. Denn es gibt dann einfach nicht genug Menschen, die die Artikel pflegen und dafür sorgen, dass diese aktuell bleiben. Das kann man heute schon bei Nischenthemen beobachten, also Artikeln, die nicht viele Menschen interessieren. Mit der Zeit verwaisen sie und sind dann teilweise auf einem sehr alten Stand. Dies erinnert dann an die fehlende Aktualität von Print-Enzyklopädien. Insofern denke ich, dass das eine bleibende Herausforderung für die nächsten Jahre sein wird. Hinzu kommt aber auch, dass es inzwischen technische Fortschritte gibt und ein großer Teil der Aufgaben von sogenannten Bots – also kleinen Editieralgorithmen – übernommen wird. Das erlaubt, trotz einer kleineren Zahl von Autorinnen und Autoren eine größere Menge an Artikeln zu pflegen und aktuell zu halten.“
Auch die tschechische Wikimedia-Leiterin sieht das Problem. Darum veranstaltet sie an den hiesigen Schulen Kurse, um den Kindern den richtigen Umgang mit Informationen beizubringen. Das sind Fähigkeiten, die den Schülern auch außerhalb von Wikipedia helfen.
„Gegen Desinformation zu kämpfen ist sehr wichtig. Man muss die ganze Zeit sehr vorsichtig sein. Darum benutzen wir Wikipedia auch als Bildungsmöglichkeit. Zum Beispiel versuchen wir Kindern den Umgang mit Quellen beizubringen. Sie sollen sich ihre eigene Meinung bilden und die Quellen hinterfragen. Wenn zum Beispiel eine unbekannte Quelle oder eine private Website als Nachweis angegeben wird, sollte man ihr nicht vertrauen. Das zu lernen ist sehr wichtig“, sagt Joklová.
Doch wie sieht es am Ende aus mit der Seriosität der Seite? Dazu noch einmal Wikipedia-Experte Dobusch:
„Prinzipiell kann man die Qualität von Wikipedia da am besten beurteilen, wo man selbst eine gewisse Expertise mitbringt. Ich muss als Universitätsprofessor im Bereich der Betriebswirtschaftslehre sagen, dass viele betriebswirtschaftliche Themen noch nicht erschöpfend behandelt wurden, aber die Inhalte im Großen und Ganzen korrekt sind. Ich habe mich mit empirischen Studien auseinandergesetzt, die sich die Fehlerzahlen bei Wikipedia angesehen haben. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Artikel relativ robuste und belegte Wissensquellen sind.“
Am 5. Mai ist der tschechische Ableger von Wikipedia 20 Jahre alt geworden. Nun blickt Klára Joklová in die Zukunft. Was werden die nächsten 20 Jahre bringen?
„Ich glaube, in Zukunft wird es bezahlte Redakteure geben, denn die Menge der Informationen wächst immer weiter, während die Community ungefähr gleich groß bleibt. Andererseits müssen wir das Wikipedia-Projekt auch zugänglicher machen für die breite Öffentlichkeit. Die technischen Hürden müssen gesenkt werden und die breite Bevölkerung einen freieren Zugang erhalten.“