Zeitgeschichte als Event: Berlin und Prag 1968 in der Retrospektive

Jiří Dienstbier

„Crossing 68 – 89“ - das war der Titel einer ungewöhnlichen Veranstaltung in der Berliner Akademie der Künste. 40 Jahre nach dem Prager Frühling und den Studentenprotesten trafen im modernen Glasbau am Brandenburger Tor Intellektuelle, Künstler und Zeitzeugen zusammen, um über 1968 in Ost und West zu diskutieren. Bis in die frühen Morgenstunden hinein konnten die zahlreichen Besucher zwischen Lesungen, Konzerten, Performances und Filmen wählen und miteinander ins Gespräch kommen.

Jiří Dienstbier
„1968 war ja nicht nur der Prager Frühling, sondern auch Paris, Berkeley und Berlin. Das Jahr war vor allem deshalb furchtbar interessant, weil plötzlich überall aus ganz unterschiedlichen Gründen und mit verschiedenen Zielen der Ruf nach Freiheit laut wurde. Und gerade als bei uns die Freiheit greifbar nah schien, kamen die Panzer. Den Menschen im gesamten Ostblock war klar, was da passierte: Wenn jemand versuchte, dem Sozialismus ein menschliches Antlitz zu geben, wurde er unterdrückt. Und dies nahm auch den linken Intellektuellen im Westen ihre letzten Illusionen über das sowjetische System“, so die Bilanz von Jiří Dienstbier, erster tschechoslowakischer Außenminister nach 1989 und einer der Hauptakteure des Prager Frühlings.

Dienstbier ist in die Akademie zur Podiumsdiskussion geladen. Eine hochkarätige Runde: Neben Dienstbier sitzen der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der französische Ex-Premier Lionel Jospin, der tschechische Schriftsteller Jiří Gruša, sein polnischer Kollege Adam Michnik, der Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer und der Philosoph Oskar Negt. Sie alle haben an den gesellschaftlichen Umbrüchen der 60er Jahre aktiv mitgewirkt. Steinmeier betont die Gemeinsamkeiten der Proteste in Ost und West, die „Jeanskultur“, wie er sagt. Jiří Dienstbier sieht das anders:

„Die Kultur der 60er Jahre war wirklich hervorragend. Sie war der Beweis, wie sehr sich die Gesellschaft änderte, wie sie freier und freier wurde. Im Jahre 68 explodierte das alles. Aber die politischen Ziele waren natürlich in jedem Land anders, je nach den dort herrschenden Bedingungen.“

Abseits der Podiumsdiskussion der grauhaarigen Männer im Anzug herrscht reges Treiben: Aus allen Ecken klingt Stimmengewirr, Filmtöne und Musik. Auf der Treppe stolpere ich über Vratislav Brabenec von der legendären Band „Plastic People of the Universe“, der sein Saxophon stimmt.

Im Foyer der Akademie türmen sich Bücherstapel und das Publikum wirft neidische Blicke auf einen mit Bier gefüllten Kühlschrank: Hier tagt das „Kabinett Topol“. Der gleichnamige Schriftsteller und acht Gäste fläzen sich auf Sofas und debattieren darüber, was es heißt, ein Kind der 60er Jahre zu sein. Mit dabei ist die Übersetzerin Eva Profousová:

Der Publizist Jiří Peňás hat ähnliche Erfahrungen gemacht und beschreibt seine Altersgenossen so:

„Man kann sagen, dass meine Generation sehr lange Zeit in der Scheiße gelebt hat und, verzeihen Sie bitte das Wort, diese Scheiße klebt ihr immer noch an den Schuhen.“

Peňás war im August 1968 gerade zwei Jahre alt. Mit einem breiten Grinsen erläutert er seine persönliche Interpretation der sowjetischen Invasion:

„Unsere damalige Republik hat schon etwas gemeinsam mit einer Frau, die ein maskulines Element über sich hat, also damals Russland. Und dann gibt es die Panzerfaust als Symbol dieser sexuellen Beziehung. Ob diese Phantasie jetzt etwas mit meiner damaligen analen Phase nach Sigmund Freud zu tun hat – das weiß ich nicht. Aber möglich wäre es schon.“

Die Kinder von damals seien von dieser Erfahrung traumatisiert, und so kommt Jáchym Topol zu dem Schluss:

„Ich denke, es ist eine völlig andere Erfahrung, das Jahr 68 im Osten oder im Westen erlebt zu haben. Und deshalb ist meine Generation ganz anders geprägt als in Westeuropa, denn dort hat meiner Meinung nach die Revolution gesiegt. Nicht nur die Musik und die Kleidung, auch in dieser linksgerichteten Perspektive existieren die 60er Jahre immer noch. Aber für die Leute im Osten war 68 das Jahr einer Tragödie, der Tragödie der Besatzung und des Beginns der Isolation, als die Revolution nicht siegen konnte.“

Die Künstler und Literaten im Kabinett Topol setzen sich in ihrer Arbeit immer wieder mit dem Jahr 1968 auseinander. Das sei jedoch für die aktuelle tschechische Literatur eher ungewöhnlich, so Eva Profousová:

„Ich habe das Gefühl, dass bis auf Jáchym Topol, für den dies eine Art Obsession ist, die tschechische Literatur das Thema vermeidet. Man kann aber nicht sagen, dass sie nicht historisch ausgerichtet sei. Wir haben sogar sehr viele Autoren, die sich mit Geschichte auseinandersetzen, aber sie befassen sich eher mit der deutschen Vergangenheit, mit den 50er Jahren vielleicht noch. 1968 scheint noch kein Thema zu sein.“

Diese Leerstelle hat Jáchym Topol mit seinen Romanen „Zirkuszone“ und „Nachtarbeit“ gefüllt:

„Ich habe das Gefühl, dass das Thema viele Leute nicht interessiert, weil sie es für Vergangenheit halten und gerade für junge Leute bei weitem nicht mehr so wichtig ist wie für uns. Wir mussten wissen, wer wir sind, wohin wir gehören, deshalb haben wir die Vergangenheit durchwühlt. Aber außerdem glaube ich, dass man über das Jahr 68 in Tschechien nicht spricht, weil das Gefühl der Erniedrigung immer noch da ist. Und obwohl dieses Datum tabuisiert wird, ist es nach wie vor wichtig. Sowohl Tschechen als auch Slowaken brennt diese schreckliche Knechtschaft, diese Unfreiheit, die jenes Jahr mit den sowjetischen Panzern über sie brachte, nach wie vor unter der Haut.“

Die junge Schriftstellerin Milena Oda wirbelt im roten Kleid von einer Gesprächsrunde zur anderen. Obwohl sie erst lange nach 1968 geboren wurde, befasst auch sie sich in ihren Texten mit dem Prager Frühling:

„Das Thema ist lebendig, wie alle wichtigen Abschnitte in der Geschichte. Und wenn wir nun schon Teil der Geschichte sind, dann müssen wir das auch nutzen. Dann muss man sich überlegen, welche Rolle ich selber darin spiele. Und damit setzt man sich persönlich auseinander.“

Auf die Frage, welche Spuren 1968 in den deutsch-tschechischen Beziehungen hinterlassen habe, antwortet Oda:

„Die Gemeinsamkeit des Umbruchs oder zumindest des Versuches eines Umbruchs. Und wenn Länder etwas gemeinsam haben, dann ist es, wie wenn Personen etwas gemeinsam haben: Dann können sie sich etwas erzählen.“

Weit nach Mitternacht leert sich die Akademie der Künste, im Foyer spielen die Plastic People, draußen erklingt - zum Ärger Jáchym Topols - Karel Gott aus den Lautsprechern. Die Besucher strömen in die Sommernacht und nehmen genug Gesprächsstoff mit auf den Nachhauseweg.