Zeitbombe Plattenbau? Europa sucht nach Lösungen
Plattenbauten sind für viele Menschen der Inbegriff der architektonischen Sünde. Andere wiederum erweisen sich gerne als Fürsprecher der manchmal gar nicht so üblen Wohnraumbeschaffung in rasch wachsenden Städten. Probleme gibt es aber mit den Plattenbauten allemal. Schon allein deshalb, weil ihre Lebenserwartung nicht besonders hoch ist. Die einstigen Neubauten werden schnell zu Altlasten. Wie man diese in den Griff bekommt, darüber diskutierten vergangene Woche in Prag Experten und Minister aus allen EU-Ländern. Hören Sie mehr im folgenden Schauplatz, von Gerald Schubert:
Lange, düstere, schmucklose Gänge. Großstadtanonymität einerseits, andererseits aber dünne Wände, durch die man jedes Hüsteln des Nachbarn hört. Fertigteilcharakter bis ins kleinste Detail, im Extremfall mit vorgebohrten Löchern für die Bilder an der Wand. All dies ergibt - zusammen mit der meist schlechten Infrastruktur vor Ort - den Stoff, aus dem die Plattenbau-Albträume sind. Die Probleme in und mit den Stadtrandsiedlungen sind im gesamteuropäischen Kontext aber recht unterschiedlich. In vielen französischen Städten etwa sind die Bettenburgen in den Randbezirken eng mit sozialer Ausgrenzung und Kriminalität verbunden. In Tschechien hingegen kann man dieses Phänomen kaum beobachten. Wenigstens vorerst. Immer noch gelten die "Sídliste", also die Siedlungen, als recht praktikable Wohnlösung für Jungfamilien. Und die oftmals gehörte Aussage, die Platte sei besser als ihr Ruf, bedeutet wohl auch: Der Ruf der Platte ist gar nicht so schlecht.
Doch ein Problem haben die europäischen Plattenbauten gemeinsam: Der Zahn der Zeit nagt an ihnen besonders schnell. Einst, vor allem in den sechziger und siebziger Jahren, schossen sie massenhaft aus dem Boden, es war rasche Wohnraumbeschaffung für Millionen. Ebenso rasch nähern sich die Siedlungen aber bereits wieder ihrem architektonischen Verfall. Ein Gegenmittel gibt es freilich: Umfangreiche und substanzielle Renovierungsmaßnahmen, deren Kosten allerdings schwindelnde Höhen erreichen würden.
25 ressortverantwortliche Minister aus den Staaten der Europäischen Union sind Anfang der Woche in Prag zu einer Konferenz zusammengekommen, um über diese Problematik zu beraten. "Siedlungen fürs Leben", so der Name der Veranstaltung. Ivan Prikryl, stellvertretender Minister für Regionalentwicklung in Tschechien, erläutert das Problem aus der Sicht seines Landes:"In Tschechien wäre es nötig, insgesamt 400 Milliarden Kronen, also mehr als 13 Milliarden Euro, in die Plattenbauten zu investieren. Auf jeden Bürger, der in einem solchen Haus lebt, kommen dabei zirka 350.000 Kronen, knapp 12.000 Euro. Wir müssen daher sicherstellen, dass die Renovierung der Plattenbauten aus Sicht der Bürger überhaupt bezahlbar ist. Der technische Zustand dieser Gebäude macht eine Renovierung aber wirklich nötig. Wenn wir hier nicht investieren, dann könnten in 10 oder 15 Jahren ernsthafte Probleme auftreten, und eventuell sogar Häuser einstürzen."
Wolfgang Eckart, Referatsleiter im Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen in Deutschland, ist ebenfalls zu der Konferenz nach Prag gekommen. Und er gibt Prikryl Recht: Die Zeit drängt, doch die Lösung des Problems gestaltet sich kompliziert:
Die Gesamtsumme, die in der EU zur Sanierung von Plattenbauten aufgewendet werden müsste, ist enorm: Von 350 Milliarden Euro ist da die Rede. Ein kaum vorstellbarer Betrag, der aber letztlich einer großen Zahl von Europäerinnen und Europäern zugute käme. Die Minister rechneten vor, dass in der EU insgesamt 70 Prozent der Stadtbewohner in Plattenbausiedlungen leben. Die Probleme bestehen jedoch nicht nur in der Finanzierung der nötigen Sanierungsmaßnahmen, sondern oft in mangelndem Know-how. Expertenkonferenzen wie die in Prag befassen sich auch damit, sagt Wolfgang Eckart vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen:
"Diese Treffen haben natürlich auch die Aufgabe, einen Austausch stattfinden zu lassen. Wir in Deutschland konnten etwa nach der Wende im Zusammenhang mit diesen Problemen viele Erfahrungen sammeln, und unser Anliegen ist es, diese Erfahrungen auch weitergeben zu können. So wie auch andere Länder aus dem Westen den osteuropäischen Staaten ihre Erfahrungen vermitteln - und umgekehrt. Auch wir haben unsere Probleme, und so ist das schon ein Geben und Nehmen von beiden Seiten."
Die Rahmenbedingungen zur langfristigen Lösung der Probleme mit der Platte sind nicht gerade günstig. Auf der Prager Konferenz wurden nun einige Studien vorgestellt, die diesen Problemkreis systematisch aufarbeiten, sagen die Organisatoren. Eine einheitliche, europaweite Lösung ist dabei aber nicht in Sicht. Wolfgang Eckart:
"Zuerst sind natürlich einmal die Nationalstaaten gefordert, etwas zu tun und sich finanziell selbst zu helfen. Der Anteil der Wohnkosten am Einkommen dürfte in den bisherigen EU-Ländern im Schnitt sogar höher liegen als in den neuen Mitgliedstaaten. Den präsentierten Zahlen zufolge investieren diese Staaten auch einen größeren Anteil des Bruttoinlandsprodukts ins Wohnen als die Beitrittsländer. Also, es ist auch Eigenhilfe gefragt. Aber andererseits ist das, wie bereits gesagt, nicht nur eine finanzielle Frage. Es geht auch darum, die Rahmenbedingungen zu verbessern und die Voraussetzungen für Investitionen zu stärken."
Doch selbst die direkten Fördergelder der EU könnten nicht automatisch zur Sanierung der Plattenbausiedlungen herangezogen werden. Die europäischen Richtlinien sehen für diese Mittel eine gemeinsam vereinbarte Verwendung vor, die erst noch ausgehandelt werden muss. Jirí Paroubek, tschechischer Minister für Regionalentwicklung, nennt sein Ziel:
"Von dem Geld, das wir in den Jahren 2007 bis 2013 aus den Europäischen Strukturfonds und aus dem Kohäsionsfonds bekommen - jährlich werden das ungefähr fünf Milliarden Euro sein - würden wir gerne an die sieben oder acht Milliarden Kronen, also etwa 250 Millionen Euro, diesem Zweck widmen."
Die Teilnehmer an der Prager Konferenz waren sich einig: Es muss etwas geschehen. In einem Abschlusskommuniqué wiesen sie auf die große Sprengkraft der Problematik hin, die nicht nur finanzielle, sondern auch architektonische, ökologische, infrastrukturelle, und nicht zuletzt soziale Dimensionen hat. In einem Brief an die Europäische Kommission äußerten die Minister den Wunsch, möglichst bald auf EU-Ebene über das Thema zu verhandeln, sagt Wolfgang Eckart vom deutschen Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen:
"Es ist das ein Versuch, mit der Kommission über Maßnahmen ins Gespräch zu kommen, die die Lösung dieses Sanierungsproblems voranbringen könnten. Ein Punkt dabei ist immer die Verwendung von Mitteln aus den Strukturfonds, etwa für energetische Sanierungsmaßnahmen. Das ist aber natürlich ein sehr heikles Thema. Denn gerade vonseiten der Nettozahler gibt es die Sorge, dass da neue Töpfe aufgemacht werden, und dass zusätzliche Kosten entstehen, während es ja gerade von unserer Seite das Bestreben gibt, die Kosten zu reduzieren."
Bevor die - wie wir sehen nicht einfachen - europäischen Lösungsansätze greifen, sind aber auf jeden Fall die Stadt- und Bezirkspolitiker aufgerufen, sich um die Plattenbausiedlungen zu kümmern. Man muss die Platte ja nicht mögen. Aber solange viele Prager sagen, dass sie besser ist als ihr Ruf, ist das wohl ein gutes Zeichen.