Zweisprachige Dokumentation historischer Friedhöfe in der Umgebung von Bezdružice
Sven Müller lebt in Berlin und arbeitet in der Verwaltung des Landes Brandenburg. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit der Geschichte seiner Familie mütterlicherseits, die aus dem westböhmischen Städtchen Bezdružice / Weseritz stammte. Neben Archiven und Verwaltungen hat er dabei auch Friedhöfe in der Umgebung besucht, deren Atmosphäre ihn schnell gefangen nahm. Ausgestattet mit einer Kamera, einer Gartenschere, einer Wurzelbürste, einer Wasserflasche und einem Putztuch steuerte er zwischen 2018 und 2020 insgesamt 43 Friedhöfe an. Das Buch „Historische Friedhöfe in Weseritz, Plan und Umgebung“ ist ein Ergebnis dieser Besuche.
Herr Müller, Sie haben sich mit den historischen Friedhöfen in Westböhmen beschäftigt und diese in einem Büchlein dokumentiert. Konkret geht es um die Region um Bezdružice / Weseritz und Planá / Plan. Was enthält konkret die Publikation? Mit welchem Ziel haben Sie sich an die Arbeit daran gemacht?
„Zwischen 2018 und 2020 habe ich einige Friedhöfe rund um Weseritz und Plan besucht und dort die historischen Grabsteine fotografiert. Entstanden sind rund 5400 Fotos von Grabsteinen auf etwa 43 Friedhöfen.“
„Das Büchlein ist eigentlich ein Produkt der Corona-Pandemie. Ich saß in dieser Zeit in meiner Berliner Wohnung und hatte viele freie Abende. Die habe ich genutzt, um eine Publikation über mein vorausgegangenes Projekt zu gestalten. Zwischen 2018 und 2020 habe ich einige Friedhöfe rund um Weseritz und Plan besucht und dort die historischen Grabsteine fotografiert. Größtenteils waren es deutsche Friedhöfe, aber auch eine Reihe jüdischer Begräbnisstätten gehörte dazu. Entstanden sind rund 5400 Fotos von Grabsteinen auf etwa 43 Friedhöfen. Aber keine Sorge, das Büchlein enthält nur eine kleine Auswahl davon. Im Internet sind die Bilder jedoch alle vollständig zugänglich. Die historischen Friedhöfe im Egerland faszinieren mich aus einem ganz bestimmten Grund. Dort mussten die Lebenden größtenteils gehen, während die Toten in der Heimat geblieben sind. Ihre Gräber sind heute Orte, an denen die Geschichte lebendig wird. Genau das wollte ich mit meinen Bildern zeigen und auch für die Zukunft dokumentieren. Mein Büchlein ist zweisprachig, deutsch und tschechisch, weil ich vor Ort in Böhmen viele Menschen auf das Thema aufmerksam machen möchte.“
Was hat Ihr Interesse für diese Region im Westen Tschechiens geweckt? Haben Sie eine persönliche Beziehung dazu?
„Genau, ich habe eine familiäre Beziehung dorthin. Die Familie meiner Mutter stammt aus Weseritz. Das war bei uns zu Hause lange Zeit kein Thema. Ich wusste nicht, wo dieses Weseritz liegt. Erkundigt habe ich mich erst nach meinem Zivildienst in den frühen 1990er Jahren. Damals plante ich eine Reise mit dem Zug vom Schwarzen Meer in Bulgarien bis zur polnischen Ostsee. Marienbad war eine Station auf der langen Zugfahrt. Ein paar Tage bin ich dort geblieben und mit dem Bus über Plan nach Weseritz gefahren. Damals habe ich meine ersten Bilder aufgenommen, war aber völlig ahnungslos, was ich da überhaupt gesehen habe. Erst später, über die Familienforschung, habe ich mich intensiver mit der Region auseinandergesetzt. Inzwischen habe ich auch viele sehr nette Menschen dort kennengelernt und mich in diese wunderschöne grüne Hügellandschaft verliebt.“
„Die historischen Friedhöfe im Egerland faszinieren mich aus einem ganz bestimmten Grund. Dort mussten die Lebenden größtenteils gehen, während die Toten in der Heimat geblieben sind.“
Zurück noch zu Ihrem Buch. In welchem Zustand haben Sie die Friedhöfe vorgefunden? Sie schreiben im Vorwort, die Arbeit habe an den Aufenthalt in einem Dschungel erinnert. Es war also wohl nicht immer einfach, ihre Dokumentation zu machen…
„Die Friedhöfe waren tatsächlich in sehr unterschiedlichem Zustand. Einige weisen so gut wie keine historischen Gräber mehr auf. Dort wurden die deutschen Gräber lange vor der Samtenen Revolution liquidiert. Es gibt aber auch Friedhöfe, deren Gräber 80 Jahre lang überhaupt keinen Schaden genommen haben, als hätte jemand seine schützende Hand über sie gehalten. Für mich war allerdings die Vegetation die größte Überraschung. Meine ersten Bilder habe ich im Sommer 2018 aufgenommen, und das Frühjahr war in jenem Jahr sehr trocken. Die Arbeit war daher völlig unproblematisch. Als ich aber in den beiden folgenden Jahren wiederkam, regnete es relativ viel, und die Vegetation war plötzlich mannshoch. Das war wirklich wie im Dschungel, deswegen habe ich meinen Aufenthalt ein bisschen als eine Brennnessel-Kur betrachtet. Viele Grabsteine waren auch von Efeu überwuchert und von Baumwurzeln zerstört, so dass ich immer eine Gartenschere dabei hatte. Sonst wäre ich gar nicht herangekommen.“
Sie haben die Bilder um kurze Begleittexte ergänzt. Was ist dort zu lesen?
„Die Friedhöfe sind ja mehr als nur Steine und Pflanzen. Eigentlich ist ein Besuch auf einem Friedhof immer ein Spaziergang durch die Geschichte. Ich versuche mit den Texten, den Bildern eine inhaltliche Struktur zu geben. Beispielsweise habe ich einen Text den Kindergräbern gewidmet. In einem weiteren Text beschäftige ich mich mit den Inschriften auf den Gräbern von Kriegsteilnehmern, vor allem aus dem Ersten Weltkrieg. Faszinierend fand ich den Einblick in die Berufswelten auf den Dörfern, mit samt diesen, heute eigentümlich klingenden Bezeichnungen. Es gab da einen Wirtschaftsbesitzer, einen Oberbahnrat, einen Fabrikanten oder einen Privatier. Zudem verraten die Grabinschriften eine Menge über die Religion, darüber schreibe ich ebenso wie über die Trauersprüche, die auf den Gräbern stehen. Ich habe zudem etwas geschrieben zum aktuellen Zustand und zu den aktuellen Initiativen zum Erhalt dieser Friedhöfe. Das ist mir eigentlich am wichtigsten. Gemeinden engagieren sich, gewährleisten Pflege, auch Bürgerinitiativen und Vereine arbeiten an der Renovierung. Das ist eine großartige Sache, die unbedingt fortgeführt werden sollte.“
„In der Internet-Datei findet man Fotografien der Grabsteine, einschließlich der Namen und der Daten jener, die darunter liegen.“
Im Buch verweisen Sie auf Daten des Vereins für Computergenealogie. Können Sie dies ein bisschen erklären?
„Der Verein für Computergenealogie betreibt eine frei zugängliche Datenbank im Internet, das sogenannte Grabstein-Projekt. Das war ursprünglich ein deutsches Projekt. Mittlerweile sind aber auch aus anderen Ländern, darunter Tschechien, viele Friedhöfe erfasst. Erfasst bedeutet, man findet Fotografien der Grabsteine, einschließlich der Namen und der Daten jener, die darunter liegen. Ich habe meine Bilder in diese Datei hochgeladen. Man kann auf der Website des Vereins problemlos nach Namen suchen. Das ist vor allem für Familienforscher interessant, die nicht reisen können oder wollen und so eine praktische Hilfestellung haben.“
Diese Fotopublikation ist nicht das erste Buch, in der es um das Städtchen Weseritz geht. Aus diesem Ort stammt nämlich Ihre Mutter, wie sie schon gesagt haben. Sie haben die Familiengeschichte Ihrer böhmischen Vorfahren im Buch „Die Holdschicks aus Weseritz. Vom Zerfall der Donaumonarchie bis zum Verlust der Heimat“ erzählt. Können Sie diese Geschichte zusammenfassen?
„Die Holdschicks, das ist der Name meiner Familie mütterlicherseits, lebten jahrhundertelang in der Gegend von Weseritz.“
„Die Holdschicks, das ist der Name meiner Familie mütterlicherseits, lebten jahrhundertelang in der Gegend. Meine Vorfahren sind im 18. Jahrhundert aus dem Nachbarort nach Weseritz gekommen. Mein Großvater war Kaufmann. Es war lange Zeit üblich, dass Kaufleute aus den deutschsprachigen Gebieten Böhmens ins Landesinnere geschickt wurden, um Tschechisch zu lernen. Mein Großvater hat in Žižkov, das damals noch nicht zu Prag gehörte, eine dreijährige Lehre absolviert. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm er von seinem Vater einen Kolonialwarenladen, außerdem betrieb die Familie eine Landwirtschaft und eine Deckstation für Noriker, also Gebirgskaltblutpferde.“
Ihre Großeltern haben vier Töchter gehabt, darunter Ihre Mutter. Wie ging die Geschichte der Familienmitglieder weiter?
„Nach dem Zerfall der Monarchie erlebten sie die Höhen und Tiefen der Ersten Tschechoslowakischen Republik, die Annexion der Sudetengebiete, den Krieg und schließlich den Mai 1945. Im Februar 1946 wurden sie in das spätere Westdeutschland ausgesiedelt und landeten in Hessen, wo ich auch aufgewachsen bin. Erstaunlich an dieser Geschichte war für mich, dass nach dem Ende des Kriegs, aber noch vor der Vertreibung, viele Monate lang die neuen tschechischen Nationalverwalter zusammen mit den deutschen Eigentümern in ihren Häusern lebten. So war das auch bei meinen Großeltern. Bei der Aussiedlung mussten sie ihren Ur-Großvater dort zurücklassen, weil er alt und krank war und die Strapazen sicher nicht überlebt hätte. Die neuen Besitzer versprachen, sich um ihn zu kümmern. Meine Tante sagte mir, sie hätte es nie überwunden, dass sie ihren Opa bei fremden Menschen zurücklassen musste. Aber es ging nicht anders. Er starb dann, noch während die Familie im Lager auf die Abschiebung wartete. Und um einen Bogen zu den Friedhöfen zu schlagen: Meine Familie vermutet, dass er nie einen Grabstein bekommen hat.“
Was hat Sie bewogen, sich mit Ihrer Familiengeschichte zu befassen? Wann haben Sie damit angefangen? Aus welchen Quellen haben Sie Ihre Informationen geschöpft?
„Mein Interesse begann, als ich etwa 30 Jahre alt war. Jetzt bin ich 52. Wahrscheinlich wollte ich einfach wissen, wo meine Wurzeln liegen. Vielleicht wollte ich auch fragen, warum in unserer Familie nie über die böhmische Vergangenheit gesprochen wurde. Aber herausgefunden habe ich das bis heute nicht. Für die Darstellung habe ich meine Tanten, die inzwischen verstorben sind, Verwandte und auch Nachbarn der Familie interviewt. Ich habe des Weiteren aus Dokumenten aus dem Familienbestand viel erfahren. Hilfreich waren zudem alte Heimatbriefe, eine Publikation der ehemaligen deutschsprachigen Einwohner aus der Region um Weseritz und Plan. In den Archiven ist noch unglaublich viel vorhanden: Beispielsweise befindet sich im Besitz des Staatsgestüts in Písek weiterhin eine vollständige Dokumentation des Schicksals der Pferde, die mein Großvater zurücklassen musste. Die Dokumente enden damit, dass die Pferde in den 1950er Jahren beim Metzger gelandet sind.“
Soweit also Ihre Familiengeschichte in Kürze. Haben Sie noch weitere Pläne in Weseritz und Umgebung?
„Ich habe viele Pläne, aber wenig Zeit. Das ist mein Hauptproblem. Sehr gerne würde ich mich noch mit den Zwangsarbeitern beschäftigen, die in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Weseritz waren. Es gab ja, durch die deutsche Kriegsmaschinerie rekrutiert, viele Menschen zum Beispiel aus Polen, Russland und der Ukraine, die verschleppt und auf den Dörfern in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. So auch bei meinen Großeltern. Als sie nach dem Krieg in die Sowjetunion zurückgingen, hatten sie ein sehr schweres Schicksal. Ich fürchte, dass die Recherche aufwendig wird und dass es nicht mehr viele Dokumente gibt – aber über die Geschichte der Zwangsarbeiter in Weseritz während des Zweiten Weltkriegs würde ich gerne mehr erfahren.“
Sämtliche Fotos der historischen Grabsteine sowie viele weitere Informationen, unter anderem der Link zum Verein für Computergenealogie (https://grabsteine.genealogy.net/cemlist.php?n=CZ&lang=de), sind im Internet zugänglich, und zwar auf der Homepage von Sven Müller unter https://sven-mueller.info/friedhoefe/ beziehungsweise https://sven-mueller.info/publikationen/historische-friedhoefe-in-weseritz-plan-und-umgebung/.