Zeitzeuge Jiří Kosta, zweiter Teil: „Wir haben die Gefahr unterschätzt“

Einmarsch deutscher Truppen am 15. März 1939

Im April hat Radio Prag mit einer lockeren Serie über das Leben von Jiří Kosta begonnen. Kosta ist in Prag aufgewachsen, wurde von den Nazis wegen seiner jüdischen Herkunft verfolgt, hat den Holocaust überlebt, emigrierte 1968 nach Deutschland und ist dort dann Wirtschaftsprofessor an der Frankfurter Goethe-Universität geworden. Stundenlang könnte man zuhören, wenn der heute 88-Jährige aus seinem Leben erzählt. Im ersten Teil der Serie schilderte er, wie seine Familie, die eigentlich dem politisch links stehenden deutsch-jüdischen Bürgertum angehörte, sich unter dem Eindruck der Ereignisse in den 30er Jahren tschechisierte. Im zweiten Teil, den wir nun senden, geht es um die Zeit ab der Besatzung Böhmens und Mährens durch die Nazis bis zur Deportation von Jiří Kosta ins KZ Theresienstadt.

Wir sind im Jahr 1939 und Jiří Kosta geht in die Prima an einem tschechischen Gymnasium in Prag. Seine Eltern leben getrennt, der Vater ist bereits nach dem Einmarsch der Nazis in die Sudetengebiete im Oktober 1938 emigriert. Doch seine Mutter ist mit ihm und seinem Bruder Tomáš in Prag geblieben. Dann kommt der 15. März 1939 und Deutschland besetzt auch noch den bisher freien Teil der Tschechoslowakei. Es entsteht das so genannte Protektorat Böhmen und Mähren, ein Staat von Hitlers Gnaden.

Jiří Kosta
„An dem Tag, es hatte leichten Schneeregen, es war sehr düster, ich bin zu Fuß zur Schule gegangen – wie immer über das Zentrum, Wenzelsplatz und durch die Straßen bis zu dem tschechischen Gymnasium. Es standen wenig Menschen da, sie waren erbittert, man sah schon die ersten Panzer kommen. Die Stimmung war sehr, sehr düster. Einige haben gedroht, sie haben die Fäuste zusammengeballt, sie haben sich noch getraut, andere sind verschwunden. Das war das Bild, das sich mir auf der Straße geboten hat. In der Klasse hatten wir dann Geschichtsunterricht bei einem ausgesprochen links und antifaschistisch ausgerichteten Lehrer, der übrigens dann illegal tätig war, was wir erst später erfahren haben, und der irgendwo dann hingerichtet wurde im Knast. Er hat die Stunde genutzt, um seinen Abriss der Geschichte vom Hussitentum, über die österreichisch-ungarische Monarchie, deren Bestandteil Böhmen war, bis hin zu diesem Schicksal zu geben - das alles in 45 Minuten. Das Schicksal, sagte er, habe immer gedroht, aber in der Form habe man es nie erwartet, und jetzt müsse man nachdenken, wie man sich wehren kann. Ich erinnere mich sehr gut daran. Dann hat man uns nach Hause geschickt. Ja, und das düstere Bild in der Familie, man hat nachgedacht, aber so genau kann ich mich an die ersten Tage nicht mehr erinnern. Dieser Schulgang und die Lehrstunde, die sind mir allerdings in Erinnerung geblieben.“


Einmarsch deutscher Truppen am 15. März 1939
„Man hat über England nachgedacht. Aber es waren einige Gründe im Spiel, die uns gehindert haben, die Emigration es sehr schnell und konsequent zu betreiben. Was meine Mutter betrifft, sie war im Unternehmen der Eltern tätig - in einem Kunstblumenbetrieb am Wenzelsplatz. Und sie ist nicht gleich entlassen worden, als der Betrieb durch einen deutschen Treuhänder arisiert wurde. Alle anderen – die Großeltern, sie waren so 60-65 Jahre alt, und die Geschwister meiner Mutter - wurden alle gleich entlassen. Das war nicht nach dem 15. März, es muss so im Juni gewesen sein. Meine Mutter ist dort noch einen Monat länger geblieben. Das hat auch dazu beigetragen, nicht die Emigration zu betreiben. Dann kam der Krieg und im September waren die Grenzen geschlossen. Ein bisschen hat auch mitgespielt: Ich als der Ältere sollte doch noch das Abitur machen. (...) Man hat die Gefahr unterschätzt, und so bin ich halt geblieben – mit der Mutter und dem Bruder.“


Jan Opletal
Jiří Kosta macht im Juni 1939 das Abitur und beginnt im Herbst desselben Jahres in Prag zu studieren. Sein ursprüngliches Wunschfach Germanistik bleibt ihm versperrt, er schwenkt auf Wirtschaftswissenschaften um. Doch die Ereignisse spitzen sich zu. Anfang November 1939 stirbt der Prager Student Jan Opletal, nachdem er bei einer großen Demonstration gegen die Nazis am Nationalfeiertag von der Polizei angeschossen wird. Die Studenten veranstalten einen Trauermarsch, an dem auch Kosta teilnimmt – am Ende jedoch schlagen die Nazis grausam zu, und die Protektoratsleitung lässt die Universitäten schließen.



Begräbnis von Jan Opletal
„Wir waren auf der Straße, wir hatten eine bestimmte Route einzuhalten, der Marsch ist dann auseinandergeraten und viele Prager Mitbürger schlossen sich uns an. Dann kam die Polizei und zerstreute die Demonstration. (...) Einige Studenten sind zurück in die Studentenwohnheime gegangen. Ich ging nach Hause und habe Radio gehört. Erst am nächsten Tag habe ich erfahren, dass gerade die, die in den Studentenwohnheimen gewohnt haben, massenweise verhaftet wurden. Einige sind ins Konzentrationslager gekommen. Die Studentensprecher – neun waren es, glaube ich – sind noch am gleichen Tag hingerichtet worden. Ich bin mit heiler Haut davongekommen, weil nur die Studenten, die in den Wohnheimen wohnten und außerhalb Prags ihren Wohnsitz hatten, betroffen waren. Das war der Anfang dessen, was blutig niedergeschlagen wurde und was auch mein Studium und das Studium aller meiner tschechischen Komilitonen unmöglich gemacht hat, denn wir konnten ja nicht auf eine deutsche Uni. Die tschechischen Hochschulen sind alle geschlossen worden, nicht nur in Prag, auch in Brünn, wo die größten Universitäten waren.“


„Ich wollte studieren. Aber was jetzt? Ich habe es schwer ertragen, dass ich dann bei der Jüdischen Gemeinde einen Landwirtschaftskurs absolviert habe. Ich habe also dann in der Landwirtschaft gearbeitet und später in einer Schreinerwerkstatt - alles Hilfsarbeiten. Vor allem kam aber eins nach dem anderen und war immer ein weiterer Schock: In den Straßenbahnen gab es solche Plattformen, auf denen man stehen musste. Man konnte und durfte nicht ins Theater, in die Parkanlagen, man sperrte auch eine Straßenseite, der Judenstern. Was ich jedoch am Schwierigsten fand, war die Unsicherheit: Wie geht es weiter? Es wuchs ständig die Angst vor dem, was als Nächstes passiert, bis wirklich die Transporte kamen, bis man deportiert wurde. Und das erreichte mich im November 1941, da war ich genau 20 Jahre alt. Die Zeit vorher habe ich mit der Verarbeitung dieser Übergangszeit verbracht. Natürlich sind auch während dieser Zeit irgendwelche Bekannte oder Menschen, von denen ich gehört habe, verhaftet worden. Und es gab Hinrichtungen, das war alles mit im Spiel. Es war also auf Raten.“

Autor: Till Janzer
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